5. Wände

Der Boden unter meinen nackten Füßen war kalt, ich konnte mit den Zehen die Fugen zwischen den einzelnen Fliesen erfühlen. Meine Mutter stand vor mir, etwa einen Meter schätzte ich und sprach leise auf mich ein. Meine Hände krallten sich in die Matratze, auf der ich saß und über meine Arme zog sich Gänsehaut. Es war nun der achte Tag, nachdem ich endgültig aufgewacht war, ich hatte die letzten Stunden viel geschlafen und mein Bett nie verlassen. Jedes Mal, wenn ich aus einem meiner Träume hochgeschreckt war, hatte ich erneut die Augen aufgerissen, ob aus Hoffnung auf ein Wunder oder aus purer Gewohnheit, Aber stets hatte ich nichts gesehen als diese alles durchdringende Dunkelheit. Und nun sollte ich das erste Mal aufstehen, alleine stehen und mich bewegen. Mir wurde gesagt, dass mein Gleichgewichtssinn durch die fehlenden visuellen Eindrücke stark beeinträchtigt sein würde, dass ich neu lernen müsste, sicher zu laufen. Nun saß ich hier, kurz davor, diesen Schritt zu tun und hatte Angst. Ich hörte auf die Stimmen im Raum, versuchte mir im kopf ein Bild zu machen, wer dich wo befand. Meine Mutter stand direkt vor mir, das hatte ich bereits erkannt, also blendete ich ihre Stimme aus. Von der Seite hörte ich zwei weitere Stimmen, die meines Vaters und einer Krankenschwester. Die Stimme der Pflegerin erkannte ich auch, sie war die letzten drei Tage regelmäßig hier gewesen und ich hatte mich an ihren weichen, freundlichen Ton gewöhnt. Meine kleine Schwester kam jeden Nachmittag nach der Schule vorbei, wir redeten dann lange und viel und sie machte stets den Anschein, als ob sie mit meiner neuen Behinderung problemlos klar kommen würde, doch manchmal hörte ich sie leise Schluchzen oder die Stimmen meiner Eltern, die sie auf dem Gang vor meiner Zimmertür tröstend in die Arme nahmen. Die Vormittage verbrachte meine Mutter stets einige Stunden bei mir und mein Vater kam in seiner Mittagspause und nach Feierabend täglich kurz vorbei. Und in den Zeiten dazwischen, wenn die Dunkelheit mich in der Einsamkeit zu verschlingen gedroht hätte, war Tim stets bei mir und sorgte dafür, dass ich nie alleine war. Er kam schon morgens zur ersten Stunde der Besuchszeiten, oft schon vor meiner Mutter und ging erst am späten Abend wieder, wenn die Pfleger ihn zum wiederholten mal baten, die Station außerhalb der Besuchszeiten zu verlassen. Wenn meine Eltern da waren, hielt er sich stets im Hintergrund, saß am Tisch oder stand an der Wand, doch wenn wir alleine waren, legte er sich neben mich ins Bett und wir redeten leise oder lagen einfach nur stundenlang schweigend nebeneinander. Wenn meine Angst und die Ungewissheit wieder zu erdrücken drohten und ich innerlich zusammenbrach, nahm er mich in den Arm und hielt mich fest, gab mir den Halt, den ich so dringend brauchte. Tim war mein Anker geworden und ich wusste, dass ich ohne ihn nie bis heute durchgehalten hätte. Auch meine Familie schien gemerkt zu haben, wie wichtig mein bester Freund für mich geworden war und hatten ihn allem Anschein nach in ihr Herz geschlossen. Oft unterhielt sich mein Vater leise mit Tim, fragte wie es mir ging und bedankte sich immer wieder bei ihm, während meine Mutter neben mir am Bett saß und die Tränen unterdrückte. jeden Tag härte ich, wie meine Mutter leise mit Tim vor meiner Zimmertür sprach, wo sie meinten, ich würde sie nicht hören. Doch mein Gehör hatte sich jeden Tag verbessert, inzwischen hörte ich jedes Geräusch um mich herum und konnte die meisten auch gut zuordnen. Ich hörte meine Mutter vor der Tür schluchzen und hörte Tim, wie er versuchte, sie zu beruhigen. Wenn meine Schwester kam und Tim begrüßte, hörte ich das Rascheln ihrer Kleidung und wusste, dass sie sich umarmten und wenn die beiden dann links und rechts an meinem Bett saßen, hörte ich an der Veränderung des Klangs ihrer Stimme, wenn sie ihn traurig ansah. Tim war nicht mehr wegzudenken und manchmal plagten mich Schuldgefühle, weil er seit nunmehr über zwei Wochen jeden Tag an meinem Bett saß. Wenn ich ihm davon erzählte, winkte er jedoch sofort wieder ab und versicherte mir, dass er es so wolle. Er wusste, wie sehr ich ihn jetzt brauchte und war in der schwersten zeit meines Lebens für mich da. Ich war ihm so unglaublich dankbar und schwor mir, ihm das nie zu vergessen und für den Rest meines Lebens für ihn da zu sein, so wie er es für mich war. Ich stellte in diesen Stunden, in denen wir alleine waren, viele Fragen und Tim erzählte mir aus seinem Leben. Er wohnte hier momentan bei Verwandten von ihm, der Cousine seiner Mutter und ihrer Familie. Zuhause wohnte er in einer Zweizimmerwohnung, die seinen Eltern gehörte, allgemein schien seine Familie nicht gerade wenig Geld zu haben.

Ich selbst erzählte auch von früher, vor dem Brand und Tim hörte stets interessiert zu. Einerseits tat es mir gut, einfach erzählen zu können, andererseits überkam mich dann jedes Mal eine unglaubliche Trauer und das Wissen, dass es nie mehr so sein würde. Dass ich nie mehr würde normal leben können. Doch Tim gab mir jedes Mal neuen Halt und ermutigte mich, nicht aufzugeben, weiter zu kämpfen. Also kämpfte ich weiter, versuchte, stark zu sein. Tim und ich hatten schon früher viel geredet, waren stundenlang und oft bis tief in die Nacht im Teamspeak oder auf Skype gewesen, doch jetzt war es anders. Meinen Freund wahrhaftig neben mir zu wissen gab mir ein komplett neues Gefühl und wir waren uns in dieser Zeit näher denn je.


Auch jetzt wusste ich, dass Tim irgendwo im Raum war, auch wenn er nicht sprach. Die weiche Stimme der Krankenschwester kam näher, sie wollte wissen, ob ich bereit war und obwohl ich mich nicht so fühlte, nickte ich. Ich stemmte mich auf Anweisung der Schwester vom Bett hoch, musste meine Finger zwingen, die schützende Matratze loszulassen um nicht das Bettlaken mitzureißen. Unsicher stand ich vor meinem Bett, orientierungslos und es fühlte sich an, als würde alles um mich herum sich drehen. Sofort war meine Mutter zur Stelle, griff nach meinem Arm und stützte mich unterm Ellenbogen. Wackelig ging ich einen Schritt nach vorne, meine Mutter neben mir her. Noch einen Schritt. Schützend streckte ich meine Arme nach vorne aus, tastete mich vorsichtig voran. Jeder Schritt forderte meine ganze Konzentration, mit der rechten Hand ertastete ich schließlich die Wand, fuhr langsam über den rauen Putz während ich mich daran entlang tastete. Bei jedem weiteren Schritt schob ich meinen Fuß vorsichtig vorwärts, tastete nach möglichen Hindernissen und erfühlte mit meinen nackten Zehen den Boden. Alle Gespräche waren verstummt und auch ohne etwas sehen zu können, wusste ich, dass alle Blicke auf mich gerichtet waren. Die Anspannung im Zimmer war beinahe greifbar und jeder der Anwesenden beobachtete besorgt jede meiner Bewegungen. Ich hob meinen Arm aus dem Griff meiner Mutter, die mich immernoch stützte und lächelte sanft in die Richtung, in der ich sie vermutete. Immer weiter folgte ich der Wand zu meiner Rechten, fand einen schmalen, hohen Schrank und inspizierte ihn. Unter dem Griff war ein Schlüsselloch, der Schlüssel steckte, aber es war nicht abgeschlossen. Ich öffnete die Schranktür und ertastete einige Fächer, auf einem davon lagen Schichten an Stoff. Meine Kleidung. Ich führte meinen Weg fort, schnell kam ich aber an einer Ecke an. Ich nahm meine zweite Hand zum Erfühlen zur Hilfe, fuhr die Wand, die vor mir war mit beiden Händen tastend ab. Sie war zu mir hin gerundet, als wäre ich außerhalb eines Kreises, der vor mir entlang lief. Diese Wand war nicht verputzt sondern mit glatten Fliesen bedeckt, die rechteckig und etwa zehn Zentimeter groß waren. Ich ließ meine Finger über die Fugen fahren, erkannte schließlich, dass jede Reihe um die Länge eines drittel Fliesens nach rechts versetzt war gegenüber der Reihe darunter. Ich tastete mich weiter an dieser Wand entlang, folgte der Krümmung etwa eineinhalb Meter, bis ich einen Türrahmen ertastete. Meine Hände suchten die Klinke, fanden sie auch schnell und tasteten sich darum herum. An der Stelle eines Schlüsselloches fühlte ich bloß eine runde Metallplatte. Daraus schloss ich, dass es die Badtür war und tastete mich weiter, bis zu einer weiteren Ecke. Wie die vorherige verlief sie nicht im rechten Winkel, vielmehr wirkte es, als würde diese halbrunde Wand einfach eine Ecke des Raumes, in dem mich mich befand, abtrennen. Ich tastete mich immer weiter, immer noch vorsichtig, jedoch etwas sicherer als noch bei meinen ersten Schritten. Wieder fand ich eine Tür, widmete ihr kurz meine Aufmerksamkeit und zog dann weiter. Ich hatte sofort gewusst, dass diese Tür auf den Gang hinaus führte, ein leichter Luftzug war darunter an meine Zehen gekrochen und ich konnte Stimmen und Schritte hören, die an meinem Raum vorbeigingen. An der nächsten Wand fand ich Waschbecken und darüber Hängeschränke, dann hörte ich plötzlich die leise Warnung meines Vaters direkt vor mir, der erste, der sprach seit vielen Minuten. Ich ertastete vor mir den Stuhl, auf dem er saß, fand meinen Weg darum herum, fühlte den Tisch und einen weiteren leeren Stuhl, beide aus Holz.

»Schatz, glaubst du nicht, es langt für heute?«, hörte ich meine Mutter besorgt fragen, doch ich schüttelte den Kopf und kämpfte mich weiter. Meine freie Hand streifte ein Stück Stoff und ich spürte jemanden vor mir an der Wand lehnen. »Tim«, flüsterte ich. »Ja, mein Kleiner. Du machst das toll, weißt du das, mein Dino?« Kurz lächelte ich ihm dankbar zu, dann tastete ich mich an ihm vorbei und zu einer weiteren Ecke. Wieder folgte ich der Wand, kam an ein Fenster und fand den Fenstergriff. Ich versuchte, ihn umzulegen und das Fenster zu öffnen und schaffte es schließlich auch. »Stegi« Die Stimme meines Vaters klang leicht besorgt doch ich beachtete sie nicht. Ich streckte mein Gesicht nach oben, konnte die Sonne auf meinen Wangen und meiner Stirn fühlen und genoss die Wärme, die sich ausbreitete und die frische Luft, die von draußen hereinwehte, besiegte »Die Sonne scheint«, flüsterte ich mehr zu mir selbst. Ich blieb einige Minuten einfach nur regungslos stehen, genoss das Gefühl der Sonnenstrahlen auf meiner Haut und hörte den Stimmen zu, die von weit unten zu mir drangen. Ich streckte de Hände aus und fühlte kaltes Metall, ertastete die Gitterstäbe vor mir. Sie hatten Angst, dass man sprang. Sie vergitterten die Fenster, das hieß, ich war hier hoch genug, um mich schwer zu verletzten bei einem Sprung, wahrscheinlich sogar zu sterben. Aber ich wollte nicht springen. Noch nicht. Als ich mich vom Fenster abwandte und meinen Weg fortsetzte, konnte ich meine Mutter erleichtert ausatmen hören. Der Rest der Wand schien nur aus Vorhängen und Putz zu bestehen, an der letzten halben Wand ertastete ich meinen verschiebbaren Nachttisch mit Schublade, Fächern und ausklappbarem Tisch. Darauf stand mein Wasser, in einem Plastikschnabelbecher wie ihn kleine Kinder benutzten. Es fiel mir momentan zu schwer, aus einem normalen Glas zu trinken, ich konnte den Winkel nur schlecht einschätzen und hatte meistens die Hälfte meines Getränkes über mir verteilt oder das Glas umgestoßen, wenn es neben mir stand, also hatte ich die Schnabeltasse bekommen. Es war erbärmlich und demütigend aber Tim hatte so lange auf mich eingeredet, bis ich eingesehen hatte, dass es das beste wäre und zugestimmt hatte. Über dem Nachttisch und Bett an der Wand verliefen Kabel und Gerätschaften, ich konnte sich nicht zuordnen und kannte davon nur die Fernbedienung, die an meinem Bett hing und deren Kabel in diese Wand führte. Die Fernbedienung, mit der ich die Höhe und den Winkel meines Krankenbettes verstellen und die Schwestern rufen konnte. Tatsächlich Ertastete ich mit meinem Schienenbein nun mein Bett und drehte mich vorsichtig um, ließ mich langsam darauf sinken. Ich war erschöpft, war ein mal um mein ganzes Zimmer gelaufen und wollte nun nur noch in mein Kissen sinken. Tief in mir aber war ich ein wenig stolz. Ich hatte es geschafft. Ich orientierte mich, links von mir musste mein Kissen sein, Rechts das Fußende. Ich tastete und fühlte tatsächlich links den Kopfteil, der etwas angehoben war, ließ mich erschöpft und erleichtert in mein Kissen sinken. Meine Familie redete noch eine Weile leise auf mich ein, doch als sie merkten, wie erschöpft ich war, verabschiedeten sie sich in die Cafeteria des Krankenhauses um mir meine Ruhe zu geben. Nur Tim lehnte ab und kam, nachdem alle anderen das Zimmer verlassen hatten, zu mir, setzte sich auf mein Fußende. Fast hätte ich es besser gefunden, wenn er auch gegangen wäre, wollte jetzt einfach nur noch schlafen und kein Wort mehr reden. Doch Tim schien meine Gedanken zu kennen. 

»Schlaf jetzt ein wenig. Ich passe auf dich auf.«, versprach er mir und ich lächelte leicht. Seine Hand streichelte mich ununterbrochen und jetzt war ich doch froh, dass er geblieben war. 

 »Ich bin unglaublich Stolz auf dich, mein Kleiner.«, flüsterte er und ließ mich dann schlafen, Ich war nun beinahe glücklich, trotz der Situation, in der ich mich befand und das hatte ich alles meinem Freund zu verdanken. 

»Danke, Timmi«, flüsterte ich leise, bevor ich ins Reich meiner Träume eintauchte.


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Soooo, Hay zuammen

Hier wie versprochen ein langes Kapitel heute.

Mich würde ein Mal interessieren, welchen ihr denn gerne ein Mal in dieser Geschichte mit drin haben möchtet. Ich bin offen für Vorschläge und Wünsche. :)

Ansonsten hoffe ich, das Kapitel hat euch gefallen.

Liebe Grüße, minnicat3 

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