Prolog
Ein Ereignis folgt immer auf ein Ereignis und löst eine Reaktion aus. Mit manchem wird gerechnet, aber eigentlich ist normalerweise alles anders. Erwarte das Unerwartete, wie es in einem alten Sprichwort so schön heißt. Jedoch kannst du dich nicht einmal daran halten, da alles, was du erwarten kannst, nicht unerwartet ist. Ich stecke in einem Strudel fest, aus Dingen, die sich da abspielen, wo niemand jemanden erwartet, der irgendwie nicht richtig dort ist. Vor meinen Augen.
Es flimmert und flackert, aber ich kann sie doch immer recht scharf sehen. Die Menschen, bunt, grau. Eine Masse, aus der jeder irgendwie hervorstechen kann. Manche durch ihre Kleidung, andere sind rosa angemalt, manche haben einen Regenbogen im Haar. Nicht, dass irgendjemand mich falsch versteht, alles ist verschieden und nichts existiert ein zweites Mal. Ein Junge, dem ich des öfteren begegnete trägt Nieten, Schnallen, bunte Haare und einen blauen Luftballon. Das macht ihn in meinen Augen so eigenartig wundervoll. Nicht etwa sein Stil, sondern das Unschuldige an ihm. Jeder Mensch hat zwei Seiten und oftmals, wenn ich mit meiner Mutter und meiner kleinen Schwester an ihm vorbei lief, wollte ich ihnen diesen Jungen zeigen, aber meine Mutter starrt mich jedes Mal nur komisch an und scheint durch ihn hindurch zu sehen. Dazu sagt sie immer, dort würde niemand stehen und erst recht kein Junge mit bunten Haaren und einem Ballon. Meine Schwester scheint ihn auch nicht zu bemerken, aber sie geht immer darauf ein, wenn ich ihn oder Andere erwähne. Nie fragt sie auch nur nach, ob ich sie mir vielleicht einbilden würde, wie meine Mutter es gerne tut. Ich bekam sogar das Verbot mit irgendwem über die Menschen zu reden, auch wenn sie mir viel realer erscheinen, als die meisten, die jeder sieht. Sie reden mit mir, sie lachen mit mir und auf Familienfeiern muss ich sie als Dank dafür ignorieren und für imaginär erklären. Aber sie scheinen es nicht zu bemerken, da es nicht sonderlich gut klappt. Wenn sie Grimassen schneiden oder mit dem Kuchen von Tante Bärbel jonglieren, entlocken sie mir ein Lachen, das echter ist, als alles, was sonst von sich gegeben wird. Ihre falschen Gespräche nerven mich einfach nur und sorgen dafür, dass die Stimmung am Ende eines jeden Tages echt im Keller ist. Jedem wird aufgezählt wie gut, hübsch, intelligent und dünn der Andere doch wäre und was er kann, was man selber nicht könne. Die Menschen sind nicht alle so. Der Junge hat mir noch nie gezeigt, was er im Gegensatz zu mir kann. Nichts ist für ihn selbstverständlich, weswegen ich nie dumm behandelt werde, weil ich keine Naturwissenschaften verstehe. Und das Mädchen in Rosa, was schon die ganze Welt bereist hat, sagt mir nicht, wie leicht diese und jene Sprache doch wäre und dass ich ein Schwachkopf bin, weil ich sie nicht verstehe. Ich bin froh, dass ich echte Freunde gefunden habe, die mich verstehen und meistens so denken wie ich. Mein Leben lang lebe ich in der Stadt mit dem Turm und erst, als die neue Familie zu uns zog, habe ich in meiner Freizeit einen Fuß hinaus gesetzt. Normalerweise finde ich die dunklen Gestalten zu fürchterlich, aber jetzt fühle ich mich neben dem Jungen oder seiner Schwester sicher, geborgen. Ihre Mutter nimmt mich manchmal auch mit zum Einkaufen in einen kleinen, schnuckeligen Laden, irgendwo in einer Seitenstraße. Dort arbeitet ein Mann mit der Sonne in seinen Augen. Sie sind hell, strahlend, gelb. Seine Laden finde ich nur mit ihrer Hilfe, da die Straße, in der er ist, so verwinkelt ist, dass ich mich jedes Mal frage, wie sie sich dort zurecht findet. Aber ich gebe die alleinige Suche nach dem Sonnenmann nicht auf, denn dort gibt es Leckereien, die ich meinen Lebtag noch nicht gesehen habe. Kunstwerke beinahe. Meine Mutter möchte ich manchmal mitnehmen, sie kennt die Stadt wie ihre Westentasche, aber sie behauptet immer, in dieser Straße wären nur Wohnhäuser, und nicht einmal schöne. Die kleinen Pflanzen, die sich an ihnen hochranken, vergleicht sie mit Graffiti. Die eleganten Schilder mit billiger, neonfarbener Leuchtreklame, wie es in Vierteln üblich ist, in denen nicht alles ganz legal abläuft. Ihre Sicht der Dinge ist mir unverständlich, weil nichts von dem, was sie sagt, der Realität entspricht. Ich habe ihr vor einer langen Zeit sogar mal vorgeschlagen, dass sie doch zu einem Psychiater gehen könne, der helfe ihr bestimmt, damit sie nicht nur das Negative sehe. Damals bedachte sie mich mit einem ganz traurigen Blick und sagte Worte, die ich nie vergessen werde.
Nur weil du es siehst, heißt es nicht, dass es real ist. Alles kann dich trügen, Bea, sogar du selbst. Vor allem du selbst.
Danach war ich still, soweit ich weiß. Und diese Stille hält immernoch an, es ist eine dieser Stillen, in denen man ein Rauschen hört, obwohl keines da ist. Der Boden pulsiert, obgleich sich nichts regt und bewegt. Kurzum, ich höre immer irgendwas, außer ich bin mit der Familie unterwegs, die mich beschützt. Vor den Menschen in Schwarz. Ich muss nicht mehr wegrennen, da sie sich keinen Schritt an mich heran wagen. Ihre Schuhe verklingen, ihr Rauch verschwindet, ihre Dunkelheit wird vom Licht verdrängt. Wenn der Vater meiner Freunde mitkommt, sehe oder höre ich sie nicht. Keine ihrer Bewegungen.
Jedoch wärt nichts ewig- vor allem nicht das Gute.
Die Familie zog weg, in eine weit entfernte Stadt, von der ich noch nie etwas hörte und selbst ihr Name bleibt mir nicht im Gedächtnis, sodass ich im Internet nachsehen könnte. Sie gingen und jemand Neues kam, meine Eltern mochten sie, meine kleine Schwester verstand sich auf Anhieb gut mit dem Jungen, der nun in der Wohnung lebte. Sie wohnen dort immer noch, sind nicht woanders hin gezogen und ich mag sie immer noch nicht. Sie wirken so falsch auf mich, mit ihren Wachsmasken, den Perücken und den Anzügen und Kostümen, die sie jeden Tag tragen. Damals begegnete ich ihnen jeden Tag und konnte genau sagen, was mich an ihnen störte. Jetzt ist es bloß dieses Gefühl. Das, was jeder kennt, und niemand zuordnen kann. Eine dunkle Vorahnung, eine Schreckensgestallt, ein Gedanke, den man nicht denken sollte. Etwas, was ich nicht fassen kann. Vor einem oder zwei Jahren war ich mir sicher, was es war, glaube ich, aber nach einer so langen Zeit, in der alles im Kopf verschwimmt, ist es unmöglich zu sagen, was passierte und was falsch war.
Aber ich sollte die Vergangenheit hinter mir lassen, auch wenn sie schmerzen kann. Jeder sollte das. Irgendwann gelingt einem das Unmögliche, solange es für möglich befunden wird.
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