9. Kapitel


Zwei Monate später.

„Erde an Toni!? Wie lange willst du noch auf den leeren Parkplatz starren?", tippt mir Thea auf die Schulter und sieht mich erwartungsvoll an.

Wie jeden Freitag Nachmittag kann ich meinen Blick mal wieder nicht von seinem Platz lösen. Es ist immer noch unbegreiflich für mich, dass der Parkplatz neben meinem Auto seit zwei Monaten leer steht. Die letzten zwei Monate waren alles andere als einfach für mich. Es sind so viele Tränen geflossen, wie noch nie in meinem Leben. Nicht mal halb so viele Tränen sind für Bruno drauf gegangen. Wenn das mal nicht ein Zeichen ist.

Zwischen meiner Mutter und mir herrscht absolute Eiszeit. So gut es geht, versuche ich ihr aus dem Weg zu gehen und wenn sie mich doch mal erwischt, geht es meist nicht gut für uns beide aus. In der Regel muss mein Vater oder Marlon den Streit schlichten. Und trotz meines bösartigen Verhaltens, ihr gegenüber, versucht sie es immer wieder. Als ob es irgendetwas an unserem Verhältnis ändern würde. Mein Interesse, das wieder alles gut zwischen uns wird, ist sehr gering.

„Er kommt nicht mehr zurück", erinnert mich Thea abermals und holt mich aus meiner Starre zurück ins hier und jetzt.
„Ich weiß", erwidere ich schweren Herzens, nehme einen tiefen Atemzug und schultere meine Tasche, bereit wieder in die Hölle zurückzukehren, die sich mein Zuhause nennt. Wer weiß, was sich meine Mutter heute wieder ausgedacht hat.

„Hast du Lust auf einen Kaffee?", fragt Thea mich unerwartet und hält mich am Arm fest, noch bevor wir die Klasse verlassen. Es ist das erste Mal seit Wochen, dass Thea mich direkt auf ein Treffen anspricht. Zwar wollte ich die Zeit, in der ich so viel in Nick investiert habe, wieder gut machen, doch dazu gekommen bin ich nicht. Neben dem Herzschmerz, den ich mit mir alleine ausgehandelt habe, war ich mit lernen für die Abschlussprüfungen beschäftigt, die in zwei Wochen anstehen. Wie ich ausgerechnet dafür einen freien Kopf hatte, frage ich mich selbst.

„Ich weiß nicht..", stammele ich und überlege mir eine Ausrede. „Ich muss.."
„Du brauchst dir gar nicht erst eine Ausrede ausdenken, du kommst mit, ob du willst oder nicht!", besteht Thea darauf und sieht mich mit einem tadelnden Blick an.
„Aber ich muss lernen", erkläre ich und merke selbst, wie lächerlich meine Ausrede ist.
„Einen Kaffee und du kannst den Rest des Abends lernen, ja?"

In dem kleinen süßen Café angekommen, das Thea und ich vor einiger Zeit entdeckt haben, lassen wir uns nieder und bestellen uns das Übliche. Für Thea einen White Chocolate Mokka mit Sojamilch und für mich eine große Tasse Kaffee, schwarz.

Hier mit Thea zu sitzen und etwas anderes zu Gesicht zu bekommen, als die vier Wände meines Zimmers, tut erstaunlich gut. Nicht, dass ich von meiner Mutter Hausarrest bekommen hätte und nicht das Haus verlassen dürfte. Ich habe mir selbst eine Art Verbot gegeben, das Haus zu verlassen und andere Gefühle wie Trauer und Schmerz zuzulassen. Spaß und Freude, konnte ich nicht zulassen und schon gar nicht das Gefühl von Glück. Es ist, als wäre ich gar nicht dazu in der Lage so zu empfinden. Als hätte mir jemand mit einem stumpfen, verrosteten Taschenmesser die Brust geöffnet, mein Herz herausgerissen und in Tausende kleine Stücke zerrissen. Ja, diese Beschreibung bringt es auf den Punkt.

„Hast du seitdem er gegangen ist nochmal etwas von ihm gehört?", will Thea wissen und legt mir eine Hand auf mein Bein. Unter ihrer Berührung, wie unter ihrer Frage nach ihm, zucke ich zusammen. Es ist das erste Mal, dass mich jemand nach ihm fragt.
„Nein", gestehe ich und nehme einen großen Schluck, um meinem Körper nicht die Kontrolle zu überlassen, jetzt einfach zu weinen anzufangen.

Das letzte Mal, dass ich Nick gesehen habe, war nach unserer letzten gemeinsamen Nacht. Es gab noch ein paar letzte Nachrichten, doch jede Nachricht die empfangen habe, wurde immer schmerzhafter. Nick hatte die Kraft zu sagen, dass wir uns keine Nachrichten mehr schicken sollten, es wäre zu schmerzhaft. Und das war es. Allerdings kann ich nicht behaupten, dass es nicht ohne seine Nachrichten besser wäre.

„Willst du darüber reden?", fragt sie erneut nach, doch diesmal leiser und mit Vorsicht in der Stimme.
„Nein", wiederhole ich meine Antwort von eben und muss den Kloß, der sich in meinem Hals gebildet hat, herunterschlucken. „Können wir bitte das Thema wechseln?"
„Natürlich", stimmt sie mir zu und lächelt mir aufmunternd zu. „Worüber möchtest du sprechen?", bietet sie mir an, das Thema zu entscheiden. Und tatsächlich gibt es ein Thema, das mich brennend interessiert. Melissa.

„Wie geht es Melissa?", frage ich und ein überraschter Ausdruck, macht sich auf Theas Gesicht breit. Sie muss mindestens genauso überrascht sein, über diese Frage, wie ich. Nach unserer Aussprache, haben wir nicht mehr miteinander gesprochen und seit ein einigen Wochen, ist sie nicht mehr in der Schule. Ihr eine Nachricht zu schicken mit „Hey, wie geht's?", wollte ich nicht, es fühlte sich nicht richtig an. Schlimm genug, dass ich solche Gedanken nach einer so langen Freundschaft hege.

„Puuh. Wo soll ich anfangen? Dass sie nicht mehr in der Schule ist, hast du ja sicherlich mitbekommen", beginnt Thea zu erzählen und lehnt sich auf dem Sofa zurück, auf dem wir sitzen und lässt ihren Blick schweifen.

Ich nicke ihr wissend zu.

„Dass sie jetzt schon die Schule verlässt, war nicht ihr Plan. Sie dachte, sie könnte es so lange aushalten, dass sie die Prüfungen schreibt und zumindest ihr Abitur in der Tasche hat. Nicht, dass sie danach wie geplant auf die Uni gehen könnte. Aber sie schafft es weder körperlich noch psychisch weiter die Schule zu besuchen. Ihre Eltern haben das Restaurant nun komplett aufgeben müssen und Melissa hat echt bis zum Schluss in Restaurant mitgeholfen. Aber jetzt hat sie für sich entschieden, dass es an der Zeit ist, einen Schritt langsamer zu machen und auf ihren Körper und das Baby zu achten. Und wenn ich mich richtig erinnere, müsste das Baby auch schon bald kommen, so in sechs Wochen hat sie Termin. Und na ja, was Bruno angeht... Er ist ihr nicht gerade eine große Unterstützung", berichtet mir Thea ohne auch nur einmal Luft zu holen. Es dauert eine Weile, bis ich all die Informationen, die mir Thea auftischt zu verarbeiten. Doch eine Sache bleibt direkt hängen.

„Bruno ist ihr keine große Unterstützung? Wie soll ich das verstehen? Er ist doch ihr Freund und der Vater des Kindes!?", frage ich, während mir die Kinnlade herunterfällt und ich mir schwertue, das glaubhaft zu verkaufen.

„Das zwischen ihnen war nie eine Beziehung. Bruno hängt noch viel zu sehr an dir. Ich glaube nicht einmal, dass er Melissa auch nur ansatzweise so sehr geliebt hat wie dich", offenbart mir Thea und wirft mir einen prüfenden Blick zu, während sie einen Schluck ihres Kaffee-Cocktails zu sich nimmt.

„Tja", setze ich an und lasse die angestaute Luft aus meinen Lungen weichen. „Der Idiot hätte uns allen eine Menge Ärger ersparen können."

Nach einer gefühlten Ewigkeit, einigen Kaffees und Kuchen später, verlassen wir das Café und machen uns auf den Weg zu unseren Autos, die sich auf dem Parkplatz hinter dem Gebäude befindet.

„Wir sollten das öfters machen", sage ich zu Thea und traue meinen Ohren kaum selbst. Dass diese Worte aus meinem Mund stammen, lässt mich innehalten. Heute Morgen wäre das noch absolut undenkbar gewesen, doch der Nachmittag mit Thea tat so gut. Zum ersten Mal habe ich mal nicht an Nick denken müssen und mich über belanglose Sachen unterhalten.

„Sehr gerne", erwidert Thea fröhlich, legt mir einen Arm um die Schulter und drückt mich an sich. „Wie wäre es mit morgen Abend?", grinst sie nun frech und ich ahne böses.

„Was ist denn morgen Abend?", frage ich vorsichtig, obwohl ich mir die Antwort schon zu denken weiß.

„Ach..nur so eine kleine Party."

Warum habe ich nicht einfach die „Ich habe mich gerade von meinem Freund getrennt"-Karte gespielt und dass ich noch Zeit brauche, um die Trennung zu verarbeiten? Dann könnte ich mich jetzt hinter meinen Lernsachen verstecken oder einfach mit meinem Laptop im Bett Netflix schauen und mich meinem Schicksal hingeben. In meinem Kopf herrscht noch immer das vollkommene Chaos, wie ich meine Gedanken, für eine Party freibekommen werde, stellt sich unmöglich für mich vor. Es kommt mir wie ein Verrat an Nick vor. Ich sollte auf keine Party gehen und Spaß haben, während er für mich alle Zelte abreisen musste und in sein altes Leben zurückkehren musste, wovor er geflüchtet ist.

Zwar waren es seine Worte, dass ich mich nicht vergessen soll und ihm nicht hinterher weinen soll, doch wie soll das gehen? Alleine der Gedanke daran versetzt mir ein schlechtes Gewissen. Zumal, ich noch nicht dazu bereit bin, von ihm loszulassen. Ich liebe ihn noch so sehr, wie am ersten Tag.

Doch mit Theas Worten im Ohr, stehe ich, wie schon so lange nicht mehr, in ein Handtuch gewickelt vor meinem Kleiderschrank, weil ich nach einem passenden Outfit für die „Abi-Vofi" suche. Das bei dieser Party nichts „vorfinanziert" wird, da Tina die Party bei sich zu Hause gibt und die Getränke von ihren Eltern spendiert werden, ist diese Betitlung wohl oder übel hinfällig.

Die Lust, auf diese Party zu gehen und Tina den ganzen Abend ertragen zu müssen, ist stark gemindert. Auch wenn ich in der Schule versuche unter dem Radar zu fliegen, bekomme ich die Gerüchte über Tina und Herr Engel sehr wohl mit. Wie sie ihn verabschiedet hat, blieb bis jetzt in aller Munde und die Gerüchteküche brodelt. Dass Tina für dieses Szenario alles ins Rollen gebracht hat, ist ja wohl ganz klar. Aber wen an dieser Schule interessieren schon Fakten? Es ist nur wichtig, dass sie das Gerücht über Herr Engel und Tina so schnell es geht in der ganzen Schule verstreut haben.

Wenn die wüssten.

In einem Outfit, in dem ich mich wohlfühle, das aber mir Ausgeh- tauglich erscheint, laufe ich die Treppe nach unten, um passende Schuhe zu suchen. Da es Anfang Mai ist, sind weiße Chucks kein Problem und mehr als passend für meine Kleiderwahl.

Gerade bin ich in meine Schuhe geschlüpft, klingt es an der Tür. Noch bevor ich die Tür vollständig geöffnet hat, tritt meine Mutter durch die Küche zu mir in den Flur.
„Wo willst du so hin?", misstrauisch scannt sie mein Outfit von oben bis unten und bleibt bei meinem kurzen Rocken hängen. Ich weiß genau, was sie denkt.
„Ich fahre jetzt nach Köln und habe Sex mit meinem ehemaligen Lehrer", antworte ich ihr ein bisschen zu bissig. Jedoch sehe ich mich nicht in der Lage, mich bei ihr zu entschuldigen.
„Antonia", zischt sie meinen Namen und ihre Nasenflügel beginnen heftig zu beben, während sich eine Ader der Wut auf ihrer Stirn bildet. Diese Falte ist in letzter Zeit immer öfters zu sehen.
„Entspann dich", entgegne ich ihr und rolle mit den Augen. „Ich gehe auf eine Party", entschärfe ich die angespannte Stimmung und öffne Thea die Tür. „Siehst du, es ist Thea, die mich abholt."

„Hey", begrüßt mich Thea und zieht mich in eine schnelle Umarmung.
„Hallo Frau Thaler", nickt sie meiner Mutter zu und schluckt ihre Spucke herunter. Selbst Thea, die noch keine zehn Sekunden in diesem Haus ist, spürt diese alles andere als harmonische Atmosphäre.
„Thea, schön dich mal wieder hier zu sehen, ist schon lange her", heißt meine Mutter Thea willkommen und setzt ihre freundlichste Stimme auf, die ich schon lange nicht mehr zu hören bekommen habe. Aber, wenn ich ehrlich bin, ist es mir egal, denn mein Verhalten ihr gegenüber ist ebenfalls nicht sehr vorbildlich.

„Ja, ist schon ein wenig her", erwidert Thea verunsichert und schaut Hilfe suchend in meine Richtung.
„Wir sollten jetzt gehen", komme ich ihr zu Hilfe, schnappe mir meine Tasche und setze zum Gehen an, als aus dem oberen Stockwerk die Stimme meines Bruders lautstark ertönt.
„STOP! Ich bin schon fertig!"

„Warum hast du nicht gesagt, dass du auch auf diese Party gehst?", will ich von Marlon wissen und drehe mich auf dem Beifahrersitz zu ihm nach hinten um. Thea war so großzügig uns abzuholen, die Frage ist bloß, wie wir nach Hause kommen. In kürzester Zeit wird nämlich keiner von uns mehr in der Lage sein, ein Auto zu fahren.
„Ich wusste ja nicht einmal, dass du dort hingehst", kontert Marlon und zuckt vertieft in sein Handy mit den Schultern. Da muss ich ihm recht geben, ich habe es mit keinem Wort erwähnt, da ich bis zur letzten Minute nach einer passenden Ausrede gesucht habe, um eben nicht auf diese Party zu gehen.

In der Schule schaffe ich es, Tina aus dem Weg zu gehen, nicht, dass sie meine Anwesenheit suchen würde. Aber auf einer Party, in dem Haus ihrer Eltern wird es beinah unmöglich, dass unsere Wege sich nicht kreuzen. Zumal ich inständig hoffe, dass niemand ein großes Ding daraus macht, dass ich seit ewiger Zeit, an Aktivitäten teilnehme, die meinen Jahrgang betrifft.

In der Straße von Tinas Haus, parkt Thea ihr Auto und bereits beim Öffnen der Tür strömt die exorbitant laute Musik zu uns und eine leise Stimme in meinem Kopf flüstert mir leise zu, dass ich schnellstmöglich die Flucht ergreifen soll.
„Keine Chance, Toni. Du kommst schön mit uns", hackt sich Thea bei mir unter und zieht mich in Richtung der Party, aus der die Musik kommt, doch ich bremse ab und bleibe wie angewurzelt an Ort und Stelle stehen.
„Du musst mal wieder unter Menschen", mischt sich Marlon von der anderen Seite aus ein und legt mir beschützend einen Arm um die Schulter. Immer mehr beschleicht mich das Gefühl, dass diese Aktion von den beiden geplant war.
„Ihr zwei steckt doch unter einer Decke", zeige ich zwischen hin und her und bekomme meine Aussage lediglich mit einem Grinsen quittiert.
„Leute, ich weiß nicht, ob ich schon bereit dazu bin, um.."
„Um was? Spaß zu haben?", fällt mir Thea ins Wort und verschränkt meine Hand mit ihrer, drückt sie sanft und zeigt mir so, dass sie für mich da ist.
„Das meinte ich nicht, ich kann ihn noch nicht loslassen", erkläre ich nachdenklich und spüre immer deutlicher, wie ich unruhiger werde.
„Niemand hat gesagt, dass du ihn loslassen oder vergessen sollst, aber du kannst dich doch in deinem Abschlussjahr nicht in deinem Zimmer verkriechen und niemanden an dich ran lassen. Wir sind hier um ein bisschen Spaß zu haben, mehr nicht und wenn du keine Lust mehr hast, dann gehen wir wieder heim", klärt mich Thea auf und lächelt mir motivierend zu, sodass ich gar nicht widersprechen kann.
„Du schaffst das schon", bestärkt mich Marlon und drückt mich noch fester an sich. „Ja, die Zeit heilt alle Wunden, aber es reicht nicht nur dazu sitzen und abzuwarten, bis es besser wird. Damit deine Wunden heilen, musst du etwas dagegen tun."

Erstaunt sehe ich in Marlons blaue Augen, die mich bestärkend anblicken. Kamen diese tief ergreifenden Worte, gerade wirklich von meinem kleinen Bruder? Ich bin fassungslos.
„Na schön", gebe ich mich geschlagen und atme erleichternd aus. Sie haben recht, ein wenig Spaß kann wirklich nicht schaden.

„Das war leichter als gedacht", lacht Thea und begibt sich mit uns im Schlepptau, erneut in die Richtung der Party zu begeben. Diesmal tun es meine Beine ihr gleich und widersetzen sich nicht.

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Hallo Leute :)

Ein letztes Kapitel vor Weihnachten! Und diesmal ohne weinen von Toni. Was meint ihr? Ist es gut, wenn Toni auf diese Party geht oder ist Thea zu überfordernd?

Und was wird auf der Party passieren? Irgendwelche besonderen Gäste?? ;P

Nächste Woche lösen wir das Rätsel ^^

Ich wünsche euch allen eine frohes Weihnachtsfest ♡

Eure Liarie ♡

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