2.7. Kinners

Sicherheitshalber warf der Notarzt einen Blick hinter sich, aber die Werte auf dem Monitor hatten sich nicht weiter verändert, sofern er sie einsehen konnte. "Yannik? Druck?", fragte er mit gesenkter Stimme seinen Assistenten, der einen besseren Blickwinkel hatte.

Mit einer Handgeste bedeutete der ihm, dass es keine Veränderungen gab.

Draußen zierte sich die Dame nun doch. "Na ja", druckste sie herum, ehe sie zum Punkt kam, "Sev hat Jakob Shots in seine Getränke gekippt, wenn er nicht hingesehen hat." Wohl fühlte sie sich bei dieser Aussage ganz offensichtlich nicht, was selbst der Notarzt aus der Entfernung erkannte, aber absolut kein Mitleid für sie empfand.

"Du hast was?", fragte der Barkeeper ungläubig und mit einem ähnlichen Grad an Abneigung, den auch Dreier einigen anwesenden Personen gegenüber empfand. "Sag mal, du ..."

"Stopp!", bremste der Notarzt den Barkeeper aus, der überrascht verstummte. "Das ist mein Text", brummte er und schaute zu den anderen beiden rüber. Als er fortfuhr, stand er in Sachen Lautstärke und Schärfe der Stimme seinem Fahrer in nichts nach. "Sagt mal, Kinners, habt ihr noch alle Nadeln an der Tanne? Das könnt ihr doch nicht bringen, wenn ihr den Jungen nicht kennt! Mieser Stil ist das so oder so, aber so ist das echt saugefährlich und lange kein Spaß mehr." Er glaubte wirklich, in einem schlechten Film zu sein, auch, wenn ihm das nicht zum ersten Mal unterkam.

"Eh, ich kann doch nicht wissen, dass der irgendwelche Herzprobleme hat!", rechtfertigte sich Sev, dem das Wort Einsicht offensichtlich fremd war. Unter dem wütenden Blick des Mediziners verstummte er jedoch schnell.

"Meister, hast du mir nicht zugehört? Deshalb macht man solche Scheiße ja auch nicht!", schoss Dreier noch einmal nach. "So und jetzt mal Tacheles: von wieviel reden wir hier mengenmäßig?"

Bockig zuckte der alkoholisierte Spätpubertierende die Schultern. "Keine Ahnung. Nicht viel", motzte er, was die ohnehin kaum mehr vorhandene Geduld des Notarztes nur noch mehr schmälerte.

Wütend schlug er in die Hände. "Nich so schwammig, in Zahlen bitte", forderte er unnachgibig. "Vier Pinnchen? Sechs? Zehn?"

"Fünf bestimmt", rang sich seine Begleitung zu einer selbstbewussten Schätzung durch.

Vage zuckte Sev erneut mit den Schultern. "Ja, kann schon sein", gab er weiterhin uneinsichtig, mit Anflügen eines amüsierten Grinsens, das Olivers Abneigung mehr und mehr manifestierte, zu.

"Sauber!", meldete sich ein bis Dato unbeiligter ernsthaft anerkennend zu Wort. Stolz reckte er den linken Arm mit dem Viktory-Zeichen in die Höhe. "Ich hab nur drei geschafft, beim Vierten hät' er mich fast erwischt."

"Na bravo", knurrte der Notarzt lautlos und schüttelte den Kopf, ohne den nun unverhohlen abwertenden Blick von den beiden Jungen zu geben, die sich einen High-Five gaben. Der nüchterne Teil von Oliver Dreier wusste, dass es keinen Zweck hatte, dagegen anzureden oder seine Erfolgschancen, Empathie in den jungen Männern zu wecken, zum derzeitigen Zeitpunkt gleich Null waren. Der andere Teil von ihm jedoch bedauerte sehr, dass er keine Zeit hatte, den Knaben die Leviten zu lesen, bis ihnen das Grinsen verging oder sie im Eilverfahren zu einer Woche Sozialstunden in der Zentralambulanz zu verdonnern.

"POL ist verständigt", informierte ihn Nick.

Das wäre nun auch sein Vorgehen gewesen. Fassungslos besah er sich noch einmal die Szenerie, ehe er sich abwandte und zurück zum RTW ging. Das brauchte er sich nicht noch länger als nötig zu geben.

Hinter sich erhob sich jedoch erneut eine Stimme, die ihn kurz innehalten ließ. Der Barkeeper durchschnitt das Gekicher der beiden Helden des Abends. "Wie kann man nur auf so eine bescheuerte Idee kommen? Und dann auch noch direkt vor meiner Nase!", stellte er den Verursacher des Chaos zur Rede, während der Notarzt, in der Hoffnung, sie beließen es bei Worten, mit seinem Assistenten wieder den RTW bestieg.

Als der junge Abiturient auflachte, richtete er sich gedanklich bereits auf eine Auseinandersetzung ein. Gerade die Aussicht auf Versorgung des gloreichen Denksportlers behagte ihm keinesfalls. Seine Leute in die Meute zurückzuschicken, kam für ihn aber auch nicht in Frage.

"Mann, das war total einfach", gestand der junge Mann, ohne mit seinem Stolz über die Aktion hinterm Berg zu halten. "Wenn du gerade andere bedient hast, hat der dich immer angestarrt. Wie ein verliebter Teenie, ich schwör's. Und dann hab ich das so gemacht, wie du immer erzählst, wie das die Typen in den Clubs machen. Dreist gewinnt, sag ich nur", prahlte er mit seinem zweifelhaften Erfolg.

Drinnen übergab sich ihr Patient leidend. Er lag noch immer auf der Seite und als Karin ihn noch etwas näher zur Kante schob, suppte die vorwiegend flüssige Ex-Nahrung über den Rand der Trage hinweg in den Spuckbeutel, den sie mit der einen Hand festhielt und mit der anderen sicherstellte, dass er nicht herunterfiel.

"Wenn ich das so höre, könnt ich auch kotzen", kommentierte Dreier murrend, was auf einsilbigen Zuspruch unter ihnen stieß. "Was hat die Zentrale gesagt, wann die POL ankommt?"

"Sind in der Nähe, sollte keine zwei Minuten dauern", antwortete Nick. "Wenn ihr wollt, könnt ihr aber auch schon los. Ich komm nach."

Dass die Möglichkeit bestand, wusste Oliver Dreier selbst, aber es hatte seine Gründe, warum er das nicht bereits vorgeschlagen oder veranlasst hatte. "Ehrlich gesagt, lass ich dich mit der Bagage hier ungern allein."

Draußen wurde es wieder lauter, nachdem kurzzeitig außer leisem Gekicher und Gelächter wenig zu hören gewesen war. "Na großartig", fluchte der Barkepper. "Ich hab dir das erzählt, damit dir der Scheiß nicht passiert! Oder für den unwahrscheinlichen Fall, dass du mal mit einer Freundin ausgehst, und auf sie aufpasst. Ich glaub, es hackt! da wird mein eigener Bruder zu so einem Arschloch!"

So viel zu der These der Vertrautheit der beiden jungen Männer, dachte Dreier.

Toni allerindings war noch nicht fertig. "Hast du eine Ahnung, was das Jakob für eine Überwindung gekostet hat, zu bleiben? Weil er absolut keine Kontakte im Jahrgang hat und immer blöde Sprüche kassiert hat? Ich wusste ja, dass du ihn nicht leiden kannst, aber dass du so eine Scheiße abziehst, das hätte ich dir im Leben nicht zugetraut! Und dann nicht mal die Eier zu haben, zu dem Mist zu stehen."

"Der Penner geht uns seit acht Jahren auf den Sack! Was nimmst du den jetzt in Schutz? Du hast den gerade mal einen Abend erlebt. Als Sozialprojekt vielleicht ganz niedlich, aber sonst ist das Anhängsel 'ne ziemliche Nervensäge", hielt Sev ungeniert dagegen.

"Meine Fresse, der Typ ist aber auch ein Charmebolzen", entfuhr es Dreier gereizt.

Vor allem Karin war voll seiner Meinung. "Wenn das mein Sohn wär, würd der aber was von mir zu hören kriegen", pflichtete sie dem Einsatzleiter bei.

Zu hören bekam das Früchtchen dagegen was von seinem Bruder. "Was heißt hier in Schutz nehmen? Ich sag nur wie es ist. Jakob hat wenigstens Anstand. Abgesehen davon hab ich mich über den Abend mit ihm unterhalten und weshalb du ihn hier als Freak hinstellst, weiß ich nicht. Das ist ein ganz normaler Kerl, mit einem guten Humor noch dazu. Kein mentales Riesenbaby wie du oder deine halbstarken Kumpels, die nach dem Abschluss vermutlich erstmal so richtig im Leben auf die Fresse fliegen, um zu begreifen, dass das kein Ponyhof ist."

Der saß, denn vorerst war Ruhe im Karton. Hielt allerdings nicht sehr lange. Als es wieder losging, war die Lautstärke aber erstaunlich verträglich. Beinahe gingen Sevs Worte in den Akorden von Blümchen unter. "Alter, Toni, sag mir bitte nicht, dass du dich in Jacky-Nerd verguckt hast."

"Das geht dich einen Scheiß an", blaffte der Barkeeper seinen Bruder an. "Aber im Gegensatz zu dir, ist in meinem Hirn noch Luft für mehr als den nächsten Fick, keine Sorge."

"Das ist schon eklig genug, sag sowas nicht auch noch", jaulte Sev getroffen auf. "Schlimm genug, dass ..."

"... dein Bruder schwul ist?", hakte Toni unbarmherzig ein. "Komm damit klar. Ich fall auch nicht tot um, weil du ein egoistischer, tyrannischer Bastard geworden bist. Deal?" Die zunehmende Kälte in seinen Äußerungen kam immer mehr zum Tragen.

"Guten Abend", setzte jemand der illustren Diskussionsrunde endlich ein Ende. "Polizei Köln. Irgendwelche Probleme?", fragte der Herr weiter, während jemand gegen die offene Seitentür klopfte, um auf sich aufmerksam zu machen.

Neben Oliver Dreier, nur eine Etage tiefer draußen vor der Seitentür, stand Jule Polanski. "Moin", grüßte sie in die Runde. "Ihr hattet uns gerufen?"

"So sieht's aus", bestätigte der Notarzt ihr erleichtert, aber auch genervt, wofür die Polizistin allerdings nichts konnte. "Wir haben hier einen Mischintox, aber die Spezis dort drüben, der junge Blonde, der da so rumkrakelt, hat unserem Kandidaten wohl den Alkohol untergejubelt. Der wusste nix von seinem Glück. Der Barkeeper hat auch nichts mitbekommen."

"Und die junge Dame daneben hat zwar alles mitbekommen und ihn auch verpfiffen, aber soweit ich das verstanden habe, auch sonst nichts unternommen", steuerte der Notfallsanitäter zu den Aussagen des Notarztes bei.

Jule seufzte und nickte. "Das wär dann einmal unterlassene Hilfeleistung und gefährliche Körperverletzung. Wir schauen mal. Wie geht's ihm denn?", erkundigte sie sich nach dem Zustand des Patienten.

"Ich bin froh, wenn wir hier endlich loskönnen", murrte Dreier, der abermals den Blick über die Monitore schweifen ließ. "Wir haben Medikamente bei ihm gefunden, haben aber keine Anhaltspunkte, wegen welcher Beschwerden genau er die einnimmt. Ist in der Kombination ziemlich scheiße, aber gerade ist er soweit stabil. Wird 'ne spannende Rückfahrt."

Jule Polanskis bemühtes Lächeln zeigte sehr schön, dass sie mit den Rettungsdienstlern nicht tauschen wollte. "Na, dann euch mal viel Erfolg", wünschte sie, bemüht um eine Spur Zuversicht.

Hinter ihr tauchte jedoch ein weiteres Gesicht auf. "Ich ...", setzte der Barkeeper zögerlich an. Im zweiten Anlauf rang er sich die Frage dann am Stück ab. "Kann ich mitfahren?"

Darauf hatte der Notarzt eine klare Antwort. Er schüttelte den Kopf. "Tut mir leid, Sie sind kein Angehöriger und es würd auch nix bringen. Vor morgen wird mit dem eh nix anzufangen sein", klärte er den Helfer auf, der niedergeschlagen nickte. Statt ihn weiter zu beachten, schaute er zu seinem NEF-Fahrer. "Angemeldet sind wir am Südring?", fragte er sicherheitshalber nach. Nicht, dass er da falsche Informationen hatte.

"Klinik am Südring, internistisch mit Schockraum", antwortete der Notfallsanitäter.

Erst dann wandte Dreier sich noch einmal zu ihrem Zaungast. "Wo wir hinfahren, darf ich leider auch nicht sagen. Aber Sie können ihn bestimmt kontaktieren, wenn er wieder bei Bewusstsein ist", erklärte er zuversichtlich, ohne die Miene zu verziehen.

Der Bartender hatte Mühe, sein Lächeln zu verbergen, bedankte sich und ging seiner Wege.

"So, und ich will jetzt, dass wir hier endlich vom Hof kommen", beschloss der Notarzt ihr Weiterfahrt, gegen die sich auch niemand der Anwesenden wehrte. Ihr Patient als allerletzter.

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