Kapitel 4: Am Mittag
Bild: Generiert durch KI.
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Irgendwann kroch ihr die Kälte so tief in die Glieder, dass sie beschloss, nicht länger auf die Untätigkeit der Dienerschaft zu warten. Mit einem leisen Seufzen erhob sie sich, öffnete den Schrank und zog ihre warmen, gefütterten Stiefel hervor. Dann schlang sie sich einen dicken Fellmantel um, dessen Kragen aus weichem Lammfell ihr Gesicht vor der beißenden Winterluft schützen sollte. Eine Weile hielt sie inne und zögerte, doch schließlich öffnete sie entschlossen die Tür und trat hinaus in den Burghof.
Die Kälte war beißend und umklammerte sie sofort wie ein eisiger Mantel, doch auf seltsame Weise empfand Aurelia sie fast als erfrischend. Sie hob den Kopf und ihre Wangen prickelten unter dem kalten Wind. Der Atem formte kleine weiße Wölkchen vor ihrem Gesicht, die im Nichts verschwanden, während sie die ersten Schritte durch den knirschenden Schnee machte.
Der Burghof lag still da, beinahe magisch in der frühen Morgendämmerung. Eine dünne Schicht frischen Schnees bedeckte den Boden wie ein leuchtendes Tuch, das noch unberührt und makellos wirkte. Bei jedem Schritt spürte sie, wie der Schnee unter ihren Füßen nachgab und dieses vertraute, knarzende Geräusch von sich gab.
Schon als kleines Mädchen hatte sie es fasziniert, wie der Schnee unter ihren Stiefeln nachgab, wie zerbrechlich er schien und doch so beständig war. Damals war sie oft mit leuchtenden Augen durch den ersten Schnee des Winters gestapft, als gäbe es nichts Schöneres auf der Welt. Heute war es anders. Das Knarzen des Schnees war immer noch dasselbe, doch es fühlte sich weniger wie ein kindliches Vergnügen an und mehr wie ein flüchtiger Trost.
Aurelia zog den Mantel fester um sich, als der eisige Wind durch den Burghof zog und die weißen Flocken von den Zinnen fegte. Es war schön durch den Schnee zu laufen, selbst wenn die Kälte sie erbarmungslos durchdrang.
Für einen Moment blieb sie stehen und hob den Blick gen Himmel, wo das blasse Licht der Wintersonne mühsam versuchte, die graue Wolkendecke zu durchdringen. Dann atmete sie tief ein, die kalte Luft scharf in ihren Lungen, und ging weiter in Richtung des Holzlagers.
Am Holzlager angekommen, verfluchte Aurelia sich selbst dafür, keine Fäustlinge mitgenommen zu haben. Das Holz lag ordentlich gestapelt unter einem schützenden Dach, doch die Kälte hatte es trotzdem durchdrungen. Ihre Finger, die ohnehin schon steif vor Kälte waren, fühlten sich beim Berühren des rauen Holzes wie erstarrt an. Kaum griff sie nach den ersten Scheiten, spürte sie, wie die Kälte in ihre Haut biss und ein unangenehmes Brennen hinterließ. Sie zögerte, ballte dann aber die Zähne zusammen und zog mit hastigen Bewegungen ein paar Holzscheite aus dem Stapel.
Mit zittrigen Fingern und leicht verkrampfter Haltung versuchte sie, die Scheite auf ihren Armen zu stapeln. Sie waren sperrig und schienen bei jedem ihrer Schritte zu verrutschen. Und ihre Sicht war durch den aufgestapelten Holzstoß eingeschränkt, während der gefrorene Boden unter der glitzernden Schneedecke sich als tückisch erwies.
„Oh, verdammt, nein!", entfuhr es ihr, als sie über einen kaum sichtbaren, leicht hervorstehenden Stein stolperte. Sie ruderte mit den Armen, um das Gleichgewicht zu halten, doch es war zwecklos. Die Scheite rutschten von ihrem Stapel, und sie landete mit einem dumpfen Plumps rücklings im Schnee. Die eiskalte Feuchtigkeit kroch sofort durch ihren Mantel, und der weiße Puder rieselte auf sie herab, als hätte der Winter selbst sich über sie lustig gemacht.
„Hallo? Ist da jemand?", drang plötzlich eine jugendliche Stimme an ihr Ohr. Aurelia richtete sich mühsam auf und blinzelte in Richtung des Pferdestalls, wo ein Junge mit einem Heubündel über der Schulter stehen geblieben war. Seine Wangen waren gerötet von der Kälte, und sein strubbeliges Haar lugte unter einer abgetragenen Mütze hervor.
„Wartet, ich helfe Euch!", rief er, ließ das Heu fallen und lief hastig auf sie zu. Ohne zu zögern, streckte er ihr die Hand hin. Aurelia zögerte einen Moment, bevor sie seine Hand ergriff. „Danke sehr!", murmelte sie, während er sie mühelos auf die Beine zog. Sie klopfte sich den Schnee von ihrem Mantel und fühlte, wie das Blut in ihre kalten Finger zurückkehrte.
Als der Junge ihr ins Gesicht blickte, hielt er plötzlich inne. Seine Hand erstarrte und sein Mund stand leicht offen. Seine Augen huschten über ihr Gesicht, und Aurelia wusste genau, wo sie hängenblieben: an ihren Augen. Sie konnte die Mischung aus Faszination und Furcht in seinem Blick förmlich spüren – sie war daran gewöhnt, doch es machte es nicht leichter zu ertragen.
„Ihr seid... die Tochter des Lords!", stammelte er schließlich, seine Stimme gepresst, fast ehrfürchtig.
Aurelia zog die Augenbrauen hoch und nickte knapp. „Ja, das bin ich." Sie klopfte sich ein letztes Mal den Schnee von den Ärmeln und beobachtete, wie der Junge sie weiterhin wie gebannt anstarrte. Sein Blick war schwer zu deuten – eine seltsame Mischung aus Ehrfurcht und Nervosität, vielleicht sogar ein Hauch von Aberglaube.
„Warum starrt Ihr mich so an?", fragte sie schließlich, und in ihrer Stimme leichte, gereizte Ungeduld. Sie war dieses Verhalten gewohnt, doch das machte es nicht weniger unangenehm.
„Ich..." Der Junge schien nach den richtigen Worten zu suchen, aber seine Stimme versagte. Schließlich riss er sich zusammen und sprach mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Unsicherheit: „Bitte vergebt mir, my Lady! Ich wollte Euch nicht beleidigen! Es ist nur so, dass... naja ich habe mir Euch immer etwas anders vorgestellt!", gab er zu.
Aurelia hielt inne. Sie hatte das Kommentar erwartet, dennoch bohrten sich die Worte tief in ihr Herz. Ihre Augen waren schon immer ein Quell von Faszination und Argwohn gewesen, ein Merkmal, das sie auszeichnete.
„Wie habt Ihr mich denn vorgestellt?", hakte sie nach.
„Ich will Euch nicht erzürnen, my Lady!" Sein Blick sank zu Boden, während er nervös zu schlucken begann.
„Eure ausbleibende Antwort erzürnt mich umso mehr! Also sagt schon! Was wird über mich erzählt?".
„Naja!", begann er zögerlich. „Man sagt Ihr wärt hässlich! Schief geraten, mit einem schiefen Kiefer und schwarzen Zähnen. Und ihr hättet etwas teuflisches an Euch! Das sagt man im Dorf über Euch!".
Aurelia wusste um ihren Ruf, aber es einmal aus fremdem Mund zu hören, machte sie traurig. Eigentlich war sie sogar sehr wütend darüber. Keiner der Dorfbewohner war ihr je begegnet und dennoch glaubten sie alles über sie zu wissen.
„Aber...", setzte der Stallbursche seine Aussage fort. „Jetzt wo ich Euch begegnet bin, muss ich zugeben, dass sie sich irren!", meinte er und versuchte seinen Ruf zu retten. „Ich finde nicht, dass Ihr hässlich seid, ganz im Gegenteil! Ihr habt ein sehr hübsches Gesicht und Eure Augen sind eher faszinierend als beängstigend... und außergewöhnlich!".
Trotz der Kälte fühlte Aurelia eine seltsame Wärme in ihrem Gesicht aufsteigen. Ihre Wangen nahmen eine leicht rötliche Farbe an, aber sie wollte jetzt nicht verlegen nach unten blicken, auch wenn sie dies gerne täte.
„Nun, außergewöhnlich oder nicht! Sie ändern nichts daran, dass ich gerade im Schnee gelandet bin, während Ihr zugesehen habt." Sie bemühte sich um einen halbherzigen, leicht spöttischen Ton, um die unangenehme Situation zu überspielen. „Vielleicht könntet Ihr mir helfen, das Holz aufzusammeln, statt weiter zu starren?"
Der Junge errötete und nickte hastig. „Natürlich, my Lady! Verzeiht!", stotterte er und bückte sich eilig, um die verstreuten Holzscheite aufzusammeln.
„Lasst mich Euch das Holz tragen, my Lady!", sagte der Junge hastig, während er die letzten Scheite auf seinen Armen stapelte. Seine Stimme klang eifrig, fast schon panisch, als wolle er einen schlechten Eindruck ausbügeln.
Aurelia zögerte. Einerseits wollte sie die Aufgabe allein bewältigen, um nicht noch einmal auf die Dienerschaft angewiesen zu sein – schließlich waren sie oft zu träge, wenn es um ihre Belange ging. Andererseits pochte die Kälte bereits unangenehm in ihren Fingern, und das Gewicht der Holzscheite war selbst für sie eine Herausforderung. Schließlich nickte sie.
„Das wäre sehr freundlich von Euch", sagte sie und bemühte sich, ihren Ton höflich zu halten. „Aber ich kann es auch allein schaffen, wenn es Euch zu viel ist."
„Oh nein, my Lady! Es wäre mir eine Ehre!" Der Junge richtete sich mit dem Holzstapel auf und lächelte unsicher, fast schon stolz.
„Gut.", erwiderte Aurelia knapp. „Dann folgt mir bitte. Mein Gemach liegt oben an der Südseite."
Der Stallbursche nickte eifrig und ging hinter ihr her, während sie durch den Burghof und zurück ins Innere der Burg schritten. Die eisige Luft wich allmählich der klammen Kälte der steinernen Gänge. Während sie die Wendeltreppe hinaufstiegen, war das leise Ächzen des Jungen nicht zu überhören. Das Holz schien schwerer zu sein, als er erwartet hatte, doch er sagte nichts und biss die Zähne zusammen.
Oben angekommen, blieb Aurelia vor der knarrenden Tür ihres Gemachs stehen und zog sie mit einem kräftigen Ruck auf. „Hier hinein", wies sie ihn an und trat zur Seite, damit er das Holz hineinbringen konnte.
Der Junge ging vorsichtig hinein, den Blick gesenkt, und stapelte die Scheite ordentlich neben dem Kamin. Als er fertig war, klopfte er sich den Staub von den Händen und richtete sich auf. „Das sollte reichen, my Lady", sagte er und lächelte schüchtern.
„Vielen Dank." Aurelias Ton war aufrichtig, doch ein wenig zurückhaltend – sie war es nicht gewohnt, anderen ihren Dank auszusprechen, vor allem nicht, wenn es um Hilfe ging, die sie sich eigentlich selbst leisten wollte.
Der Junge wollte sich gerade zur Tür umdrehen, als er noch einmal innehielt. „Verzeiht, my Lady, wenn ich Euch etwas Persönliches frage..." Seine Stimme war unsicher, als würde er sich selbst fragen, ob er den Mut aufbringen sollte, den Satz zu beenden.
Aurelia verschränkte die Arme vor der Brust und neigte leicht den Kopf. „Was ist es?"
„Ich... ich habe gehört, dass Ihr... also... dass Eure Augen..." Er verstummte, als hätte er Angst, etwas Falsches zu sagen.
Aurelia seufzte. Natürlich. Es ging wieder um ihre Augen. Es ging immer um ihre Augen. „Was habt Ihr gehört?" Ihre Stimme klang ruhig, fast resigniert, aber es lag eine Schärfe darin, die ihn dazu brachte, unruhig von einem Fuß auf den anderen zu treten.
„Nur... dass sie verflucht sein sollen", murmelte er, und seine Wangen wurden rot. „Aber das glaube ich nicht, my Lady! Ihr seid... äh... Ihr scheint sehr nett zu sein."
Aurelia sah ihn an, und für einen Moment wusste sie nicht, ob sie lachen oder ihn zurechtweisen sollte. Schließlich entschied sie sich für ein dünnes, beinahe trauriges Lächeln. „Nun, das liegt ganz im Auge des Betrachters, nicht wahr?"
Der Junge sah beschämt zu Boden und schien nicht zu wissen, was er darauf antworten sollte. „Verzeiht, ich wollte Euch nicht beleidigen, my Lady", stammelte er schließlich.
„Schon gut", sagte Aurelia und machte eine abwinkende Geste. „Ihr habt mir geholfen, das zählt. Jetzt solltet Ihr zurück in den Stall gehen, bevor Euch jemand beim Trödeln erwischt."
Der Junge nickte eifrig, murmelte eine Verabschiedung und verließ das Gemach mit schnellen Schritten. Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, ließ Aurelia sich auf den alten Holzstuhl vor ihrem Kamin sinken und blickte in die flackernde Glut. Sie zog die Knie an die Brust und verschränkte die Arme darum, während sie in Gedanken versank.
„Verflucht", murmelte sie leise vor sich hin, während das Holz im Kamin langsam Feuer fing und Wärme in den kalten Raum brachte. „Vielleicht bin ich das wirklich.".
Um die Zeit bis zum Mittag totzuschlagen, zog Aurelia ein Abenteuerbuch aus ihrem Regal. Es handelte von Sigfried, dem legendären Drachentöter – einer Geschichte, die sie schon unzählige Male gelesen hatte, aber jedes Mal aufs Neue in ihren Bann zog. Eingehüllt in ihre dicke Wolldecke und halb gegen ein Kissen gelehnt, ließ sie sich auf ihrem Bett nieder. Die Knie leicht angezogen, das Buch fest in den Händen, vertiefte sie sich in die vertrauten Seiten. Das Kaminfeuer warf flackernde Schatten an die Wände und spendete eine wohltuende Wärme, während das leise Knistern des Holzes die winterliche Stille durchbrach.
Gerade als es etwas spannend wurde, störte sie ein unbehagliches Gefühl in der Bauchgegend. Ihr Magen machte Lärm und wollte gefüttert werden. Das Kaminfeuer war schon zur Hälfte runtergebrannt, als sie sich dazu entschied eine Pause einzulegen. Der Kampf gegen den furchterregenden Drachen „Fafnair" würde also bis nach dem Essen warten müssen.
Eine Falkenfeder diente ihr als Lesehilfe, um die spannende Stelle wieder zu finden. Dann legte sie das Buch weg, schlüpfte aus ihrem Bett und ging in den Korridor. Selbst bis zum dritten Stockwerk war der zauberhafte Geruch guten Essens hochgestiegen. Aurelia nahm genussvoll seufzend einen tiefen Atemzug und versuchte vorauszuahnen, was da gerade auf dem Herd stand.
In der Burgküche herrschte reges Treiben, denn das Essen musste pünktlich fertig sein. Ein Anspruch, den Fergus mit eiserner Disziplin durchsetzte. Aurelia wollte gerade den Saal betreten, als ihr Blick auf ihren Vater fiel. Er saß allein am Tisch. Sie hielt inne, verharrte vor der angelehnten Tür und beobachtete ihn. Fergus hatte sie noch nicht bemerkt. Seine Aufmerksamkeit galt ganz seinen Händen, in denen er einen goldenen Ring drehte. Die Strenge und Kälte, die sonst sein Gesicht beherrschten, waren verschwunden, als hätte er sie wie eine Maske abgelegt. Stattdessen lag eine unerwartete Sanftheit in seinen Zügen. Mit gerunzelter Stirn und zusammengezogenen Augenbrauen ließ er seinen Blick schließlich von dem Ring auf den leeren Stuhl neben sich gleiten, während das Essen vor ihm auf einem Tablett dampfte und im Begriff war kalt zu werden.
Selten bekam Aurelia ihren Vater so zu sehen und es verwunderte sie immer wieder aufs Neue, wie verloren er in diesen Momenten wirkte. Bislang konnte er Gefühle immer sehr gut vor ihr verbergen, aber jetzt wirkte er ganz und gar nicht forsch und streng. Eher verletzlich, empfindlich und einsam. Aurelia hatte erst kürzlich verstanden, dass Fergus' harsches Benehmen eigentlich nur eine Rüstung war. In Momenten wie diesen, tat er ihr leid und sie wäre am liebsten zu ihm hin, um ihn in den Arm zu nehmen. Gleichzeitig fühlte sie innere Schuld! Auch wenn sie nie etwas für den Tod von Matilda konnte, fühlte sie sich dafür verantwortlich.
Und dann bemerkte Fergus Aurelia, gerade als sein Blick in Richtung Tür wanderte. Der Schatten, der durch den Türspalt fiel, hatte sie verraten. Seine Miene verfinsterte sich sofort, und sein kalter, abweisender Blick traf sie wie ein Schlag. Es durchfuhr sie, und sie zuckte erschrocken zurück.
„Ich weiß, dass du da bist!", hallte seine harsche Stimme durch den Saal. „Du bist spät dran! Das Essen steht schon seit geraumer Zeit auf dem Tisch und wird kalt!"
Mit gesenktem Blick trat Aurelia ein. Ihr Herz hämmerte schneller, fast so laut, dass sie befürchtete, er könnte es hören.
„Verzeih, Vater. Ich wollte dich nicht stören ... du sahst so nachdenklich aus. Hast du wieder an Mutter gedacht?"
Fergus' Gesicht verhärtete sich. „Setz dich endlich und iss!", sagte er scharf, ohne auf ihre Frage einzugehen. Dann schenkte er sich einen Becher Bier ein und sprach mit forschem Ton weiter: „Ich muss nachher mit dir über etwas Wichtiges sprechen."
Aurelia senkte den Kopf und setzte sich zögernd an den Tisch. „Über was denn?", fragte sie leise, während sie sich Gemüse auf den Teller lud und mit einem kleinen Löffel Soße darüber schwenkte. Ein knuspriges Brötchen legte sie daneben. Nach Fleisch war ihr heute nicht zumute, auch wenn es saftig und würzig aussah.
„Das erfährst du früh genug. Iss jetzt!", entgegnete Fergus knapp, bevor er selbst zu essen begann.
Aurelia starrte auf ihren Teller, rührte das Essen jedoch kaum an. Ihr Vater schien so unnahbar wie immer, und die Ankündigung ließ keine Zweifel daran, dass etwas bevorstand. Ihr Kopf war voller Fragen, doch sie wagte es nicht, noch einmal nachzuhaken. Stattdessen nagte eine dunkle Vorahnung in ihr.
Als Fergus fertig gegessen hatte, trank er seinen Becher aus, schob den geleerten Teller von sich und legte das Besteck sorgfältig gekreuzt darauf. Dann lehnte er sich entspannt in seinem Stuhl zurück, seine Augen auf Aurelia gerichtet.
„Hast du keinen Appetit?", fragte er schließlich, seine Stimme klang unerwartet ruhig.
„Doch, aber ich bekomme gerade nichts herunter", antwortete Aurelia leise und schob ihren halbvollen Teller ebenfalls von sich.
Einen Moment lang herrschte Stille, bevor sie die Frage aussprach, die sie seit dem Beginn des Essens beschäftigte. „Du wolltest etwas mit mir besprechen."
Fergus nickte knapp. „Das will ich, ja."
„Worum geht es?", hakte Aurelia nach, obwohl sie die Antwort bereits fürchtete.
„Du wirst bald siebzehn und bist damit eine junge Frau", begann er, wobei sein Ton die Schwere seiner Worte unterstrich.
Aurelia erstarrte innerlich, ihre Hände verharrten auf dem Tisch. Seine nächsten Worte konnte sie bereits erahnen.
„Viele Mädchen in deinem Alter und mit deinem Stand sind längst verheiratet und haben sogar schon Kinder", erklärte er mit einem Hauch von Pragmatismus in der Stimme. „Es wird Zeit, dass auch du deinen Pflichten nachkommst."
Sie brauchte einen Moment, um zu begreifen, was er meinte. Hochzeit. Familie gründen. Er sprach darüber, ihr Leben einem fremden Mann anzuvertrauen.
„Hast du mir bereits einen Bräutigam ausgesucht, oder lässt du mir selbst die Wahl?", fragte sie schließlich, wobei ihre Stimme bitterer klang, als sie es beabsichtigt hatte.
„Es ist bereits alles arrangiert", erwiderte Fergus nüchtern. „Ich habe viele Anfragen hinausgeschickt und die gehobensten Häuser angeschrieben. Doch die meisten haben abgelehnt."
Aurelia spürte, wie ihr Magen sich zusammenzog, als er fortfuhr: „Sie möchten ihre Söhne nicht mit einer wie dir verheiraten. Das hat mich sehr geärgert."
Ihr Blick sank auf den Tisch, beschämt über die unausgesprochene Wahrheit seiner Worte. „Also gibt es keinen Kandidaten?", murmelte sie.
„Doch, einen gibt es", erklärte Fergus, seine Stimme nun wieder härter. „Gregor Lothar hat zugestimmt. Du wirst diesen Winter mit seinem Sohn vermählt. Die Hochzeit findet in zwei Wochen statt."
Aurelia schnappte leise nach Luft, doch Fergus ließ ihr keine Zeit für eine Reaktion. „Wir reisen morgen früh ab. Pack deine Sachen. Es ist ein weiter Weg bis Burg Rötengraben und wir haben keine Zeit zu verlieren."
Aurelias Gesicht brannte, ihre Wangen waren heiß und gerötet. Sie spürte, wie ihr Atem unregelmäßig ging, ihre Schultern hoben und senkten sich in rascher Folge. Für einen Moment wusste sie nicht, was sie sagen sollte. Konnte sie es wagen, etwas zu erwidern? Ihr Vater hatte entschieden: Sie sollte den Sohn von Lord Gregor heiraten. Doch sie hatte diesen Mann noch nie gesehen, kannte nicht einmal seinen Namen.
Was wusste sie schon über ihn? War er charmant? Gutaussehend? Hatte er Ehrgefühl? Oder würde er eine Frau wie sie genauso verachten wie alle anderen? Die Vorstellung, zu heiraten, schien ihr wie eine Illusion – eine fremde, kalte Welt, die sie nicht begreifen konnte.
„Aurelia?" Fergus' Stimme durchbrach ihre Gedanken, scharf und ungeduldig.
„Ja, Vater?", fragte sie und hob den Blick zögernd.
„Hast du mich gehört?"
„Ich soll den Sohn des Lords heiraten!", murmelte sie abwesend, mehr zu sich selbst.
„Sehr richtig!" Fergus' Ton wurde fester. „Und jetzt geh dich waschen! Morgen früh brechen wir auf – und wehe, du verschläfst!"
Aurelia schniefte zittrig, ihre Lippen bebten leicht, als sie nickte.
„Was ist los? Heulst du etwa?", fragte Fergus, seine Stimme unsanft, fast spöttisch. Sein Blick war kalt und voller Unverständnis. „Was ist das denn für ein Benehmen? Freust du dich nicht über diese Nachricht? Andere Damen in deinem Alter wären verzückt! Gregor ist ein mächtiger Lord, und sein Sohn wird eines Tages sein Erbe antreten! Du kannst daran teilhaben, Kinder in die Welt setzen und deinen Platz an seiner Seite einnehmen. Also reiß dich zusammen! Ein solches Verhalten dulde ich nicht!"
Aurelia schwieg, doch ihr Inneres kochte. Die Worte ihres Vaters klangen so berechnend, so lieblos, dass sie es nicht länger zurückhalten konnte.
„Liebst du mich?", platzte es aus ihr heraus.
Fergus starrte sie an, als hätte sie ihm eine unverständliche Frage gestellt. „Wie bitte?"
„Ich habe gefragt, ob du mich liebst", wiederholte Aurelia, ihre Stimme lauter, schärfer.
Fergus zögerte, seine Stirn zog sich in Falten. „Warum ist das jetzt wichtig?"
„Weil ich das Gefühl habe, dass ich dir nur eine Last bin! Du verheiratest mich, um mich loszuwerden!", rief sie, ihre Stimme brach beinahe.
„Du heiratest, weil es deine Pflicht ist", antwortete Fergus schneidend.
„Du weichst aus! Ich will wissen, ob du mich liebst!", beharrte sie, ihre Augen brannten vor Wut und Schmerz.
Fergus' Gesicht blieb starr. Er ließ sich Zeit, zu lange Zeit. „Geh dich waschen, Kind", sagte er schließlich, als hätte sie nichts gesagt, und begann, sich von seinem Stuhl zu erheben.
Da verlor Aurelia die Beherrschung. Ihre Wut entlud sich wie ein Gewitter, sie schlug mit der Faust auf den Tisch. Das Geschirr klirrte, und für einen kurzen Moment schien ein seltsames Funkeln in ihren Augen aufzuleuchten.
„Warum antwortest du nicht?", schrie sie. „Ist die Frage so schwer für dich? Liebst du mich als deine Tochter, oder bist du froh, mich endlich loszuwerden?"
Fergus' Miene verhärtete sich, sein Kiefer mahlte. „Mäßige deinen Ton!", zischte er, doch seine Stimme zitterte vor unterdrückter Wut.
„Nein!", entgegnete Aurelia, ihre Augen funkelten vor Empörung. „Erst will ich eine Antwort! Liebst du mich wie es sich für einen Vater gehört, oder bist du nur froh, mich an den Höchstbietenden zu verkaufen?"
Fergus stand nun aufrecht, seine ganze Gestalt schien bedrohlich über ihr zu ragen. „Du willst eine Antwort? Die nackte, bittere Wahrheit? Sehr gut, dann hör mir zu!" Seine Stimme bebte vor Empörung und seine Worte, die folgten, stachen wie Dolche. „Seit dem Tag deiner Geburt kann ich dich nicht ansehen! Du Dämonin, die ihre Mutter auf dem Gewissen hat, bist eine tägliche Erinnerung an die größte Fehlentscheidung meines Lebens – dich leben zu lassen!"
Aurelia erstarrte. Seine Worte durchbohrten sie, zerschnitten die letzten Fäden der Hoffnung, die sie noch gehalten hatte. Tränen sickerten unaufhörlich über ihre Wangen, während ihr Herz so laut hämmerte, dass sie es in ihren Ohren hören konnte.
Doch das Klopfen verwandelte sich. Es war, als ob das Blut in ihren Adern zu kochen begann, eine innere Wut, die in ihrem Körper zu lodern schien.
„Du ...", krächzte Aurelia, ihre Stimme zitternd vor unterdrücktem Schmerz. Ihre Gedanken schienen in ihrem Kopf zu zersplittern, unfähig, klare Worte zu formen. Doch dann fand sie sie. „Du wünschst dir, ich wäre tot? Du nennst mich Dämon! Aber wenn ich ein Dämon bin, bist du der Teufel!"
Fergus' Hand flog, bevor er es überhaupt realisierte. Der Schlag traf Aurelia hart auf die Wange, ein trockenes Klatschen hallte durch den Saal.
Es war ein Reflex, mehr Instinkt als Absicht. Für einen Augenblick verharrte Fergus, erschrocken über seine eigene Tat. Seine Finger zitterten leicht, während er starr zusah, wie Aurelia zu Boden ging. In seinen Augen flackerte etwas, das fast wie Verständnis oder Einsicht wirkte – ein flüchtiger Moment der Klarheit, in dem er sich selbst nicht wiedererkannte.
Aurelia blieb am Boden liegen, ihre Wange brannte, doch sie weinte nicht. Der Schmerz schnitt tief, aber sie schluckte ihn hinunter, wie sie es immer getan hatte. Langsam erhob sie sich, wortlos und mit Tränen in den Augen. Doch als sie ihm ins Gesicht sah, war da nichts als Wut.
Ihre Stimme war leise, aber jedes Wort schnitt wie ein Messer. „Ich. Hasse. Dich!"
Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte sie sich um und rannte aus dem Saal. Ihre Schritte hallten durch die kalten Korridore, begleitet von ihrem Schluchzen, das sie nicht länger unterdrücken konnte. Sie stürmte in ihr Gemach, die Tür fiel krachend hinter ihr ins Schloss.
Fergus stand allein im Saal. Er sah ihr nach, seine Hand noch immer leicht erhoben, als hätte er sie gerade erst geschlagen. Die Scham traf ihn langsam, leise, wie ein Gift, das sich in seinem Inneren ausbreitete. Er griff nach dem Tisch, suchte Halt, und mit der anderen Hand fasste er an seine Brust. Dort, genau über seinem Herzen, spürte er den Ehering von Matilda – kalt und schwer wie eine Erinnerung aus längst vergangenen Tagen.
Ein Schmerz zog durch seine Brust, dumpf und unangenehm. War es ein Zeichen von ihr? Ein stummer Vorwurf aus dem Jenseits?
Aurelia schnappte sich das Buch, das sie vor dem Essen noch gelesen hatte, und warf es wutentbrannt durch das Zimmer. Es klatschte dumpf gegen die Wand und fiel scheppernd zu Boden. In diesem Moment entfuhr ihr ein schriller, verzweifelter Schrei – durchdringend und mit einem seltsamen Unterton, der selbst die ältesten Diener und Wachen aufhorchen ließ. Für einen Augenblick schien dieser Schrei eine Resonanz zu tragen, die niemand so recht einordnen konnte, als käme sie aus einer fremden, tieferliegenden Ebene.
Dann spürte Aurelia plötzlich ein unangenehmes Ziehen im Rücken, das sich rasch in einen stechenden Schmerz verwandelte. Sie klammerte sich mit einem gequälten Laut an das Bettgestell, die Finger krallten sich in das Holz, bis es unter ihrer Berührung leise zu knistern begann. Erschrocken ließ sie los und stolperte einen Schritt zurück. Der Schmerz war so plötzlich verschwunden, wie er gekommen war, doch er ließ sie fassungslos zurück.
Keuchend setzte sie sich auf die Bettkante und rieb sich den Nacken. Ihre Gedanken wirbelten durcheinander. „Was war das?", murmelte sie leise. Ihre Haut brannte, als stünde sie in Flammen, und ein tiefsitzender Frust wühlte in ihrem Inneren. Sie stand auf und ging zum Fenster, zog den schweren Vorhang beiseite und legte ihre Hand auf die eiskalte Scheibe. Die Kälte war wie Balsam, sie half ihr, wieder klar zu denken. Doch ihr Herz schmerzte weiterhin – eine Wunde, die viel tiefer saß als der flüchtige Schmerz in ihrem Rücken.
Der heutige Tag hattealles verändert. Aurelia fühlte sich, als sei etwas in ihr zerbrochen. All dieJahre hatte sie versucht, ihrem Vater gerecht zu werden. Sie hatte sich danachgesehnt, seine Anerkennung zu gewinnen, und jede Ablehnung ertragen, in derHoffnung, dass er irgendwann stolz auf sie sein würde. Doch nun, da sie dieWahrheit kannte, fühlte sich all das wie ein sinnloser Kampf an. Seine Wortehatten eine dunkle Ahnung bestätigt, die sie immer in sich getragen hatte, abernie auszusprechen gewagt hatte: Fergus hatte sie nie wirklich gewollt.
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