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Die Fahrt mit dem Chevrolet Silverado entpuppte sich als Offenbarung. Bisher war Eve die Faszination vieler Menschen für große Fahrzeuge immer ein Rätsel gewesen, nun wurde sie selbst davon ergriffen. Der PS-starke Motor reagierte auf die leiseste Berührung des Gaspedals mit einem kraftvollen Schnurren. Dabei lag der Wagen wie ein Brett auf der Straße. Wackel-Elvis bekam keine Chance, seinen Hüftschwung zu präsentieren.
Nur knapp widerstand sie der Versuchung, an den Knöpfen des Autoradios herumzuspielen. Sie war kein großer Rap Fan, aber in diesem Gefährt verspürte sie den Drang, ein paar fette Beats aus den Boxen dröhnen zu lassen. Hauptsächlich unterließ sie es, um Chris nicht zu provozieren, der einen ausgesprochen angenehmen Beifahrer abgab. Er äußerte weder missbilligende Blicke, noch dämliche Kommentare über ihre Fahrweise. Mit undurchdringlicher Miene schaute er still aus dem Fenster und spielte gedankenverloren mit den Bügeln seiner Sonnenbrille.
Eve kam sich wirklich schäbig vor, ihn in seiner misslichen Lage absichtlich hängenzulassen. Allerdings würde es sicher unangenehm enden, sollte sein Erinnerungsvermögen beim Anblick der spektakulären Wasserfontänenshow des Bellagio zurückkehren. Daher schlängelte sie sich abseits des berühmten Stripes über eintönige Nebenstraßen in Richtung Freeway.
Aber wie heißt es doch so schön? Kleine Sünden bestraft der liebe Gott sofort.
»Stopp!« Aufgeregt beugte sich Chris zur Seite, als sie eine unscheinbare Lagerhalle passierten. »Fahr links rein. Hier war ich schon mal.«
»Das ist nicht die beste Gegend für einen Halt.«
»Du fährst jetzt links ab oder ich schmeiß dich aus dem Auto, capisce?« Sämtliche Härchen auf ihren Armen stellten sich auf. Verschwunden war der freche Charme, der sie beinahe hatte vergessen lassen, mit wem sie hier im Auto saß. Der Blick seiner blaugrauen Augen erinnerte Eve an den Atlantik vor ihrer heimatlichen Haustür. Im Winter! Wild, eiskalt und unerbittlich.
Ohne zu murren, setzte Eve den Blinker. Sie wollte es lieber nicht darauf ankommen lassen, inwieweit er seine Drohung wahrmachen würde.
Gemächlich rollten sie an hohen Maschendrahtzäunen und mit Grafiti besprühten Mauern vorbei. Am Straßenrand herumlungernde Jugendliche schauten ihnen feindselig nach. Eve war heilfroh, hinter den abgedunkelten Scheiben zu sitzen.
»Ein Tor! Hier muss es irgendwo ein großes Tor geben.« Chris verrenkte sich fast den Hals bei dem Versuch, die gesamte Straßenfront zu überblicken. Eve hoffte auf das Gegenteil. Inzwischen hatten sie das Areal so gut wie umrundet.
»Du hast dich sicher geirrt. Es sieht doch alles gleichermaßen trostlos aus.«
Der Verkehr wurde langsamer und kam ins Stocken. »Verdammt. Wieso geht es nicht weiter?« Ungeduldig schlug Chris gegen das Armaturenbrett.
Eve zuckte zusammen. »Wer weiß. Vielleicht ist heute die Müllabfuhr unterwegs?«, fragte sie mit zynischem Unterton. Wie aufs Stichwort bog hinter ihnen rumpelnd ein Laster der Stadtreinigung in die einspurige Straße ein. Im Schritttempo ging es weiter.
»Da vorn ist es – oh, verfluchter Scheiß!« Chris starrte über die Dächer der Fahrzeuge vor ihnen. Eve brauchte einen Moment länger, um die Reflexionen der blau-roten Lichter zuzuordnen.
»Mist! Mist! Mist!« Eve trat auf die Bremse. »Was machen wir denn jetzt?« Ihr Mund wurde staubtrocken und ihre Hände rutschten schweißnass vom Lenkrad. Hektisch ruckte sie am Schaltknüppel, um den Rückwärtsgang einzulegen. Was nichts brachte, angesichts des grünen 18-Tonners, der an ihrer Heckstoßstange klebte.
»Ganz ruhig bleiben.«
Während Chris sich gelassen zurücklehnte, kamen ihr ernsthafte Bedenken zu seiner geistigen Gesundheit. »Ruhig bleiben? Wie soll ich ruhig bleiben? Wir müssen hier weg!«, rief sie mit dünner Stimme. »Da vorne wimmelt es nur so vor Cops und wir fahren mit sackweise Geld und Waffen und einer Leiche spazieren! Außerdem haben wir weder Papiere, noch eine plausible Erklärung. Aber zum Reden werden wir vermutlich gar nicht kommen. Wir werden im Kugelhagel enden, wie Bonnie und Clyde! Ich will noch nicht sterben!«
Plötzlich lag seine Hand um ihren Nacken und zog sie halb über den Sitz herüber. Gerade als sie protestierend tief Luft holte, beugte er sich zu ihr und verschloss ihren Mund mit seinem. Eve war viel zu schockiert, um sich zu wehren. Sie hätte ihn wegstoßen oder zumindest zurückweichen sollen. Unerklärlicherweise bewegte sie sich in die andere Richtung, sank ihm entgegen, neigte ebenfalls den Kopf, ganz leicht zur Seite ... um diesen Kuss ohne Zurückhaltung anzunehmen. Ihr wild schlagendes Herz hämmerte freudig im Turbogang weiter und ihre Sinne erwachten zu höchster Empfangsbereitschaft. Doch sie nahm weder den laufenden Polizeieinsatz vor ihnen, noch das tuckernde Müllauto hinter ihnen wahr. All das wurde nebensächlich. Sämtliche Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf diesen gefährlichen Mann, dessen Kuss ihr den Atem raubte. Der sanfte Druck seiner rauen Hand, das leichte Kitzeln seines Bartes, die langen, dichten Wimpern seiner halbgeschlossenen Augen. Es sollte verboten werden, dass ein Kerl solch betörende Wimpern besaß! Seine Lippen bewegten sich warm und fest auf ihren und sie genoß das wunderbar samtige Gefühl.
Eve zweifelte an ihrem eigenen Geisteszustand. Sie hatte größte Mühe, ein Stöhnen zu unterdrücken. Das war ein riesengroßer Fehler! Keinesfalls durfte sie sich von diesen verwirrenden Emotionen ablenken lassen.
Ihren Körper interessierte es nicht die Bohne, was ihr Kopf dachte.
Chris küsste sie, als hätten sie alle Zeit der Welt. Seine Zunge liebkoste sanft ihre Lippen und bereitwillig öffnete sie ihren Mund. Ihr hungriges Seufzen bahnte sich seinen Weg zu ihm. Seine Hand glitt an ihrem Hals herunter auf ihre Schulter und sie rechnete fest damit, dass sie gleich unter die Träger ihres Kleidchens wandern würde.
Sie wollte sie genau da spüren.
Abrupt rückte Chris von ihr ab, umfasste ihr Kinn und blickte ihr tief in die Augen. »Wir werden heute nicht sterben. Klar soweit?«
»Hm. Wie? Ja. Nein. Okay«, hauchte Eve. Sie musste sich zusammenreißen. Was stellte dieser Kerl nur mit ihr an? Ihre Zungenspitze leckte bedauernd über ihre kribbelnden Lippen.
»Rutsch rüber. Wir steigen bei mir aus. Das erregt weniger Aufmerksamkeit. Und dann ab nach hinten. Der Laster gibt uns Deckung.« Chris holte ihre Sporttasche vom Rücksitz und drückte sie Eve in die Arme. »Ist der Wagen auf uns zugelassen?«
»Äh, nein.« Eve schluckte trocken. Sie wäre auch lieber weniger erregt. Und woher sollte sie wissen, wie die Mafia ihren Fuhrpark organisierte?
»Gut. Dann hoffen wir mal, dass unsere Fingerabdrücke in keinem System sind.«
Eve war diesbezüglich mehr als skeptisch.
Die Polizeisperre hatte einen weiteren Schwung Fahrzeuge kontrolliert und die Autos vor ihnen fuhren wieder an. Chris öffnete die Beifahrertür und glitt geschmeidig hinaus. Eve kletterte umständlich auf seine Seite und schlüpfte ebenfalls ins Freie. Er langte noch schnell nach dem Seesack und fluchte gleich darauf leise. Das Teil hing irgendwo fest!
Die Müllfahrer winkten und hupten ungeduldig. »Mach schon!« Eve drückte sich an den Chevy, wo das aufgeheizte Metall der seitlichen Ladefläche ihr den Rücken versengte. Sie sollte ohne Rücksicht auf den Kerl schleunigst das Weite suchen.
Ihre Füße rührten sich nicht vom Fleck.
Mit einem abschätzenden Blick nach vorn ruckte Chris noch einmal kräftig an den Riemen. Die Verschnürung gab nach und etwas Schweres polterte unter den Sitz. Doch der Seesack kam frei!
»Los jetzt!« Chris packte ihre Hand und zog sie hinter sich her. Vor lauter Angst fühlte sich Eve willenlos wie eine Puppe. Atemlos hetzten sie entlang der Autoschlange zurück. Die inzwischen völlig blockierte Straße verschaffte ihnen einen kleinen Vorsprung. Nach einigen Minuten erreichten sie eine schmale Durchgangsgasse. Chris zögerte kurz, bevor er sich entschied, abzubiegen. Aus der Ferne hörte Eve aufgeregte Rufe und erstes Sirenengeheul. Ihre Beine waren schwer wie Blei und sie geriet ins Stolpern. Nur Chris' fester Griff gab ihr Halt. Das alles war der reinste Irrsinn. Ihre Lunge war kurz vorm Kollabieren, ihr Brustkorb kam mit dem lebensnotwendigen Pumpen nicht hinterher. Anstatt aus dem Schlamassel rauszukommen, steigerte sich ihr Dilemma in ganz neue Dimensionen. Hoffentlich war ihr schmutziger, vollgemüllter Fluchtweg keine Sackgasse.
Sie schlitterten um die nächste Kurve und rannten direkt in ein Grüppchen zwielichtiger Typen hinein. Von dreihundert Pfund Lebendgewicht ausgebremst, gingen sie in einem wirren Knäuel aus tätowierten Armen, Leibern und Beinen zu Boden.
»Hola chica!« Sonnengebräunte Hände mit funkelnden Ringen legten sich um Eves Hüften. Sie lag halb auf einem schmächtigen Burschen in verwaschenem Army-Muskelshirt und schlabbrigen Skaterhosen und blickte in gierig aufblitzende schwarze Augen. Mit einem anzüglichen Grinsen leckte sich der Typ über die dünnen Lippen. Eve sah buchstäblich Rot. Und das verursachten nicht die gleichfarbigen Bandanas, die diese Halbstarken als Gangmitglieder kennzeichneten. Sie war einfach mit den Nerven am Ende und rastete komplett aus.
»Nimm deine Griffel von mir, du mickrige Kakerlake!« Ohne groß nachzudenken schleuderte sie ihre pinke Sporttasche gegen das spärlich behaarte Kinn vor ihr. Mit einem überraschten Gurgeln kippte der Bursche um. Eiligst rappelte sich Eve auf. Aus den Augenwinkeln nahm sie wahr, dass auch Chris bereits wieder stand. Die drei anderen Bengels allerdings ebenfalls. Einer von ihnen zückte ein Schnappmesser und fuchtelte großspurig damit herum. Meet death prangte als Versprechen in fetten, zerfließenden Lettern auf seinem schwarzen, ärmellosen Tanktop. »Ey, Gringos! Hier ist für euch Endstation. Ihr leert jetzt eure Taschen und zwar rápido!«
»Das denke ich nicht.« Die tiefe Stimme von Chris wurde vom charakteristischen Klicken einer entsicherten Waffe begleitet. Eve taumelte einen Schritt zurück und lehnte sich mit weichen Knien gegen einen stinkenden Abfallcontainer. Die jugendlichen Gangster erstarrten, ganz besonders derjenige, der den harten Lauf der Glock im Genick verspürte.
»Wir atmen jetzt alle mal tief durch«, stammelte Eve in der Hoffnung, die Situation zu entspannen. Bisher war es nur eine Vermutung, dass sie in Begleitung eines Mafiakillers vor der Polizei floh. Sie brauchte keine Bestätigung, noch dazu live und in Farbe. »Geht woanders spielen Jungs, okay? Keiner von uns braucht unnötigen Ärger. Hier werden in Kürze die netten Onkels mit den goldenen Abzeichen auftauchen und die reagieren oft ziemlich allergisch auf so ein gemütliches Überfall-Szenario.«
Der Messerschwinger wischte sich mit dem Unterarm über die laufende Nase. »Bien.« Mit leicht erhobenen Händen und wiegendem Gang trat er den Rückzug an. Sein Kumpel kniete sich neben den am Boden liegenden Burschen und bedachte diesen mit ein paar saftigen Ohrfeigen. »¡Vamos, arriba!«
Chris verpasste dem letzten Bandenmitglied einen Stoß zwischen die Schulterblätter, hielt dabei die Pistole weiterhin auf das Grüppchen gerichtet. »Heb die Taschen auf«, wies er Eve an. Langsam schob er sich in ihre Richtung und nahm ihr den Seesack ab. Die Gang verkrümelte sich in die Schatten der Hinterhöfe. Weiterhin rückwärts laufend, deckte Chris ihren Abgang. Eve atmete erleichtert auf, als das Ende der Gasse in Sicht kam. Noch nie war ihr urwüchsiges Grün so verlockend erschienen. Sie durchquerten eine verwilderte Parkanlage und gelangten wieder auf eine der großen, belebten Straßen.
Eve sprang an den Fahrbahnrand und wedelte mit beiden Händen. »Taxi!«
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