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»... da drüben liegt eine Leiche.«

Großartig! Da waren ihm doch genau die richtigen Worte eingefallen, um die völlig verstörte Frau zu beruhigen. Eine Frau, die nichts als ein blau-weiß-rotes XXL Fan-Shirt der LA Dodgers am Leib trug, unter dessem Saum sich endlos lange nackte Beine herausstreckten, die wesentlich appetitlicher als dieser babykackegelbe Fliesenboden aussahen.

Stopp! Erschrocken über seine, in eine unangebrachte Richtung abschweifenden Gedanken, bewegte er sich sachte auf die hyperventilierende Lady zu. Eigentlich fast noch ein Mädchen. Er schätzte sie auf Anfang zwanzig. Zierlicher Körperbau, riesige, angstgeweitete blaugrüne Augen, raspelkurzes rötliches Haar und zahllose Sommersprossen auf einem frechen Stupsnäschen. Dazu die porzellanhelle Haut einer echten Rothaarigen. Ein geradezu elfengleiches Püppchen.

Verdammt! Er kniff die Augen zusammen und konnte sich gerade noch bremsen, verärgert den Kopf zu schütteln. Was, zum Teufel, stimmte nicht mit ihm? Er begaffte das Girl, als wäre er auf der Suche nach seinem nächsten Date, dabei hing das bedauernswerte Geschöpf gefesselt und geknebelt an diesem Monstrum von Badheizkörper. Womöglich war sie auch noch misshandelt worden. Unterdrückter Zorn wallte in ihm auf und er ballte unbewusst die Fäuste.

Die junge Frau begann wie wild zu zappeln und an ihren Fesseln zu zerren.

»Wow, wow, langsam Schätzchen. Ich ...« Ja, was ich? Ich habe damit nichts zu tun? Pah! Reines Wunschdenken. Er entschied sich für eine Aussage, deren er sich sicher war. »... ich tue dir nichts.«

Jede hektische Bewegung vermeidend, sank er auf die Knie und zog die Schultern ein, um sich kleiner zu machen. Er wollte sie nicht noch mehr verängstigen und hoffte inständig, dass sie nicht gleich anfing, Mord und Zeter zu schreien. Von Angesicht zu Angesicht nickte er ihr beruhigend zu und entfernte behutsam den Knebel, an dem sie zu ersticken drohte. Aus der Nähe betrachtet wirkte sie gar nicht mehr so zerbrechlich, auch wenn in ihren dichten Wimpern Tränen wie winzige Perlen schimmerten. Die Iris ihrer Augen war faszinierend, mit diesen kleinen goldbraunen Sprenkeln in geheimnisvollen Seen, deren Farbe sich nicht zwischen Blau und Grün entscheiden konnte. Dazu die fein geschwungenen Augenbrauen, mit dieser kaum sichtbaren Narbe am linken Rand ...

Ein Bild entstand in seinem Kopf. Flüchtig, verschwommen und einfach nicht greifbar. Ihr schniefendes Gestammel kam nur halb bei ihm an. Kannte er diese Frau? Und sie ihn? Dieses verdammte Black Hole machte ihn wahnsinnig. Wieso erinnerte er sich an das Logo eines Baseball-Teams, aber nicht an seinen eigenen Namen?

Das zarte Elflein entpuppte sich jedoch als ziemlich spitzzüngige Tinkerbell. Statt der dringend erhofften Antworten, bekam er auf seine berechtigte Frage nach dem WER und WO nur ein "Willst du mich verarschen?" zu hören.

Wie unhöflich war das denn? Sein Schädel brummte, die Speiattacke war ihm peinlich und er hatte jetzt echt keinen Nerv für Ratespielchen.

»Was für ein Tag ist heute?«, fragte er schroffer als beabsichtigt.

»Sonntag«, antwortete sie, ohne zu zögern.

Er sah sie stumm abwartend an.

»Der fünfte Juli. 2015. Du kannst dich an überhaupt nichts erinnern?«

»Dann war gestern unser Nationalfeiertag.« Er rieb sich frustriert über sein Gesicht. »Aber ich habe keine Ahnung, ob ich mir das Feuerwerk angesehen habe.«

»Krass.« Ein seltsamer Ausdruck huschte über ihr Gesicht. Vielleicht hätte er dieses kleine Detail lieber für sich behalten. In seiner Brust regte sich eine winzige Spur von Misstrauen.

Er versuchte einen neuen Anlauf. »Wie heißt du?«

»Eve.«

»Eve.« Er wiederholte ihren Namen und wartete auf irgendeine innere Rückmeldung. Ein vages Echo hallte aus den verschlossenen Tiefen seines Bewusstseins, gedämpft und blockiert von Tonnen unnützer Informationsfetzen.

»Und ...«

»Wie wäre es, wenn du mich erst einmal befreist? Bitte?«, fiel sie ihm ins Wort. Sie zog ihr entzückendes Näschen hoch und blinzelte ihn auffordernd an. Eine einzelne Träne perlte von den langen Wimpern und rollte über ihre gerötete Wange.

Ratlos blickte er auf die festgezurrten Stricke. Wie sollte er die aufbekommen, ohne ihr weitere Schmerzen zuzufügen? Er wurde das Gefühl nicht los, etwas elementar Wichtiges zu übersehen. Unvermittelt tauchte das Bild in seinem Kopf wieder auf. Diese eindrucksvollen Augen, nur auf ihn gerichtet, die langen Beine in seidig glänzenden, hauchzarten Spitzenstrümpfen ...

»In meinem Beautycase habe ich eine Schere.«

»Hä?« Oh, Mann. Diese Aufmerksamkeitsstörung musste er schnellstens in den Griff bekommen.

»Waschtasche? Da drüben. Neben. Der. Dusche.« Sie sprach extrem langsam und überdeutlich, als wäre er ein seniler Depp.

»Ich weiß, was ein Beautycase ist«, brummte er beleidigt. Zu allen Gebrauchsgegenständen um ihn herum fielen ihm Bezeichnung und Verwendungszweck ein. Er wusste, dass Obama Präsident war und die San Francisco Giants die letzten World Series gewonnen hatten. Aber der gestrige Tag und alles was seine Person und sein Umfeld betraf? Total tote Hose. »Wie wäre es, wenn du mir erst einmal ein paar Antworten lieferst? Wir kennen uns, oder?«

Das Girl zog einen Flunsch und rutschte unruhig hin und her. »Hör mal, das ist hier ziemlich unbequem. Außerdem habe ich ein wirklich dringendes Bedürfnis.« Sie schielte an ihm vorbei in Richtung der Toilette. »Wenn du Antworten willst, mach mich los!«

Argwöhnisch lehnte er sich zurück. Die labile Duschkabinenwand hinter ihm knarzte bedrohlich. Sein Instinkt riet ihm zur Vorsicht. Die Stimmungslage hatte sich geändert. Ohne Zweifel war die Frau noch immer ängstlich. Aber da war noch etwas anderes. Ihr katzengleicher Blick taxierte ihn. Durchdringend. Lauernd. »Nein.«

»Nein?« Sichtlich irritiert riss sie die Augen auf.

»Nein. Ich bin nicht sonderlich auf der Höhe und du verduftest höchstwahrscheinlich, sobald du die Möglichkeit dazu hast.« Er verschränkte die Arme und streckte gelangweilt die Beine aus. In dem engen Gang bildete er so eine bildliche Schranke zwischen ihr und ihrem Wunschziel.

»Das könnte mir genauso passieren, wenn dir meine Antworten nicht gefallen. Da haben wir wohl eine Pattsituation«, argumentierte Tinkerbell Eve. Tigerlilly wäre auch passend, sinnierte er, angesichts ihrer wütend ausgefahrenen Krallen. Wohlgemerkt trotz der engen Fesseln.

»Ich hab Zeit.« Er inspizierte seine Fingernägel. Kurz, ordentlich geschnitten und sauber. Keine Schwielen an den Händen. Handwerker konnte er wohl auch ausschließen. Vielleicht irgendwas mit Computern? Bei dem Gedanken an einen Bürojob rümpfte er die Nase.

Eve wurde zunehmend nervöser. »Und was ist mit der Leiche?«

»Hm? Die hat's auch nicht eilig.«

»Was ist wenn der Zimmerservice auftaucht?«

Er zuckte nur gleichgültig mit den Schultern. »In dieser Bruchbude? Das glaubst du doch selber nicht.«

»Ich könnte auch um Hilfe rufen!«

Sie lieferte ihm ein trotziges Blickduell. Der Fliesenboden unter seinem Hintern war angenehm kühl, die Duschabtrennung pikste nur geringfügig, die Aussicht war hoch interessant und das höllische Pochen in seinem Kopf wurde weniger. In aller Ruhe studierte er ihre Gesichtszüge und kam zu dem Ergebnis, etwas Vertrautes zu erblicken.

»Jap. Könntest du. Ich glaube aber, du willst keineswegs irgendwelche Aufmerksamkeit erregen. Genau wie ich. Und ich denke, es gibt noch einiges mehr, was uns verbindet.«

Ihre perfekten Augenbrauen zogen sich zusammen, zwischen ihnen bildeten sich kleine Zornesfältchen. »Wieso bist du so gemein? Ich muss echt dringend aufs Klo!«

»Tja, Schätzchen, das Leben ist kein Wunschkonzert.« Ihm war klar, dass er ihre Notlage schamlos ausnutzte. Einigermaßen entsetzt stellte er fest, wie leicht ihm das fiel. Er hielt sie allerdings längst nicht mehr für ein gänzlich unschuldiges Opfer. Was auch immer hier gespielt wurde, sie hatte garantiert nicht nur eine Nebenrolle in dem Stück. »Klär mich auf oder mach dir ins Höschen.«

Die Minuten zogen sich in die Länge und er war kurz davor nachzugeben. Das Geld einzusacken und einfach abzuhauen, kam nicht in Frage. Er konnte sie nicht da hängen lassen. Auf ihrer Stirn standen kleine Schweißperlen, die vollen Lippen hatte sie zu einem schmalen Strich zusammengepresst.

Missmutig grunzend hievte er sich in die Höhe. Weit weniger elegant, als er es sich vorgestellt hatte. Aber was blieb ihm übrig? Er musste eben darauf vertrauen, dass ...

»Warte! Warte. Okay, ich sag dir, was du wissen willst.« Eves Stimme überschlug sich fast vor Verzweiflung. Ein Schauer durchlief ihren schlanken Körper und er freute sich kein Stück über seinen Sieg. Das Bild, welches er versuchte über sich selbst zurechtzubasteln, bekam einen gehörigen Knacks.

»Gut. Ich hole die Schere und du redest.« Er sah ihr nicht in die Augen, während er nach dem BEAUTYCASE angelte und sich durch die geheimnisvollen weiblichen Überlebensutensilien wühlte.

Aber Eve schwieg und wartete, bis er wieder neben ihr kniete. Sie kaute nervös auf ihrer Unterlippe und betrachtete ihn mit einer undefinierbaren Mischung aus Resignation und Bedauern. In seinen Gedanken malte er sich bereits alle möglichen und unmöglichen Szenarien aus. Am Ende war er ein schwuler Bankräuber und vor ihm saß eine taffe FBI Agentin, die in Gedanken schon die Handschellen zückte. Wobei, angesichts seiner seltsamen Aufwachposition schien er ja Fesselspielchen nicht ganz abgeneigt ...

»Halloho! Jemand zu Hause? Kerle! Erst Stress machen und dann einpennen.« Eve funkelte ihn entrüstet an. Er kam sich vor wie ein Schuljunge, den man beim heimlichen Anschauen von Schmuddelheftchen ertappt hatte.

»Entschuldige, was hast du gesagt?« Als Zeichen seines Entgegenkommens begann er mit der winzigen Nagelschere die Verschnürung zu bearbeiten. Die Qualität der Stricke war gemeinerweise um ein Vielfaches besser, als der Rest der Zimmerausstattung.

»Ich bin es ja gewohnt, dass du nie zuhörst. Obwohl es mich ehrt – Autsch! – dass du dich zumindest ansatzweise an mich erinnerst.« Ihr plötzliches Lächeln brachte sämtliche Alarmglocken in seinem Kopf zum Läuten. Vorsichtshalber ließ er die Schere sinken und holte nochmal tief Luft. Er fühlte sich für das Schlimmste gewappnet.

»Also nochmal zum Mitschreiben, Sweetheart. Wir sind in Las Vegas und du bist mein Ehemann.«

Wie man sich doch irren konnte.

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