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›Bitte, lieber Gott, bitte lass mich das hier heil überstehen. Ich verspreche dir, ich ändere mein Leben. Ich weiß, ich war alles andere als ein braves Mädchen und ich bereue meine Taten, auch wenn es wirklich nur schlechte Menschen waren, denen ich geschadet habe. Es wird nicht wieder vorkommen. Ich gelobe es, hoch und heilig. Ich werde nie, nie, nie mehr etwas Falsches, sondern nur noch Gutes tun und anderen helfen. Bitte, bitte, lass mich nicht im Stich!‹
Eve Callahan kniete zitternd auf dem hässlichen, mit zahlreichen Rissen übersehenen, gelbbraunen Fliesenboden der briefmarkengroßen Nasszelle dieses beschissenen Motelzimmers. Vom stundenlangen Hocken in der unbequemen Haltung schmerzten ihr der Rücken und sämtliche Gliedmaßen. Mit einem Schulterkreisen versuchte sie, die Arme zu lockern. Die dünnen Nylonschnüre, mit denen ihre Handgelenke an den Badheizkörper gefesselt waren, verfärbten sich bereits rot. Durch ihr verzweifeltes Bemühen, sich aus den Stricken zu befreien, hatten sich diese nur noch fester zugezogen und ihr tief in die Haut geschnitten.
Angestrengt konzentrierte sich Eve auf eine gleichmäßige Atmung gegen den Schmerz und bekämpfte den übermächtigen Drang, Rotz zu Wasser zu heulen. Nicht weil sie sich ihrer Tränen schämte, sondern aus reinem Überlebensinstinkt. Wenn sie einmal mit dem Flennen anfing, würde sie nicht aufhören können und eine zugeschwollene Nase wäre angesichts des Knebels in ihrem Mund ihr sicheres Todesurteil.
Warum passierte ihr ständig so ein Scheiß? Konnte sie nicht einmal etwas Glück haben? Wieso verknallte sie sich jedesmal wieder in eine totale Niete?
Mit bebenden Lippen setzte sie zu einem neuen Gebet an. Wo bitte, war ihr Schutzengel, der laut Vater Martins alljährlich am 2. Oktober wiederkehrenden Predigt jeden Menschen begleitete?
Voller Schuldbewusstsein ließ sie schniefend den Kopf hängen. Vermutlich hockte ihrer immer noch beleidigt auf der Backsteinmauer vor ihrem Elternhaus im beschaulichen Maine, über die sie mit knapp sechzehn bei Nacht und Nebel abgehauen war. Raus aus dem Kleinstadttrott. Hinein in die atemberaubenden Möglichkeiten der großen weiten Welt. In naiver jugendlicher Leichtgläubigkeit dem verlockenden Duft von Freiheit und Abenteuer und dem verwegenen Grinsen ihres ersten Ferienflirts folgend.
Wie lange war das jetzt her? Und was war aus ihren Träumen geworden? Eve kramte in alten Erinnerungen, um sich von ihrer prekären Lage abzulenken und kam zu einem enttäuschenden Resultat. Waren wirklich schon zehn Jahre vergangen? Heilige Scheiße!
Sofort biss sie sich auf die Zunge. ›Entschuldigung. Es tut mir leid! Ich wollte nicht fluchen. Bitte, lieber Gott, es ist mir nur so rausgerutscht. Das sind die Nerven. Bitte, bitte, hilf mir, nur dieses eine Mal ...‹
Im Raum nebenan erklang ein gedämpftes Poltern, gefolgt vom undeutlichen Fluchen einer tiefen Stimme. Ihr Herzschlag geriet ins Stocken. Im nächsten Augenblick flog die dünnwandige Tür auf, knallte mit einem scheppernden Rumms gegen ihren gusseisernen Gefängniswächter und federte ächzend zurück. Ängstlich duckte sich Eve in die enge Nische neben dem vorsintflutlichen Radiator. Sie machte sich so klein wie möglich, doch selbst mit ihrem schmalen Körperbau konnte sie sich hier nirgends verstecken. Ganz abgesehen davon, dass sie an der Heizung festhing wie ein schlachtreifes Schweinchen.
Ein Schatten fiel ins Bad. Ein großer Schatten, der zu einem schnaufenden Wesen gehörte, das hinter dem Türblatt wartend innehielt. Eves Gemütszustand fuhr Achterbahn. Nahte Hilfe oder das endgültige Verderben? Ihre Muskeln brannten, während sie sich krampfhaft bemühte, mucksmäuschenstill zu verharren. Wie lange würde sie ohne zu atmen auskommen?
Der Schatten bewegte sich vorwärts. In seinem Schlepptau schwankte ein athletisch gebauter Kerl in nichts als engen Unterhosen durch ihr Blickfeld. Ohne auf sie zu achten, tapste der Typ wacklig ins Bad, häufelte sich vor die Toilette und übergab sich röchelnd.
Eve machte große Augen. Sie hatte nicht gewusst, dass jemand beim Kotzen eine so gute Figur abgeben konnte.
Sie bekam die volle Auslage männlicher Attraktivität geboten. Ein dunkler, ziemlich verwuschelter Haarschopf, der dazu einlud, die Finger darin zu vergraben. Glatte, sonnengebräunte Haut spannte sich mit leichtem Goldschimmer über breite Schultern und straffe Muskeln. Schwarzblaue verschlungene Linien eines kunstvollen keltischen Tattoos bildeten dazu einen tollen Kontrast und betonten einen Bizeps zum Anschmachten. Das stattliche Kreuz verjüngte sich zur Taille hin und endete in einem echten Knackarsch.
Während sich der arme Kerl die Seele aus dem Leib reiherte, beobachtete Eve fasziniert das Spiel seiner ausgeprägten Rückenmuskulatur. Die fein definierten Muskelstränge zeugten von Kraft und Ausdauer. Dies war nicht der bullige, aufgeblasene Leib eines Möchtegernmuskelprotzes, sondern der durchtrainierte Body eines Mannes, der mit seinem Körper arbeitete. Als Leistungssportler oder als Kämpfer.
Eves weibliche Hormone reagierten mit Verzücken. ›Du dämliche Kuh, jetzt drehst du völlig durch‹, schalt sie sich selbst, doch ihr verräterischer Körper ignorierte ihren Protest und erwärmte sich an Stellen, die ihr die Röte ins Gesicht trieben. Alles reine Biochemie! Im Angesicht des Todes suchte ihr verzweifelter Organismus nur nach einer Möglichkeit zur Arterhaltung.
Denn ihr verkorkstes Dasein würde in dem Moment enden, in dem der Typ sich umdrehte und sie entdeckte. Niemand legte sich ungestraft mit Giuseppe Malfattore an. Dieses Prachtexemplar eines Bad Boys vor ihr arbeitete garantiert für den Mafiaboss. Eve war sich sicher, den Mann schon im Casino gesehen zu haben. Wenn auch mit verspiegelter Ray-Ban und mehr Klamotten am Leib. Wie einem legerem Sakko, welches griffbereite bleihaltige Überzeugungsargumente gut verbergen konnte. Er stand immer irgendwo im Hintergrund bei den Türstehern, die den Eingang zum VIP-Bereich absicherten.
Ihre Paranoia war durchaus keine Einbildung gewesen. Malfattores Handlanger hatte sich wie ein Bluthund an ihre Fersen geheftet und sie schließlich hier aufgespürt. Gerade als sie sich ihrer Verkleidung entledigte, kam er mächtig angefressen einfach in das Zimmer marschiert. Glücklicherweise hatte ihre kleine Striptease-Einlage ihn kurzzeitig abgelenkt, sodass Dennis, der in der Zwischenzeit kalte Getränke besorgen wollte, ihm hinterrücks eins mit einer eisgekühlten Coladose überbraten konnte.
Dennis.
Der Gedanke an ihren neuesten Ex verwandelte Eves beißende Angst in glühendrote Schlieren brodelnder Wut.
Dennis, die Kröte, aus der trotz vieler engagierter Küsse ihrerseits kein Prinz wurde. Sie hätte es mit an die Wand klatschen probieren sollen.
Während sie noch stocksteif neben dem vermeintlich toten Mafioso stand, hatte Dennis schon die Zugschnur der Jalousien abgerissen. Aber nicht um den Verfolger, sondern um sie kurzerhand damit zu fesseln und hübsch verschnürt als Opferlamm für die rachedurstige Mafia zurückzulassen.
Dennis, mit seinen grandiosen Plänen und vollmundigen Schwüren. Nichts als heiße Luft und hohle Phrasen. Der ganze Sunnyboy ein einziger Fake. Angefangen bei seinem imitierten, schleppenden Südstaatenslang, weiter mit den blondierten Haaren und den gefärbten Kontaktlinsen. Wirklich blauäugig war nur sie selbst gewesen, als sie seinen leeren Versprechungen auf den Leim gegangen war.
Ein unwirsches Schnauben entschlüpfte Eve, was sie sogleich bereute. Zu spät! Der Mann vor ihr fuhr blitzartig herum und starrte sie entgeistert an.
Eve schloss resigniert die Augen. Die Angst kehrte zurück und kroch ihr eiskalt durch die Eingeweide. Gleich würde ihre neue Karriere als Tatortfotomodel starten.
Doch anstatt eines wütenden Aufschreies, hörte sie ein verlegenes Brummen und die Spülung der Toilette rauschen. Zögerlich wagte Eve einen Blick nach vorn.
Der Typ zog sich schwerfällig am Waschbecken nach oben, wusch sich ordentlich die Hände und spritzte sich einen kräftigen Schwapp Wasser ins Gesicht. Mit den nassen Fingern fuhr er sich durch seine widerspenstigen Haare, zuckte kurz schmerzhaft zusammen und fluchte verhalten.
»Fuck. Sorry, aber da ...« Er drehte sich erneut zu ihr um. Seine graublauen Augen irrten unstet umher, als hätte er Schwierigkeiten sie zu fokussieren. Mit einer unbestimmten Handbewegung deutete er auf den Raum nebenan. »... da drüben liegt eine Leiche.«
Es dauerte einen Moment bis das Gesagte bei Eve ankam. Dann schlugen turmhohe Wellen von Panik über ihr zusammen und zogen sie in einen abgrundtiefen Strudel der Verzweiflung. Heftig riss sie an ihren Fesseln, ungeachtet der Schmerzen, die sie sich selbst zufügte und ohne die leiseste Chance auf eine Änderung ihrer hoffnungslosen Lage.
»Bttn bttnsmr ntss«, stammelte Eve schluchzend, bevor ihr klar wurde, dass der Mann ihr Betteln durch den blöden Knebel gar nicht verstehen konnte. Ihr angsterfülltes Schniefen schlug in hektische Schnappatmung um.
»Wow, wow, langsam Schätzchen. Ich ... ich tue dir nichts.« Mit beschwichtigend ausgebreiteten Händen kam der Kerl auf sie zu, kniete sich vorsichtig neben ihr auf den Boden und zog behutsam das verknotete Tuch von ihrem Mund. Angewidert und gleichzeitig begierig nach Luft schnappend, spuckte Eve einen durchgekauten Socken hinterher. Wenigstens war es ihr eigener gewesen, mit dem Dennis sie am Schreien gehindert hatte.
»Das ist alles ein riesiges Missverständnis«, beteuerte sie keuchend ihre Unschuld, während sie krampfhaft nach einer plausiblen Ausrede suchte. Ihr war keineswegs entgangen, dass er nicht ›Ich war das nicht‹ gesagt hatte.
Der Mann ließ sich erschöpft auf die Fersen sinken. Sein kantiges Gesicht mit den tiefliegenden Augen und dem dunklen, schmal ausrasierten Bart verlieh ihm eine düstere Aura. Dennoch wirkte er eher mitgenommen als bedrohlich auf Eve. Ein winziger Hoffnungsfunke glomm in ihrer Brust auf. Vielleicht war doch nicht alles verloren. Vielleicht hatte er Mitleid mit ihr. Vielleicht hatte Gott sie erhört und sie würde tatsächlich lebend aus diesem Motel des Grauens rauskommen.
Vielleicht war es auch ein vielleicht zuviel.
Doch bei seinen nächsten Worten blieb ihr vor Erstaunen der Mund offen stehen.
»Ach ja? Dann erzähl mal. Ich habe nämlich nicht den blassesten Schimmer, was hier eigentlich abgeht. Also, WER bist du, WER bin ich und WO zum Geier sind wir hier?«
»Willst du mich verarschen?« Eve traute ihren Ohren nicht. Wie konnte der Kerl so ahnungslos sein? Allerdings schien er ziemlich ausgeknockt. Angesichts der Wucht, mit der Dennis ihm die Dose über den Schädel gezogen hatte, war es fast ein Wunder, dass er noch aufrecht gehen konnte. Nur, wer war dann der Tote nebenan?
»Sehe ich aus, als kriege ich gleich einen Lachkrampf?«, knurrte Mr. Sixpack sie mit schmalen Augen an.
Ein Geistesblitz brachte Eve auf eine verwegene Idee. Wenn dies die Chance war, die Gott ihr anbot, würde sie sie verdammt nochmal nutzen.
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