13
»Puh, Leute, was bin ich geschafft! Heute nahm es aber auch gar kein Ende. Tut mir leid, dass es so spät geworden ist.« U führte sie in den Anbau des Diners, in dem sich eine geräumige Maisonette-Wohnung befand. Die Einrichtung war stilvoll, mit wenigen, ausgesuchten Möbelstücken, die sicher aus einem Laden stammten, indem es keine Preisschilder gab. Ein farbenfroher, orientalischer Teppich grenzte den Sitzbereich ab, der von einem wuchtigen Sofa aus weißem Leder dominiert wurde. Auch die offene Küchenzeile war in strahlendem Weiß und durch einen penibel aufgeräumten Arbeitstresen vom Wohnraum abgetrennt. Chris war angenehm überrascht. Er hatte eher mit tonnenweise Kitsch und Dekokram gerechnet.
»Oben ist ein kleines Gästezimmer mit Bad, da könnt ihr euch erst mal verkriechen und frisch machen oder eine Runde schwitzen oder was immer ihr wollt.«
»Danke U. Wir wollen dich nicht unnötig belästigen. Wir brauchen bloß eine Info. Kennst du jemanden, der uns neue Papiere beschaffen kann?« Verlegen blieb Eve mitten im Raum stehen. U nahm sich eine Flasche Weißwein aus einem Eiskühler und griff nach einem edlen Kristallglas.
»Schätzchen, ihr braucht beide eine Dusche und Zeit zum Durchatmen. In der Stadt ist die Hölle los! Schaut euch ruhig die Nachrichten an. Unsere ehrenwerten Freunde und Helfer veranstalten den ganzen Tag schon eine gewaltige Show. Zuerst dachte ich, die drehen einen Film. Aber ich habe weder Gerard Butler noch George Clooney entdecken können.«
»Haben die erwähnt, warum der ganze Aufwand betrieben wird?«, fragte Chris beiläufig. U faltete sich stöhnend in einen hellen Korbsessel mit hoher Lehne. »Ein vernichtender Schlag gegen das organisierte Verbrechen bla, bla, bla. Dabei wissen wir doch alle – ziehen sie ein Syndikat aus dem Verkehr, übernimmt der nächste Clan die Geschäfte.« U schwenkte den Wein langsam im Glas und genoß das sich entfaltende Aroma. »Muss ich damit rechnen, eure hübschen Gesichter im TV zu sehen?«
Eve druckste kleinlaut herum. »Nein, eher nicht. Wir sind da nur irgendwie in was reingerutscht.«
»Lass mich raten. Es war ein Unfall?«
»Mhm. Aber wenn es dir nicht zuviel ist – ein Umstyling könnte sicher nicht schaden.« Eve blinzelte entschuldigend zu Chris. Diesem schwante nichts Gutes. Ein alarmierter Ausdruck huschte über sein hartes Gesicht. U hingegen war sofort Feuer und Flamme, der lange Körper sprang mit neuer Energie aus dem Sessel.
»Das ist die beste Idee des Tages! Los, rauf mit euch. Wir sehen uns in zehn Minuten in meinem Studio!«
* * *
»Was, zum Teufel, soll das werden?«, beschwerte sich Chris, nachdem er ebenfalls frisch geduscht aus dem winzigen Bad stürmte. Den diabolischen schmalen Kinnbart hatte er sich bereits freiwillig abrasiert. Allerdings minderte es nicht im Geringsten seine gefährliche Ausstrahlung. Noch dazu, da er sich nur mit einem Handtuch um die schmalen Hüften vor Eve aufbaute.
»Ich steige nicht in irgend so einen Fummel! Wozu soll das gut sein? Die Mafia hat jetzt genug andere Sorgen.«
Eve ließ ihn meckern. »Du hast nicht mal Wechselsachen dabei.«
»Na und? Kann man doch schnell durchwaschen. Bei der Hitze ist die Wäsche im Nu trocken.«
»Du erwartest jetzt nicht, dass ich mich hinstelle und deine Hemden bügele?«, entgegnete Eve entrüstet.
»Es ist nur ein Hemd!«
»Vergiss es.« Eve warf ihm einen flauschigen Bademantel zu. »Zier dich nicht so. U ist ein richtiger Verwandlungskünstler und hat wirklich Ahnung von sowas.«
»Genau das befürchte ich ja«, maulte Chris.
Voller Unbehagen folgte er Eve nach unten. U hatte sich umgezogen und erwartete sie in einem zart fliederfarbenen Hausanzug mit passendem Stirnband. Mit einer einladenden Handbewegung bedeutete U ihnen, einzutreten.
Chris betrat hinter Eve das "Studio". Unter ihren Füßen knarzte glänzender Parkettboden. »Heilige ... Scheiße.«
»Vielen herzlichen Dank.« U breitete die Arme aus. »Willkommen in meinem Heiligtum.«
Der Raum erstreckte sich über das komplette Untergeschoß, die riesige Fläche lediglich von zwei Betonpfeilern unterbrochen. Anstelle von Fenstern befanden sich deckenhohe Spiegel an den Wänden. Mindestens die Hälfte der Grundfläche wurde von Kleiderstangen eingenommen, die vor Blusen, Hemden, Hosen und Jacken aller Art nur so überquollen. Zwischen den Spiegeln reihten sich offene Wandschränke mit Pumps, Stiefeln, Stilettos, Sandalen, Sneakern und einem extra Regalbrett plüschiger Pantoffeln. Von einem drehbaren Ständer baumelten Birkin Bags, Prada-Handtaschen und trendige City Rucksäcke, auf der oberen Plexiglasablage stapelten sich Clutches in allen erdenklichen Farben. Ein weiterer, dreigeteilter mannshoher Spiegel stand in der Mitte des Raumes auf einem weißen, täuschend echt wirkenden Kunstfell. Die Seiten waren aufgeklappt, so dass sich der Betrachter bequem von allen Seiten sehen konnte.
U steuerte zielgerichtet eine Frisierkommode am Rand dieser privaten Luxus-Boutique an. »Bitte Platz nehmen. Die Haare sind noch feucht, da lassen sie sich am besten schneiden.«
Verwundert betrachtete Chris den bereits raspelkurzen Haarschnitt von Eve. »Noch kürzer? Willst du zum Skinhead mutieren?« Die Blicke der beiden anderen klärten ihn schnell über seinen Irrtum auf. »Nein. Oh nein. Kommt überhaupt nicht in Frage! Was habt ihr gegen meine Haare?«
»Viel zu lang. Ein Man Bun ist was für Hipster. Aus dir machen wir einen Filmstar.« U lockerte die Finger, Eve hielt ein Tablet mit Scheren und Kurzhaartrimmer.
»Aber ich bin verletzt!«, wagte Chris einen letzten Einwand, der kein Gehör fand. Widerwillig nahm er auf dem Drehstuhl Platz.
»Ja, von deinem Unfall. Ich bin ganz vorsichtig«, versprach U und legte los. Das Ergebnis war kurz darauf weit weniger schlimm, als erwartet, auch wenn sich auf dem Boden erschreckend viele seiner schwarzen Locken ringelten. Chris betrachtete vorsichtig sein neues Ich. Seiten und Nacken waren kurz rasiert, das Deckhaar jedoch hatte U lang gelassen und nur in Form geschnitten. Dunkle Strähnen fielen Chris in die Stirn. Die Frisur gefiel ihm ganz gut, auch wenn er es sicher nicht zugeben würde. Er warf einen Blick zu Eve, die anerkennend die Daumen nach oben reckte.
»Hervorragend«, lobte U sich selbst und putzte Chris ein paar letzte Haare von den Schultern. »Und jetzt machen wir euch ausgehfertig!«
Diesmal kam Eve zuerst an die Reihe. Während Chris die Ständer mit den Armani-Hemden begutachtete, kicherte und pfiff es in einer Tour hinter den Regalen. Um sich abzulenken, studierte er die Bilder, mit denen die beiden Deckenpfeiler bestückt waren. Es handelte sich um Modelfotos und Aufnahmen von einer Bühne. Bei genauem Hinsehen erkannte er U in unglaublich unterschiedlichen Aufmachungen. Das Repertoire erstreckte sich von Werbefotos für Herrenparfüm bis Dragqueen in einer Vegas-Show.
Schließlich tauchten die zwei aus den Tiefen des Kleiderstangenlabyrinths wieder auf. U präsentierte ihm eine völlig Fremde. Eve trug eine schwarze Langhaarperücke mit türkisblauen Strähnen, die unglaublich gut zu ihren Augen passten. Ihre langen Beine steckten in schwarzen Lederleggins mit seitlichen Schnürungen und kniehohen Plateaustiefeln. Ein ebenfalls schwarzes, bauchfreies Lederbustier und eine kurze schwarze Lederjacke mit silbernem Adler auf dem Rücken vervollständigten das Outfit. Dazu trug sie lange silberne Ohrhänger mit kleinen Türkisen und passende Armreifen, sowie mehrere Halsketten mit großen Kreuzen und Pentagrammanhängern.
Mit wiegendem Schritt kam Eve näher und vollführte ein kleines Tänzchen. Aus mit fettem schwarzen Kajal geschminkten Augen warf sie ihm verführerische Blicke zu und leckte sich über ebenso dunkel bemalte Lippen.
Chris hob skeptisch eine Augenbraue. »Es sieht nuttig aus«, war sein lapidarer Kommentar. Enttäuscht drehte sich Eve zu U um.
»Macht nichts. Nachts gehören Nutten in Vegas zum Stadtbild. Willst du den Zuhälter oder lieber den trotteligen Freier abgeben?« U musterte die Statur von Chris bereits mit abschätzendem Kennerblick und winkte ihn zur Seite. »Die Abteilung da kannst du vergessen. Wir wollen doch eine Stilveränderung.«
Mit einem traurigen Blick verabschiedete sich Chris vom Ständer mit den Designerhemden. »Hast du nicht was von Filmstar gesagt? Übrigens die farbliche Auswahl kann ruhig passend zu Eve sein. Ich trage alles, solange es eine Schattierung von Schwarz ist.«
Bei dem vorfreudigen Lächeln, welches über U's breites Gesicht schlich, fragte sich Chris besorgt, auf was er sich hier einließ. U führte ihn zu ausziehbaren schmalen Einbauschränken. In den Regalböden stapelten sich Marken-Jeans in Originalverpackungen. Chris kam aus dem Staunen nicht heraus. Selbst wenn sämtliche Sachen in diesem Studio nur Plagiate waren, lagerten hier Millionenwerte. U's Geschäftsideen waren wohl so vielfältig wie seine Persönlichkeit und beschränkten sich keineswegs nur auf das Diner.
Die ganze Anprobierprozedur benötigte nur einen Bruchteil der Zeit, die Eve mit U verträllert hatte. Das Ergebnis war ein Under Armour Shirt in changierenden grau-schwarz Tönen, das wie eine zweite Haut anlag, ohne Chris einzuengen. Dazu bekam er von U eine tiefsitzende – natürlich schwarze – Jeans mit quer verlaufenden Ziernähten und aufgesetzten Cargotaschen verpasst. Derbe Schnürstiefel und eine auf alt getrimmte Lederjacke rundeten das Ganze ab. Jeglichem Versuch, ihm Schmuck anzulegen, verweigerte sich Chris vehement. Dafür stülpte er sich, zum Leidwesen von U, noch eine Basecap mit Ghost-Logo auf den neuen Haarschnitt.
»Damit zerstörst du meine mühevolle Arbeit!«, jammerte U.
Chris betrachtete sich in einem der Spiegel. »Okay, ich setze sie ab. Aber nur, wenn du eine von Skillet hast! Nein? Auch gut.« Er zog sich das Schild der Cape tief in die Stirn und musste anerkennen, dass diese wenigen Veränderungen ein ganz anderes Bild von ihm bewirkten.
U scheuchte ihn zu Eve und umkreiste sie beide mit kritischem Blick. »Na ja. Für die Adresse, die ich für euch habe, passt es durchaus. Versucht es im Nightmare. Der Typ, an den ihr euch wenden müsst, nennt sich Ace und jobt da als DJ. Aber billig wird der Spaß sicher nicht.«
»Danke U! Können wir unsere Sachen hierlassen, bis wir zurück sind?«, fragte Eve.
»Natürlich, Schätzchen! Dann kann ich wenigstens davon ausgehen, dass ihr zurückkommt und mir alles bis ins kleinste Detail berichtet! Ich würde euch ja zu gern begleiten, aber seit ich diesen Laden hier führe, muss die Nacht auf mich verzichten.« Mit einem theatralischen Seufzer unterdrückte U ein Gähnen.
Eve lachte fröhlich. »Du liebst dein Diner! Backen ist deine große Leidenschaft und deine Süßspeisen sind einfach himmlisch. So glücklich, wie hier, habe ich dich lange nicht gesehen.«
»Stimmt. Und dank dir hatte ich den Mut, meinen Traum zu verwirklichen.« U tätschelte Eve liebevoll und drückte ihr ein Küsschen auf die Stirn. Der ungezwungene Umgang der beiden versetzte Chris einen kleinen, neidvollen Stich. Hatte er auch einen so guten Freund? Was waren seine Träume? Und wer würde ihn so vorbehaltlos unterstützen?
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