10
Der Zustand der Lederbezüge schwankte zwischen undefinierbar speckig und ausgeblichen bröselig. Im Wagen gab es keine Klimaanlage. Dafür ätzte einem der durchdringende Geruch nach Räucherstäbchen die Nasenschleimhäute weg und aus dem Radio quäkte indische Folkloremusik.
Es war das schönste Taxi, welches Chris sich vorstellen konnte. Der Adrenalinschub ihrer Flucht ebbte ab und erschöpft ließ er sich in den Sitz sinken.
»Diamond Diner!«, schrie Eve neben ihm bereits zum dritten Mal den Taxifahrer an. In Zeitlupe drehte sich ein blauer Turban zu ihnen um. Freundliche braune Augen blinzelten aus tausendundeiner Falte.
»Kein Problem. Ranjid kennt genau!«
Chris hatte auf Anhieb vollstes Vertrauen zu ihm. Der Mann machte den Eindruck, schon bei der Besiedlung des Clark County dabei gewesen zu sein. Bezüglich Eve sah die Sache mit dem Vertrauen etwas anders aus.
»Weihst du mich in deine Pläne ein?«, fragte er sie ganz lapidar.
Eve zupfte an ihrem Kleidchen herum. »Ich hatte heute noch kein Frühstück und dort gibt es die besten Pancakes der Stadt.« Nach einem ausgedehnten Moment des Schweigens lehnte sie sich seufzend zurück. »Wir brauchen dringend neue Papiere. Mir ist jemand eingefallen, der uns weiterhelfen könnte. Oder weißt du wieder, wo du unsere versteckt hast?«
»Nein.« Unbehaglich rutschte Chris auf dem Sitz herum. »Ich komme mir vor, als laufe ich durch ein riesengroßes Labyrinth aus Zerrspiegeln. Alles ist zum Greifen nah und ich kann doch nichts erkennen.« Ruckartig beugte er sich nach vorn. »Hey, Ranjid! Kannst du uns auch bis LA fahren?«
Eve setzte sich verblüfft kerzengerade auf. »Was ist mit – Ich brauche mehr Anhaltspunkte?« Ihre Finger malten kleine Anführungszeichen in die Luft.
Chris winkte ab. »Was hat uns das heute gebracht?«
»Muss ich erst tanken.« Der Taxifahrer wackelte heftig mit seinem Turbankopf. Beunruhigt blickte Chris auf den dünnen Hals, der aus einer buntbestickten Tunika herausragte. »Auto schon alt. Fahrt lang. Kann dauern heute. Überall Chaos wegen Riesenrazzia! Interstate, Freeway, alles dicht.«
Chris und Eve blickten sich in stummem Einverständnis an. »Wir fahren zum Diner.« Er griff nach ihrer Hand und drückte sie leicht. Ihr Zittern war ihm nicht entgangen. »Du machst mir gar keine Vorwürfe?«, fragte er leise. Ihre Finger verflochten sich wie selbstverständlich.
»Wozu sollte das gut sein? Wir können es nicht ändern«, antwortete Eve müde. Chris nahm sie tröstend in den Arm. So teilnahmslos gefiel sie ihm gar nicht. »Das war unglaublich mutig von dir. Du hast bei diesen Latinos echt die Nerven behalten. Ich war kurz davor, dem Rotzlöffel das Hirn wegzupusten. Das gibt mir gerade ganz schön zu denken.«
»Ach, ich weiß nicht«, murmelte Eve und kuschelte sich an seine Schulter. »Es hätte auch anders ausgehen können. Dann wäre es nicht mutig, sondern dumm gewesen. Und Nerven habe ich auch keine mehr. Mit sechzehn bin ich von zu Hause abgehauen, um mal was Aufregendes zu erleben. Jetzt wäre ich gerne zurück in diesem sterbenslangweiligen, friedlichen Kaff. Ich will mich nicht mehr ständig fürchten müssen.«
»Und dann komme ich noch mit dem blöden Spruch vorhin.« Chris streichelte sanft mit dem Daumen über ihr Handgelenk. »Ich wollte dir keine Angst machen.«
Eve bog den Kopf zurück und hob zweifelnd die Augenbrauen.
»Na ja, gut. Ich wollte dich schon erschrecken«, lenkte Chris ein. »Aber es war nicht ernst gemeint. Ich war nur so kurz davor ... « Zerknirscht ließ er die Schultern hängen. Sein Bedauern war ehrlich. »Damit hab ich's wieder verbockt, oder?«
»Du hast eine Menge wiedergutzumachen, Chris Callahan!« Eves Stimme klang niedergeschlagen und ihre Hand lag fest auf seiner Brust. Doch sie stieß ihn nicht fort. »Konntest du dich denn an etwas erinnern?«
»Nur an so ein diffuses Gefühl von Schmerz und Gefahr«, brummte Chris. »Aber das begleitet mich, seit ich aufgewacht bin.« Außer wenn ich mich auf dich konzentriere, dachte er still. Ihre faszinierenden Augen leuchteten in mystischem Türkis. Eve war ihm ganz nah. Er musste unbedingt noch eine Theorie überprüfen.
Seine Lippen streiften über ihre Schläfe, tupften kleine Küsse zu ihrer Wange hinunter. Eve erbebte. Er zog sie zu sich auf den Schoß und sein Körper reagierte prompt.
»Wo kommst du eigentlich her?«, fragte Chris und ließ seine Hände über ihren Rücken und seinen Mund über ihr Gesicht abwärts wandern.
»Aurora«, flüsterte Eve. »Kennt kein Schwein. Ein verschlafenes Nest an der Küste von Maine.«
»Aurora. Das passt zu dir«, raunte Chris an ihren süßen Lippen und registrierte zufrieden ihre beschleunigte Atmung. »Wunderschön wie die Morgenröte und geheimnisvoll wie das Polarlicht.« Ebenso bezaubernd war die Färbung, die ihr Gesicht annahm. Er vermerkte sich in Gedanken, ihr öfter Komplimente zu machen. Ihr entzückender Po schmiegte sich perfekt in seine Handflächen. Er konnte nicht widerstehen und schob sie noch näher an sich heran. Eve keuchte auf, als ihre intimste Körperstelle auf seinen männlichsten Teil traf. Der Zustand seiner Erregung verstärkte das Glühen ihrer Wangen.
»Warte, warte, was soll das werden?« Eve versuchte, auf Abstand zu gehen.
»Ich bin dabei, mich zu entschuldigen«, raunte Chris und zog ihre Unterlippe zwischen seine Zähne. Sein Atem ging schwer und er hatte immer weniger Lust, zu reden.
Erneut unterbrach Eve den Kuss. »Ich bin dir nicht böse.«
»Wegen meiner Sturheit haben wir kein Auto mehr.«
»Wir besorgen uns ein neues.« Ihre Hände fuhren vorsichtig durch sein Haar und sie versuchte, von seinem Schoß zu rutschen.
Chris konnte ein Stöhnen nicht zurückhalten. »Wir mussten Elvis zurücklassen.«
Jetzt fing Eve tatsächlich an zu kichern. »Okay, das ist wirklich unverzeihlich!«
Freudig beobachtete er, wie ihre sprudelnde Energie zurückkehrte. Diesmal erwiderte sie seinen Kuss innig. Welcher im Übrigen absolut einmalig war. Ihre Zungen neckten einander, ihre Münder verschmolzen. Chris war gefesselt von Eves Ausstrahlung. Sie war prickelnd wie Champagner, lieblich wie ein fruchtiger Lambrusco und gleichzeitig stark und wärmend wie ein guter Bourbon. Berauscht schossen ihm allerlei Gedanken durch den Kopf, die ihn von seinem Gedächtnisverlust ablenkten. So, wie sie auf seinen Schenkeln saß, war es goldrichtig. Störend waren nur ihre Klamotten.
Und seine.
Und das Taxi.
Oder zumindest der Fahrer.
»Hier ist Diner! Wir blitzschnell da sein!«, meldete sich dieser im unpassendsten Moment. Eve hüpfte beschämt auf ihren Sitz zurück und hinterließ eine Lücke aus kalter Einsamkeit. Das Taxi rumpelte über einen Bordstein und hielt auf dem Parkplatz des Restaurantes. Enttäuscht starrte Chris den Inder an. Vermutlich hatten sie den einzigen Taxifahrer der Stadt erwischt, der keinen extra Umweg fuhr. Eve kramte in ihrer Tasche und drückte dem strahlenden Mann ein reichliches Trinkgeld in die runzligen Hände. Mehr als flink sprang sie aus dem Wagen.
»Komm schon, Chris. Ich muss dir jemanden vorstellen!«
Er war schon dabei auszusteigen und mehr als neugierig. Auch wenn die Fahrt viel zu kurz gewesen war, so hatte sie ihm doch zwei überraschende Erkenntnisse gebracht. Zum einen gab es doch tatsächlich ehrliche Menschen auf diesem Planeten und zum zweiten – seine "Ehefrau" gehörte nicht dazu. Denn trotz des grinsenden Nichts in seiner Erinnerung, in dem Punkt war er sich vollkommen sicher.
Diese Frau hatte er noch nie im Leben geküsst.
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