4. Erstens
"Es ist wahr, dass man die Schuluniform an der Kunugigaoka frei kombinieren kann, aber wenn sie dabei wenigstens eine gute Wahl treffen würden, sähe der erste Eindruck schon gleich ganz anders aus."
"Sprich nicht so, als wüsstest du total, wie man sich anzuziehen hat, Tarou."
"Kleider machen Leute, erste Regel, um seinen Rang, den man in der Gesellschaft vertreten will, klarzustellen."
"Nicht dein Ernst."
"Mein vollster Ernst. Und du weißt das doch sicher auch zu handhaben?"
"Bitte? Ich hab meine Schuluniform, die reicht doch als 'schickes Kleidungsstück', wie du gerne sagst."
"Es geht nicht nur um schicke Kleidung, sondern um die passende Bekleidung zu jeglichen Anlässen. Es lohnt sich, darüber nachzudenken, was man anzieht. Schließlich ist das der erste Weg, um mit einem anderen Menschen zu kommunizieren - das Aussehen. Du kannst es so lange leugnen wie du willst, aber deine Schuhe letztens im Café waren stylisch zu deinem roten Karo Hemd angepasst."
"W-was redest du da?! Warum sollte ich mir über meine Schuhe Gedanken machen..."
"Dafür gibt es verschiedene Gründe. Entweder, du willst mit deinem Geschmack prahlen, willst dich gut fühlen oder du willst irgendwen beeindrucken. Diese Keiriki etwa? Stehst du auf sie?"
"Bist du bescheuert...?"
Ich grinste nur kindlich und schlürfte an meinem Apfelsaft Tetrapack. Wenn er auf sie steht, wäre das eine total süße Kindheitsromanze! Was, wenn sie auch in ihn verschossen ist...? Vielleicht sollte ich einen auf Cupido machen und sie irgendwann verkuppeln. Sie stehen sich jetzt schließlich schon nah, also warum nicht noch näher? Eine Sandkastenliebe, wie sie im Buche steht. Challenge accepted. Und es wird klappen. Ich zeig's dir, Unfähigkeit.
"Aber zurück zum eigentlichen Thema", wich er wieder aus, um sich nicht rechtfertigen zu müssen. Dieser Feigling. "Die E-Klasse scheint dich ja ganz schön zu beschäftigen. Liegt das in der Familie oder wie?"
Mein Blick schweifte aus dem Fenster, an welchem ich mich anlehnte, da dieses neben dem Tisch von Kanie war. Welch ein Zufall, dass genau jetzt einige E-Klässler zu sehen waren, die halb tot draußen auf dem Boden lagen.
Mittagspause. Die Zeit, in der die E-Klässler den Berg runtersteigen müssen, um an der monatlichen Schulversammlung teilzunehmen. Nicht nur, dass ihre Mittagspause dafür draufgeht, sie müssen auch bereits aufgestellt sein, bevor die anderen Klassen eintreten, während diese ihre Pause genießen.
"Kann sein", gab ich nur zurück und beobachtete die Schüler durch die Glasscheibe. Überraschend, wie schnell sie wieder zu Kräften kamen und obendrauf miteinander lachten. Allein der Anblick ihrer Stimmung übertrumpfte jedes Gelächter meiner Klassenkameraden, deren Augenmerk in diesem Moment ebenfalls die E-Klässler waren. "Dafür, dass sie die unterste Schicht dieser Schule bilden, lachen sie ganz schön viel."
Der braunhaarige Junge blickte kurz zu mir rauf, ehe er seufzend seine leere Bento Box schloss. "Irritierend, nicht?"
Und ob. Wie konnte es möglich sein, dass sie in dieser Schule Spaß genossen? Sie sind schließlich keine Auserwählten. Jeden Tag den Berg rauf und wieder runter. An Tagen der Versammlung sogar zweimal. Sie schaffen es nicht einmal, mit den Noten der mittleren Schicht, der B bis D Klassen mitzuhalten und können es sich dann auch noch leisten, auf unserem Schulgelände zu lächeln?
Kanie stand auf, um auch nach unten sehen zu können, ehe er sprach: "Ich verstehe nicht, wie die so gut gelaunt sein können. Ich meine, ist ja schön, dass sie die dreckige Umgebung dort oben überleben, aber was bringt ihnen der Spaß, wenn sie nicht mal gute Noten reinbringen?"
'Gute Noten bringen dir kein Leben'. Eine Art Motto meiner Familie. Zumindest der in meiner persönlichen Umgebung, damals in Nara. Es heißt, allein die Intelligenz, die physischen Kapabilitäten und die Anwendung beider Dinge vereint seien keine Faktoren, um sich ein Leben der ehrlichen Freude zu verdienen. Es reichen Fragmente, greife nicht zur Radikalität, intensiviere stattdessen einen Bereich, auch wenn ein anderer dadurch in Vernachlässigung gerät. Solange dein Ziel nicht abweicht, sind jegliche Ringe drumherum irrelevant.
Was für'n Schwachsinn.
"Findest du das nicht seltsam?", stieß ich an und schlürfte ein weiteres Mal aus meinem Saft Päckchen, während der Junge abwartend zu mir sah. "Wenn sie jeden Tag den Berg hochsteigen, ist es klar, dass sie sich einen gewissen Grad an Kondition aufbauen, aber... ging das nicht ein bisschen zu schnell?"
Er verstand sofort, worauf ich anspielte. Der Sportplatz beim alten Schulhaus soll von Unkraut überhäuft sein. Ohne einen geeigneten Ort lässt sich unter normalen Umständen kein Sport machen. Ich habe vor allem auch gehört, dass es da oben zu zahlreichen kleinen Unfällen kommen kann, weshalb es noch länger dauern würde. Und trotzdem kamen sie mehr als nur rechtzeitig hier unten an und erreichten in Nullkommanichts einen regulären Puls. "Vielleicht haben die da oben ja ein super Spezial Training, da sie eh nicht denken können", riet er schulterzuckend, woraufhin er nur einen Schlag gegen die Schulter kassierte. "Auaa! Ist doch wahr!" Er grinste bloß gefällig und hielt sich die Schulter, die eben meine Faust abbekommen hatte.
Ein Spezial Training? Wenn es sich um eine Angelegenheit handelt, die geheim gehalten werden muss, ist die Ortschaft dort oben wohl mehr als nur perfekt dafür geeignet. Wer weiß, vielleicht hatten sie sich einen ordentlicheren Sportplatz angeeignet. Abgesehen von den Schülern und Lehrern würde kein anderer dort hoch gehen. Aber warum die E-Klasse? Welcher Mensch würde der E-Klasse ein so wichtiges Geheimnis anvertrauen? Es müsste ein Problem höchsten Grades sein, dass bloße Schüler dabei involviert sein sollen. Die Vorstellung davon ist so oder so unglaubwürdig.
Andererseits...
Als ich Asano auf die E ansprach, meinte er Folgendes: Sie bergen ein Geheimnis. Ein Geheimnis, von dem der Direktor, sein Vater, Bescheid weiß. Es heißt, in der Stadt sei mehrfach ein seltsames Wesen aufgetaucht. Ob dies aber nichts weiter als Gerüchte sind, weiß er nicht. Fakt ist, dass jene Gerüchte mit dem Verschwinden der vorherigen Klassleitung der E angefangen haben. Zudem scheinen regelmäßig irgendwelche Geschäftsleute in die Schule zu kommen, um den Direx zu sprechen. Ob die Vermutung, die E-Klasse berge irgendein Staatsgeheimnis, nun der Wahrheit entsprach oder nicht, die Menge an Aufmerksamkeit, die der Direx der E schenkte, schien größer denn je.
Der Braunhaarige neben mir schnipste gegen mein Ohr, weshalb ich etwas zusammenzuckte und mir sofort mit einer Hand das Ohr hielt. "Was sollte das?!"
"Ernsthaft, du denkst zu viel", stöhnte er jedoch nur genervt auf. "Ich werd' dir zuhören, also R-E-D-E mit mir!"
Seine Sprechweise harmonierte mit seinem Gesichtsausdruck. Zu den zusammengezogenen Augenbrauen und den nach unten gerichteten Mundwinkeln die schwankende Tonhöhe mit hyperbelähnlichen Betonungen.
"Sorry...", murmelte ich etwas perplex auf die plötzliche Nähe, die er auf mir ausübte. "...Trotzdem kein Grund, mich zu schlagen!"
"Übertreib mal nicht, das war nur ein Schnipser."
"Es hat wehgetan."
"Heul nicht rum."
"...Es tut immer noch weh."
"Ist ja gut, tut mir leid!", gab er dann nach und entschuldigte sich augenverdrehend. "Ist auch egal, wenn du weiter die E stalken willst, die Versammlung fängt zwar erst in zwanzig Minuten an, aber wir können sie gerne beim Aufstellen beobachten."
Da sag ich nicht Nein.
Die Schüler der E kamen zeitversetzt in die Halle, lachend, überanstrengt, gelangweilt, genervt. Einzelne sahen bedrückt zu uns und anderen Schülern des Hauptgebäudes, die sich über sie lustig machten. Sie unterhielten sich untereinander oder blieben einfach stumm da stehen, bis die restlichen Schüler kämen und die Versammlung anfangen würde. Allerdings waren erst einige der unteren Jahrgänge überhaupt anwesend und das auch nur, um über die E herzuziehen. Die Versammlung sollte erst in fünfzehn Minuten beginnen.
"Ist er nicht da...?", murmelte ich.
"Hm? Wer denn?", hakte Kanie, der neben mir an der Wand gelehnt stand, verwirrt nach.
Unbewusst dessen, dass ich das laut gesagt hatte, fiel mir auf, dass ich die E scheinbar ein wenig beobachtet hatte. Die E bestand aus 25 Schülern, ohne den rothaarigen Akabane. Dabei sollte er nach dem Alphabet sortiert ganz vorne stehen. Doch auch in den Reihen dahinter war er nicht aufzufinden. War er krank oder was?
"Akabane ist nicht da", erklärte ich ihm zum Verständnis.
"Der? Hm... Hast recht. Er schwänzt wahrscheinlich wieder, hat er zu seiner Zeit im Hauptgebäude auch oft gemacht. Warum denkst du über so was nach?", sprach er zum Ende hin verwirrt.
Ich sah in seine Augen und musterte seinen irritierten Blick, woraufhin ich wieder durch die Halle sah. "Woher soll ich das wissen?" Der Grund war mir unbekannt. Wenn etwas besonders hervorsticht, fällt es doch auf, wenn es fehlt, oder? Andererseits gibt es auch Situationen, in denen es auffällt, wenn es fehlt, aber nicht wahrgenommen wird, wenn es da ist. Welch traurige Präsenz.
Kanies Augenbrauen wackelten, während er mir leicht mit dem Ellenbogen gegen die Seite tippte und meinte: "Stehst du etwa auf ihn?"
Wenn man meinen Blick sehen könnte, oh ja, das war das wahrscheinlich irritierteste Pokerface, das ich jemals aufgesetzt hatte - nein, aufsetzen konnte. Okay, wenn man meine Irritierung wahrnehmen konnte, konnte es kein Pokerface mehr sein. Aber egal, das tat nichts zur Sache. Es war ein irritiertes Pokerface. Wer das hinkriegt, muss so richtig irritiert sein, so wie ich gerade. Nun, stellt euch vor, wie ich das ganze Irritierende denke, während ich das irritierte Pokerface aufgesetzt habe. Etwas kontrapunktierend, aber irgendwie trotzdem vorstellbar, oder? Hinsichtlich dieser Gedankengänge, welche an mir unbekannte, wohl gar nicht existente Leute gerichtet sind, stellt sich mir eine Frage: Kommt meine Irritierung durch? Das hoffe ich doch.
"Bist du bescheuert...?"
"Kranke Aktion!"
"Nur weil sie etwas attraktivere Lehrer haben!"
"Sie haben das gesamte Prozedere durcheinander gebracht und waren wieder einmal nichts weiter als Störfaktoren."
"Warum sind sie überhaupt noch auf der Schule? Aus ihrer Zukunft wird doch sowieso nichts."
"Die nerven total!"
"E-Klässler!"
"Beherrschen keine Manieren, die E-Klässler!"
"Abfall Klasse!"
"Wann endet euer elendes Leben denn endlich, E-Klässler?"
Als die Versammlung anfing, lief alles wie erwartet ab. Der Schülerrat beginnt, die Schüler hören zu, bekommen relevante Informationen zu Klassenfahrten und anderen Veranstaltungen und machen die E-Klasse an.
An meiner vorherigen Schule existierte das 'Ameisen-System mit 95% Hart Arbeitenden und 5% Nicht-Arbeitern' nicht. Es war... Man kann es eine normale Schule nennen. Normales System, normale Lehrer, normale Schüler. Dass eine Klasse so beleidigt und runtergemacht wird, würde man nur hier erfahren. Wenn sie an einer Schule solchen Niveaus aber auch keine entsprechende Leistung zeigten, war das kaum verwunderlich und unabsehbar. Und dennoch waren sie es, die als Erstes damit anfingen, ihr Schulleben zu genießen.
"Ich versteh das immer noch nicht, wie kann es sein, dass die E so 'ne heiße Lehrerin hat?", sah Kanie irritiert zu den Schülern, die sich mit der blonden Schönheit, welche sich während der Versammlung als Lehrerin der E-Klasse entpuppt hatte, unterhielten. "Ich mein, sieh dir unsere Lehrerinnen an, die sind ja sowieso nie besonders attraktiv gewesen, aber neben dieser Frau sehen die aus wie Trolle! Nehmen wir zum Beispiel Nezuki-sensei, unsere Musik Lehrerin. Unter den Jungs wird sie als gutaussehendste Lehrerin der Schule bezeichnet, was bei der Auswahl nicht sehr verwunderlich ist. Aber dann die! Ich mein... Wow!" Seine Blicke folgten regelrecht jeder einzelnen Bewegung dieser Frau und der Neid gegenüber den E-Klässlern, der ihn überkam, war kaum zu übersehen.
"Gib's schon zu, Lügner, in Wahrheit könntest du Jury in einem Schönheitswettbewerb sein", schlug ich ihm gegen die Schulter, nachdem ich mir beim Getränkeautomaten ein Apfelsaft Päckchen geholt hatte. Ich musste wirklich zugeben, diese Frau war mehr als nur atemberaubend. Ihr Auftreten hatte Stil und Klasse und hat sofort jedermanns Aufmerksamkeit erhalten. Ihr Kleidungsstil wirkte für eine Lehrerin zwar etwas zu freizügig, aber sie weiß definitiv mit ihrem Körper umzugehen.
"Sind wir jetzt etwa schon wieder beim Thema Kleidungsstil?", verdrehte er nur die Augen und steckte seine Hände in die Hosentaschen. "Wenn wir von Kleidungsstil reden wollen, dann find' ich die Klamotten von diesem komischen Lehrer der E total seltsam."
Und er lenkte schon wieder von sich ab.
"Der, der sich immer so komisch bewegt hat und ihnen allen plötzlich die Zettel ausgehändigt hat?", hakte ich nach, während ich den Strohhalm reinstach und mich an den Zaun, der das Schulgelände vom Wald trennte, lehnte. Während ich die süße Flüssigkeit zu mir nahm, sah ich zu dem seltsamen Lehrer der E. Er war sehr groß und sein Gesicht sah irgendwie... rund aus. Neben seinen sich ständig komisch bewegenden Armen und mächtig großen Beinen trug er ein seltsames schwarzes Gewandt mit einer Krawatte, auf der ein Sichelmond war. Seine Stimme klang irgendwie hoch und etwas schrill... Von der Stelle, an der ich stehen musste, konnte ich ihn jedenfalls nicht so gut hören, als er mitten in der Versammlung plötzlich auftauchte. Der Schülerrat hatte Blätter verteilt und wer hätte das gedacht, aus mysteriösem Grund bekam die E natürlich nichts. Wen wundert's. Während so jeder damit beschäftigt war, Schadenfreude zu empfinden, nahm niemand den Lehrer wahr, der aus heiterem Himmel seiner Klasse half. "Der war irgendwie komisch..."
"So was von!", stimmte der Braunhaarige mir zu. "Sieh ihn dir an, spielt mit seinen Schülern Fangen oder so." Er deutete mit einem Kopfnicken zu den herumtollenden Absturzkindern mit ihrem Lehrer, der vor ihnen wegzurennen schien. Offensichtlich verstanden die sich sehr gut mit ihrer Klassleitung. Für so manchen Geschmack... zu gut.
"Oh", stieß ich unbewusst aus, nachdem aus meinem Strohhalm nur noch ein Schlürfen anstelle von Saft rauskam, "mein Saft ist alle. Ich hol mir neuen." Ich stieß mich vom Zaun ab und peilte den Getränkeautomaten an.
Dort angekommen suchte ich nach dem Schild für Apfelsaft. Nicht verfügbar. Als ob. Kein Apfelsaft? Was sollte das denn jetzt? Verdammt. Soll ich in der Mensa nachschauen...? Nein, nein, wäre viel zu viel Aufwand. Kanie kann mich von hier aus sehen, er würde mich deswegen auslachen. Was mache ich jetzt? Je länger ich hier stehe, desto auffälliger wird die Tatsache, dass ich nichts tue und nur den Automaten anstarre, weil der keinen Apfelsaft mehr hat. Ich muss mir so schnell wie möglich was einfallen lassen. Warte. Drüben um die Ecke gibt's auch einen Automaten. Soll ich dort hingehen? Wäre natürlich, oder? Vielleicht wirkt es auf ihn trotzdem seltsam? Aber was, wenn der auch keinen Apfelsaft hat? Oder von Grund auf nie hatte? Warum sollten zwei vom Inhalt her völlig identische Automaten fast nebeneinander stehen, bei logischem Denken sollte dieser keinen Apfelsaft haben. Was tue ich, wenn er keinen hat? Sollte ich mal was anderes probieren? Nein. Niemals. Vielleicht Wasser? Jeder Automat muss doch Wasser haben. Oder? Wenn ich jetzt abbiege, um zum anderen Automaten zu gehen, muss ich eine Begründung haben. So was wie, dass es ein Getränk, das ich wollte, dort nicht gab. Obwohl, das wäre ja die dumme Wahrheit... Verdammt, ich denke zu viel. Die Zeit verstreicht immer schneller und schneller. Ich geh zu dem anderen Automaten und schau jetzt einfach nach. Okay. Ich hab einen Plan.
Ich ging also zur... Ecke, hinter der sich der andere Automat befinden sollte, und sah kurz daran vorbei, bevor ich mich noch in irgendeine Art Gefahr brachte und auf mysteriöse Art und Weise verschwinde, woraufhin ich nie wieder auftauchen würde -
Kälte.
Sie kroch langsam und einziehend meine Wirbelsäule herunter und hinterließ ein Stechen. Es war als erstarrte mein Rückenmark und jeder einzelne Nerv in meinem Körper. Keine einzige Regung, kein Wimpernschlag, kein Atemzug. Nicht einmal ein angsterfülltes Zittern.
Nichts.
"Ah, 'tschuldige!", stieß ein Junge gegen meine Schulter und hastete dann schnellen Schrittes fort. Ich achtete nicht ganz auf ihn und blinzelte nur einige Male, noch immer irritiert. Als ich mich dann wieder umdrehte und um die Ecke blickte, sah ich... nichts.
Hä. Hä? Wie jetzt, da ist nichts? In der Ferne waren nur ein paar Schüler, die so normal ihr Leben lebten und andere Leute in ihre Leben reinlabern, aber hier war keine Menschenseele. War ich so weggetreten und verwirrt, dass ich jetzt verpasst habe, was da passiert ist? Oder hab ich mir das alles doch nur eingebildet...? Okay, denken wir nochmal anständig darüber nach. Was hätte passiert sein können? Also, dort befindet sich ein Getränkeautomat, dann habe ich eine gruselige Aura verspürt und dann ist... jemand an mir vorbeigelaufen. Da, diese Person, wer auch immer sie war, muss es gewesen sein! Aber... das ist doch eigentlich lächerlich. Was soll denn bitte passiert sein? Ich hab' mir das bestimmt nur eingebildet.
"Hast du's dann?" Heilige Guacamole, hab' ich mich in dem Moment erschrocken. Was ein Glück, dass ich noch kein Getränk gekauft hatte, welches ich jetzt klischeehaft vor Schrecken ausgespuckt hätte. "Alles in Ordnung?"
"Hm? Was soll denn sein? Ich wollte nur nachschauen, ob der Automat hier Apfelsaft hat, der drüben hatte keinen." Uuuund, ich hab einfach die Wahrheit gesagt. Wofür habe ich vorhin so angestrengt nachgedacht? Für nichts und wieder nichts. Meine Unfähigkeit gewinnt schon wieder.
"Aber der andere hat doch Apfelsaft, ich hab' mir grade einen geholt."
Heute ist irgendwie nicht so mein Tag.
Wieder zurück bei Position Eins am Zaun - diesmal frisch mit neuem Apfelsaft aufgetankt. Aber... was jetzt? Wann fängt der Unterricht überhaupt wieder an?
"Der Unterricht fängt in fünfzehn Minuten wieder an, ihr solltet euch langsam wieder auf den Weg machen."
Ich sah zum Ursprung der Stimme und erkannte Asano, dessen Gesichtsausdruck ich nicht ganz deuten konnte. Bestimmt dachte er darüber nach, dass die E-Klasse nicht genug unterdrückt wurde, wie es sich eigentlich gehört.
"Ah, danke für den Hinweis", reagierte ich dann nach kurzer Perplexität über sein plötzliches Auftreten, was ihm scheinbar gleich auffiel.
"Ist etwas vorgefallen? Du scheinst etwas neben der Spur zu sein. Liegt es an der E-Klasse?", fragte er dann mit einem gewissen Grad an Interesse in seiner Stimme.
Dabei erinnerte ich mich an die Schulversammlung, wie die E-Klässler drauf waren, an das seltsame Phänomen, als ich mir Apfelsaft geholt habe... Es war tatsächlich etwas merkwürdig und vermutlich lagen meine Gedanken auch sehr stark bei diesen Schülern. "Ach, es ist nichts. Ich, äh, wollte dir nur noch sagen, dass du später ohne mich nach Hause gehen kannst, ich hab da noch was vor!", antwortete ich schnell und zog dabei an Kanies Ärmel. "Na los, komm, wir gehen lieber schnell zurück, sonst sind wir noch zu spät", fügte ich noch schnell hinzu und lief schnellen Schrittes zurück zum Schulgebäude.
Ich wusste nicht, weshalb ich so nervös vor Asano war. Ob ich das überhaupt als Nervosität bezeichnen konnte, wusste ich auch nicht genau. Lag es daran, dass er wieder sofort durchschaut hat, worüber ich nachgedacht hatte? Oder weil ich wusste, dass er in einer miesen Stimmung war, nach dem, was bei der Versammlung geschehen ist? Vielleicht war meine Nervosität auch nur eine Nachwirkung des kalten Schauers, der mir vorhin gekommen ist. Was es damit überhaupt auf sich hat, diese Mordlust...
Das interessiert mich unfassbar sehr.
"Dir ist klar, dass wir in die komplett falsche Richtung gehen?", hörte ich dann einer genervten Person, die mich plötzlich am Arm nach hinten zog, weshalb ich etwas taumelte, bevor ich mich dann umsah. Ich stand im Vorhof der Schule. Quasi am Schuleingang.
"Oh... Äh... Sorry, Kanie, ich–", stotterte ich eine Entschuldigung vor mir her. Ich war selbst zu verwirrt von meinen Handlungen.
Kanie seufzte, bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, und diesmal war er es, der mich schnellen Schrittes hinter sich her, zurück zum Gebäude zog. "Ich verstehe wirklich nicht, wie du immer und immer wieder so in Gedanken versunken so bescheuerte Dinge machen kannst. Und wieso überhaupt? Ganz plötzlich schaltet irgendwas bei dir um und du bist total neben der Spur, wenn man dich dann aus deiner Trance rausholt. So 'ne Konzentration solltest du lieber fürs Lernen aufbringen", predigte er mir, bis wir bereits an den Treppen angekommen waren, welche er mich auch noch hochzwang. "Weißt du, ich finde es ja beinahe schon faszinierend, wie fokussiert du dann sein kannst, auf deine dummen Theorien und Vorstellungen, die dir durch den Kopf gehen. Aber ich muss gestehen, das ist manchmal schon echt anstrengend. Ich meine, wieso hast du so lange bei der Vending Machine gebraucht? Und wieso warst du jetzt bei Asano so nervös, ich meine, hä? Ist er nicht dein Cousin? Also klar, es ist immer noch Asano, aber trotzdem, du bist doch eigentlich ganz anders."
"Kanie, warte... ich kann echt nicht mehr–"
"Ich will ja nicht sagen, dass du schlecht bist, so wie du jetzt bist, aber Mann, es kann echt nicht so weitergehen. Du bist schon allein nach ein paar Treppenstufen ganz außer Atem und knallst die ganze Zeit gegen irgendwelche Laternen. Ich hab' dir schon oft gesagt, dass du reden sollst, aber wenn das nicht hilft", führte er seinen Monolog weiter, als er vor der Tür unseres Klassenzimmers anhielt und mir darauf direkt in die Augen sah, "dann finde etwas, was dir dabei hilft." Mit diesen letzten Worten ging er zu seinem Platz.
Irgendwie wirkte er größer als sonst.
Japanische Vending Machines stehen actually alle gefühlt nebeneinander und haben actually oft auch die gleichen Getränke. It's only for the plot, ok.
Bis zum nächsten Kapitel~
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