18. Drag Queen
♪ Masquerade – Eric Saade
Harry
Nach dem Telefonat mit Louis war ich zwar etwas beruhigter als noch vor einigen Tagen, trotzdem machte ich mir auf der anderen Seite Sorgen. Er schien auf einer heißen Spur zu sein, was ziemlich gefährlich werden konnte. Doch er war nun auf sich gestellt oder besser gesagt, er arbeitete mit Mitarbeitern aus dem Netzwerk zusammen.
Seufzend erhob ich mich von dem quietschenden Bett in der kleinen Wohnung, in der ich hauste. Immerhin war es sauber und es gab keine Ratten, die die Mülltonnen plünderten. Einige Straßen weiter war das nämlich der Fall.
Die zwei winzigen Zimmer, die mir hier zur Verfügung standen, hatte ich nach meinen Bedürfnissen eingerichtet. Einer der beiden Räume diente als Wohn-, der andere als Schlaf- und Ankleidezimmer. Mein Schrank platzte beinahe aus den Fugen und als ich Maggie ein Foto davon schickte, kriegte sie sich vor Lachen nicht mehr ein.
Immerhin nahm sie es mit Humor, dass ich mich in New York beinahe ständig verkleiden musste, wenn ich unter die Leute ging. Die einzige Ausnahme bildeten die Treffen mit Liam, die im Ai Fiori, einem asiatischen Restaurant stattfanden, welches in der 5th Avenue lag, und mit der Bahn von meinem Zuhause in ungefähr einer halben Stunde zu erreichen war. Dort liefen wir uns quasi per Zufall über den Weg, zumindest sah es immer danach aus. Aber wir würden uns erst am Montagabend und dann erst wieder am Donnerstag sehen.
Es sei denn, es würden zwischenzeitlich aufregende Dinge geschehen, die uns eventuell dazu zwingen sollten, einen Schlachtplan zu entwerfen.
Doch jetzt galt es zunächst, das Wochenende hinter mich zu bringen. Wie üblich skypte ich jeden Samstag mit Maggie, und zwar so lange bis sie ins Bett ging, was nicht selten nach vier Uhr morgens nach ihrer Uhrzeit stattfand. In New York zeigten die Uhren dann gerade mal elf Uhr abends.
Meistens zog ich mir anschließend eine Tiefkühlpizza und ein Bier rein, während ich vor dem Fernseher saß und den Sportkanal laufen ließ. Gute Filme wurden selten gezeigt, denn eigentlich liebte ich es, diese anzuschauen. Zwar lieber im Kino und in netter Gesellschaft, doch ich durfte mich weder mit Niall und seiner Familie, noch mit Liam und Sophia auf freundschaftlicher Basis treffen.
Nach der Übertragung des Football Spiels wurde ich langsam müde, schaltete den Fernseher aus und legte mich ins Bett.
Die Nachbarn zu meiner Rechten schrien sich mal wieder an. Durch die dünnen Wände waren Worte wie „Schlampe" und „Schlappschwanz" deutlich zu verstehen, weswegen ich meine In Ears in die Gehörgänge steckte, denn im Anschluss an den Streit würde der übliche Versöhnungssex stattfinden, dessen Lautstärke den verbalen Disput um einiges übertraf. Dankbar, dass die Musik meine Rettung war, rollte ich mich auf die Seite und schlief bald darauf ein.
Am nächsten Tag konnte ich länger schlafen, da Niall seine sonntägliche Joggingrunde erst später antrat. Immerhin wurde sein Erscheinen in der Kirche erwartet, und da er nicht auffallen durfte, kam er dieser natürlich nach.
Es gab nicht unbedingt eine feste Zeit, zu der er sonntags durch die Straßen joggte, doch eines war gewiss: Er tat dies stets am Nachmittag. Somit blieb mir reichlich Zeit, die Spiegeleier mit Speck zuzubereiten. Dazu gab es getoastetes Weißbrot und weiße Bohnen. Ein Frühstück fast nach guter englischer Art.
Ich ließ es mir munden und schickte eine WhatsApp Nachricht an Maggie, die natürlich schon lange wach war. Wir skypten erneut, bis es Zeit für mich war, meinen Job anzutreten.
Nachdem ich meine Penner-Klamotten angezogen hatte (natürlich ohne vorher zu duschen, das tat ich immer erst nach dem Einsatz), stülpte ich die Perücke mit den Rastazöpfen über mein Haupt und begann, die Theaterschminke aufzutragen. Ich nahm jedoch die unpräparierte, denn jeden Tag zu riechen wie ein Stinktier, hielt ich selbst nicht aus.
Mittlerweile hatte ich reichlich Übung im Perückenanziehen, denn diese durfte keinesfalls verrutschen. Sie hatte zu sitzen wie echtes Haar.
Wichtig waren außerdem die Handschuhe, welche an den Fingerkuppen offen waren. Aber der Rest, nämlich meine Tattoos, wurde dadurch perfekt verdeckt. Schnell schlüpfte ich in die abgewetzte Bomberjacke und zog die ausgelatschten Sneakers an, bevor ich mich auf den Weg machte.
Den Hut auf dem Kopf, marschierte ich mit raschen Schritten zur nächsten U-Bahn Station, um meine Stammecke aufzusuchen. Dort ließ ich mich nieder, jedoch nicht, ohne meine Umgebung vorher genauestens zu scannen.
Da es nichts Auffälliges zu sehen gab, platzierte ich den Hut vor mir und wartete. Ich beobachtete die Menschen, die heute nicht ganz so geschäftig durch die Straßen wanderten, da es sich um einen Sonntag handelte. New York kam jedoch nie richtig zur Ruhe. Aber London war da ähnlich, deswegen machte es mir nicht unbedingt etwas aus.
Eine Schachtel Zigaretten landete in meinem Hut. Das kam zwar hin und wieder vor, doch niemals mit solch einem Schwung. Überrascht schaute ich auf, um in Nialls Gesicht zu blicken, welches halb schuldbewusst, halb belustigt wirkte.
Als er sich anschließend näherte, um eine durchsichtige Sandwichpackung, in welcher sich ein Stück Kuchen befand, vorsichtig in meinen Hut zu legen, schnaufte ich und flüsterte leise: „Keinen Bagel heute?"
Ein vages Kopfschütteln erfolgte als Antwort. In jener Sekunde kannte meine Empörung keine Grenzen. Ich hatte mich so tierisch auf diesen Creamcheese Bagel gefreut und jetzt durfte ich mich mit einem Stück Kuchen, sowie einer Schachtel Zigaretten begnügen.
„Zum Teufel mit dir", zischte ich kaum hörbar, doch Niall hatte meine Worte haargenau verstanden, denn er zeigte mir grinsend den Mittelfinger, bevor er seine Runde fortsetzte.
Irgendwie sah er heute ziemlich blass um die Nase aus, was mir gar nicht gefiel. Hoffentlich wurde er nicht krank.
Da ich nach seinem Verschwinden nichts Besseres zu tun hatte, packte ich das Kuchenstück aus und aß dieses mit Genuss, denn es schmeckte besser, als erwartet. Bestimmt hatte Sienna selbst gebacken, die gekauften Exemplare waren bei weitem nicht so saftig.
Da sich in der durchsichtigen Verpackung kein Zettel befand, ging ich davon aus, dass dieser in der Zigarettenschachtel verborgen sein würde. Und damit lag ich absolut richtig.
Grinsend erhob ich mich, steckte die Schachtel in die Tasche meiner Bomberjacke, nahm den Hut vom Boden auf und lief in Richtung U-Bahn.
Während ich an der Station auf das Eintreffen des Zuges wartete, holte ich den Zettel vorsichtig aus der ansonsten leeren Zigarettenpackung.
Beim Lesen der Zeilen wurde mir allerdings ziemlich mulmig zumute.
„Habe fünfhundert Dollar beim Pokern verloren und der Mafia einen Schuldschein ausgestellt. Außerdem wird Sienna sich morgen wieder mit Nicholas Romanow treffen. Sie gehen mit den Kindern in den Washington Square Park. Uhrzeit teile ich dir morgen mit. Und du kannst Gift darauf nehmen, dass ich mich im Gebüsch verstecken werde, um deinen Auftritt zu sehen. P.S.: Es tut mir leid wegen dem Bagel, doch wir hatte keine mehr, aber ich hoffe, Siennas Kuchen schmeckt dir ebenfalls."
Als ich das mit den fünfhundert Dollar las, schnappte ich zunächst nach Luft. Hoffentlich entpuppte sich das nicht als eine Falle, aus der wir ihn nicht wieder herausbekamen. Allerdings freute ich mich auf meinen morgigen Auftritt im Park. Den würde so schnell nichts toppen und das Sienna oder Kieran mich erkannten, war völlig ausgeschlossen. Meine einzigartige Verkleidung kam einer perfekten, fast schon filmreifen, Maskerade gleich.
Zuhause angekommen, setzte ich mich zuerst mit London in Verbindung, um über Nialls Unglückssträhne beim Poker zu berichten. Ich redete mit Eleanor, die versprach, unseren Boss darüber in Kenntnis zu setzen.
Alistair würde vermutlich kotzen, wenn er das erfuhr. Aber wir konnten im Moment nichts dagegen tun, umso mehr freute ich mich, Nicholas Romanow so nahe auf die Pelle rücken zu können, wie es ansonsten nie möglich gewesen wäre.
Den restlichen Sonntag verbrachte ich mit Duschen, Essen und auf der Couch herumlümmeln.
Zum Glück herrschte in der heutigen Nacht Ruhe und ich brauchte keine Musik zu hören, um einschlafen zu können. Ein erholsamer Schlaf tat Not, denn ich brauchte meine ganze Konzentration für den morgigen Tag.
Pünktlich um sechs Uhr klingelte mein Wecker. Mein einziger Trost war, das Niall um die gleiche Uhrzeit aufstand, um sich für seine Joggingrunde fertig zu machen. Während ich mich als Penner verkleidete, summte ich ein Lied vor mich hin. Meine letzten Gedanken, bevor ich die Wohnung verließ, lagen bei einem leckeren Creamcheese Bagel. Hoffentlich würde Niall mir heute wieder einen mitbringen.
Voller Erwartung saß ich um Punkt sieben an meiner Stammecke und ich wurde nicht enttäuscht. Niall ließ die Packung mit dem Bagel gekonnt in meinen Hut fallen, was mir ein zufriedenes Schmunzeln entlockte.
Sorgsam untersuchte ich den Inhalt, zog den winzigen Zettel daraus hervor, auf dem lediglich eine Uhrzeit vermerkt war: 14 Uhr 30.
Bis dahin hatte ich noch reichlich Zeit, die ich allerdings auch benötigte, um mein Outfit perfekt erscheinen zu lassen.
Ohne Umschweife fuhr ich nach Harlem zurück und nahm erstmal eine Dusche, um mich von dem Penner-Gestank zu befreien, der durch die Klamotten an mir haftete. Dann verspeiste ich den Bagel mit wahrem Genuss und betrat anschließend das Schlafzimmer.
Mit einem Ruck öffnete ich die Tür zum Wandschrank, denn diese klemmte immer ein wenig. Am heutigen Tag schien sie besonders widerspenstig zu sein, denn ich bekam sie kaum auf. Als ich fluchend daran zerrte, gab es plötzlich einen lauten Knacks und die Tür riss aus den Angeln.
„Na super", knurrte ich und versuchte so gut es ging, das Teil aus dem Weg zu räumen.
Ich besaß keinerlei Intension den Schrank zu reparieren, da ich sowieso nicht für ewig hier wohnen bleiben würde. Mit einem letzten Murren stelle ich die Tür in die nächstbeste Ecke und machte mich dann daran, die passende Kleidung auszusuchen. An Auswahl mangelte es nicht, denn ich war zwischendurch ausgiebig Shoppen gewesen. Sophia hatte mir reichlich Tipps gegeben, den Rest, den ich dazu benötigte, glaubwürdig rüberzukommen, kannte ich aus der Schauspielschule.
In aller Seelenruhe wählte ich meine Kleidung aus, platzierte diese auf dem Bett und holte anschließend meinen Schminkkoffer hervor.
Sorgfältig begann ich das Make-up aufzutragen, dessen Farbe speziell für mich ausgesucht worden war. Anschließend kam der Lidschatten an die Reihe. Ich entschied mich für einen hellen Rotton, gepaart mit einem Silbergrau. Zuerst trug ich das Silbergrau auf, dann peppte ich das Ganze mit Rot auf. Auch den Lidstrich bekam ich mühelos hin, bevor ich die falschen Wimpern anklebte. Das war der schwierigste Teil, doch ich schaffte es schließlich.
Zufrieden mit meinem Werk langte ich nach dem Rouge-Pinsel, um meinen Wangen ein wenig Farbe zu verleihen. Nachdem dies geschehen war, kamen die Lippen an die Reihe. Konzentriert trug ich den zartpinken Lippenstift auf, und grinste dann zufrieden in den Spiegel.
Aber ich war noch lange nicht fertig, denn der Nagellack fehlte noch. Hoffentlich saute ich mich nicht ein, so wie im Kosmetikkurs der Schauspielschule, als der Lack an meinen Händen klebte. Um sicher zu gehen, wählte ich eine helle Farbe, ein zartes Rosé. Damit fiel es nicht so sehr auf, wenn ich außer den Nägeln auch noch meine Finger bemalte. Außerdem sollten die schwarzen Halbfinger Handschuhe aus feinstem Leder, die ich nachher anziehen wollte, meine Tattoos, sowie etwaige Nagellackspuren verdecken.
Während ich darauf wartete, dass der Nagellack trocknete, machte ich es mir auf dem Sofa im Wohnzimmer gemütlich und schaute Fernsehen. Zum Glück hatte ich einen Sender erwischt, der eine interessante Dokumentation zeigte und keine dieser schwachsinnigen Serien, die einem ansonsten entgegen flimmerten.
Ich schaute die Dokumentation über Eisbären bis zum Ende und dachte an unweigerlich an Barrow. Gott sei Dank lebte Niall nun in meiner Nähe und verweilte nicht mehr in dieser Eiswüste, weit ab vom Schuss.
Seufzend erhob ich mich von der Couch und lief zurück ins Schlafzimmer, um meine Maskerade zu vollenden. Wie immer hatte ich Probleme, den BH zuzukriegen (ich fragte mich immer, wie Maggie das so schnell schaffte) und als ich meine Strumpfhose anzog, fabrizierte ich prompt eine Laufmasche.
„Fuck", fluchte ich und wühlte in der Schublade, denn ich wusste genau, dass ich noch eine besaß.
Nachdem es beim zweiten Mal klappte, ohne dass die Strumpfhose kaputt ging, atmete ich erleichtert auf. Jetzt brauchte ich nur noch den BH ein wenig auszustopfen, bevor ich meine Bluse und den Rock anziehen konnte. Als Nächstes kamen die schwarzen Pumps an die Reihe, deren hohe Absätze ich verfluchte. Schon in der Schauspielschule war ich damit öfter auf die Fresse geflogen und ich hoffte inständig, dass dies heute nicht passieren würde.
Was sollte denn mein Patenkind von mir denken?
„Stopp, Styles", sagte ich laut zu mir selbst. „Niemand wird dich erkennen, also mach dir keine Gedanken darüber, wenn es peinlich werden sollte."
Mit einem fetten Grinsen im Gesicht zog ich die blonde Perücke an, die direkt neben den Rastazöpfen ihren Platz gefunden hatte. Als diese richtig saß, drehte ich mich einmal um die eigene Achse, um mich im Spiegel zu bewundern.
Gott, sah ich als Transvestit heiß aus!
Und die Idee ansich war so genial, dass niemand dahinter kommen würde. Ich liebte Alistair für seinen ausgefallenen Geistesblitz, mit dem wir die Mafia hinters Licht führten.
Fast hätte ich noch vergessen den Schmuck, ein breites, schwarzes Lederband für den Hals, und ein paar silberne riesigen Ohrringe anzulegen, doch in letzter Minute erinnerte ich mich daran.
Schnell schnappte ich meine schwarze Lederjacke und zog diese über die rote Bluse, bevor ich nach meiner großen Handtasche griff, die an der kleinen Garderobe hing.
Es fühlte sich komisch an, in diesen Pumps zu laufen, wie auf rohen Eiern stakste ich durch die Straßen bis zur U-Bahn und war froh, als ich einen Sitzplatz ergatterte. Gott sei Dank störte es in New York niemanden, wie man herumlief und Transvestiten wurden ebenso wenig beachtet wie Anzugträger.
An meinem Ziel angekommen, erklomm ich mühevoll die Stufen bis zum Ausgang, welcher direkt zum Washington Square Park führte. Dort lief ich in Richtung Spielplatz, denn Sophia hatte mir gesagt, dass Kieran immer auf diesem zu finden war und Sienna auf einer Bank in der Nähe sitzen würde.
Schon von weitem erblickte ich sie. Ihr rotes Haar leuchtete in der Sonne, es strahlte eine unglaubliche Wärme aus, wie sie selbst. Am liebsten wäre ich zu Sienna hingelaufen, um sie zu umarmen, doch das durfte ich nicht. Direkt neben ihr saß ein großer, schwarzhaariger, gutaussehender Mann, mit dem sie sich angeregt unterhielt: Nicholas Romanow.
„Mami, guck mal! Tia und ich bauen eine Sandburg!"
Die Stimme des kleinen Jungen ließ mein Herz augenblicklich schneller schlagen und ich schluckte kurz vor Rührung. Kieran war so groß geworden und für einem Moment musste ich mich echt zusammenreißen, um nicht zu ihm zu rennen, ihn durch die Luft zu wirbeln und „Hey Dreikäsehoch, wie geht es dir?", zu rufen.
Hastig setzte ich meinen Weg fort, doch ich war unachtsam und knickte prompt mit dem Fuß um.
„Autsch!" Schmerzverzerrt verzog ich das Gesicht, da sprang Romanow auch schon von der Bank, um mir zu Hilfe zu kommen.
„Haben Sie sich verletzt?", lautete seine besorgte Frage.
„Nein, nein, es geht schon. Die Schuhe sind nur neu und ich muss mich erst daran gewöhnen."
Ich lächelte ihn an und er nickte.
„Verstehe."
Mühevoll richtete ich mich auf und humpelte einige Schritte, als er plötzlich sagte: „Vielleicht sollten Sie ihren Fuß erst ein wenig ausruhen. Wir haben noch Platz auf der Bank, Sie können sich ruhig zu uns setzen."
Besser hätte es gar nicht laufen können.
In mich hineingrinsend, folgte ich seinem Vorschlag und setzte mich neben Sienna, die mich freundlich anlächelte. Sie erkannte mich nicht, das verriet ihr Blick und ich war froh, dass die Maskerade allen Anforderungen standhielt.
„Das ist mir so peinlich", nuschelte ich mit halb gesenktem Kopf, während ich versuchte, ihre Reaktion einzuschätzen.
„Das muss es aber nicht", erwiderte sie freundlich. „Ich stolpere auch manchmal in meinen Pumps und dann muss mein Mann mich auffangen."
Niall würde das ganz sicher tun, daran gab es nichts zu zweifeln. Und im Moment hielt er sich in irgendeinem Gebüsch versteckt und lachte sich vermutlich schlapp, weil ich beim Laufen umgeknickt war.
Mein Knöchel pochte noch immer stark, doch ich ließ mir nichts anmerken, sondern lenkte meine Aufmerksamkeit auf die beiden Kinder, die einträchtig zusammen spielten. Man konnte deutlich spüren, wie gut sie sich verstanden und dass das kleine Mädchen Kieran bewunderte, weil er so tolle Sandburgen bauen konnte.
„Ich liebe Kinder, sind das Ihre?", erkundigte ich mich mit dem antrainierten Südstaaten-Akzent, der nicht verriet, dass ich eigentlich aus England stammte.
„Ja", gab Romanow grinsend zur Antwort.
„Also der Junge gehört zu mir und das Mädchen zu ihm", versuchte Sienna zu erklären.
„Oh, eine Patchwork-Familie, wie schön!", rief ich entzückt aus.
„Nein, nein, wir sind nur Freunde, ich bin verheiratet", kam es sofort von der Frau meines besten Freundes.
Eins zu null für Sienna. Ich war mir ziemlich sicher, dass sie Niall nicht hintergehen würde. Aber wie sah es bei Nicholas aus?
„Ah, verstehe. Die Kinder sind befreundet und Sie sind es auch."
„So ist es", bestätigte Romanow grinsend.
Mit einem kleinen Seufzen öffnete ich meine überdimensionale Handtasche, um einen Muffin hervorzuholen, Kierans Lieblingssorte wohlbemerkt. Und wie durch ein Wunder schaute er genau in diesem Augenblick zu mir.
„Oh, Muffins mit Blaubeeren!" Seine blauen Augen wurden groß und rund und ich sah, wie er mit seiner Zunge über die Lippen schleckte, während er näher kam. Mit dem kleinen Mädchen an der Hand, setzte er unbeirrt seinen Weg zur Bank fort.
„Mami, ich habe Hunger."
Diesen Satz kannte ich nur zu gut und er bedeutete, dass er gleich ungemütlich werden würde. Es sei denn, man gab ihm etwas zu Essen.
„Also wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich ihrem Sohn gerne eine Muffin schenken. Schließlich habe ich genug dabei."
Fragend schaute ich zu Sienna, während ich die Packung mit dem Gebäck hervorholte, um zu demonstrieren, dass wirklich genügend davon vorhanden war.
„Aber nur einen und auch nur, wenn es Ihnen wirklich nichts ausmacht", antwortete sie mit einem kleinen Lächeln.
„Gilt das auch für Ihre Tochter?", vergewisserte ich mich bei Romanow.
Als er nickte, holte ich zwei Muffins aus der Tüte und überreichte sie den beiden Kindern.
„Lasst es euch schmecken."
Die Kleine war etwas schüchtern und traute sich nicht, nach dem Muffin zu greifen, doch Kieran erledigte das für sie.
„Hier, Tia, die Frau-." Er brach plötzlich ab und starrte mich an. Für eine Sekunde wurde mir ganz mulmig zumute, da ich dachte, er hätte mich erkannt. Doch er musterte mich nur, um dann zu fragen: „Warum hast du so eine Stimme wie ein Mann?"
Was sollte ich nun darauf antworten?
„Weißt du, es gibt Menschen, bei denen ist das so", erklärte ich freundlich.
„Echt? Ist ja krass!"
Ich staunte, welchen Wortschatz er inzwischen besaß und beobachtet, wie er von seinem Muffin abbiss, um genießerisch die Augen zu verdrehen.
„Der schmeckt aber gut."
Auch Tia begann zu essen, was mich immens freute. Sie war ein unschuldiges Kind, das sich die Herkunft und Familie leider nicht aussuchen konnte und ich würde niemals einen Groll gegen sie hegen.
„Ihr habt vergessen, euch für die Muffins zu bedanken", ertönte Romanows Stimme plötzlich in meinen Ohren.
„Danke", kam es von beiden Kindern fast im Chor.
„Bitte, gern geschehen." Ich lächelte ihnen freundlich zu.
Damit es nicht auffiel, erhob ich mich und verabschiedete mich mit folgenden Worten: „Danke, dass ich mich bei Ihnen niederlassen durfte, um meinen Fuß ein wenig auszukurieren."
„Ach, das war doch kein Problem", erwiderte Sienna, während Romanow mir freundlich zunickte.
„Myles, komm mal her."
Erschrocken drehte ich mich um, denn ich hatte Styles verstanden. Der Schweiß drang aus meinen Poren, doch dann entdeckte ich einen kleinen Welpen, der im Gras hinter der Bank lag, und wohl ein Nickerchen gemacht hatte.
„Der ist ja süß, wie heißt er nochmal?"
„Myles."
Beflügelt durch meine Ironie formte sich ein Gedanke in meinem Kopf: „Ein besseren Namen hätte man sich für den kleinen Kerl auch nicht ausdenken können."
Fünf Minuten später saß ich wieder in der U-Bahn, wissend, dass ich Kieran jederzeit im Park würde sehen können. Einen Transvestiten verdächtigte man schließlich nicht, Spionage zu betreiben. Ich hatte mein Patenkind so sehr vermisst, doch der heutige Tag erfüllte mein Herz mit Freude. Endlich durfte ich mich ihm nähern, ihn anschauen, mit ihm sprechen und ihm einen Muffin schenken.
In diesen lieblichen Erinnerungen schwelgend, stieg ich an der Haltestelle aus, die fünf Minuten von meiner Wohnung entfernt lag. Humpelnd stakste ich über den Bordstein und ignorierte die Pfiffe, ausgestoßen durch zwei Typen, die an der gegenüberliegenden Straßenecke herumlungerten. Ich musste mich schwer zusammenreißen, um nicht die Pumps auszuziehen und die beiden zu verprügeln. Schließlich war ich kein Freiwild für notgeile Böcke, auch wenn ich wohl den Titel 'New Yorks heißeste Drag Queen' für mich beanspruchen durfte.
Kopfschüttelnd holte ich den Hausschlüssel aus der großen Umhängetasche hervor, doch als ich meinen Blick nach vorne richtete, blieb mir vor Überraschung fast die Spucke im Hals stecken.
„Hey, mich hast du wohl hier nicht erwartet?"
Das hatte ich wirklich nicht.
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Yeah, Harry ist wieder da - und das bedeutet meistens Chaos und Strapazen der Lachmuskeln. Ich habe auf jeden Fall sehr viel während des Schreibens gelacht, und hoffe, dass euch das Kapitel gefallen hat. Harry geht durch eine harte Schule in New York, Alistair macht es ihm nicht einfach, doch er beißt sich durch.
Wer mag da wohl vor Harrys Tür stehen?
Und was sagt ihr dazu, dass Niall 500,-- Dollar beim Pokern verloren hat?
Ich freue mich schon megamäßig auf eure Kommentare, die mir sicher wieder ein Grinsen auf die Lippen zaubern werden.
Danke, an alle meine Leser für den konstanten Support. Ihr seid die Besten.
Das nächste Update kommt vermutlich erst am Wochenende, Freitag würde ich mal sagen.
LG, Ambi xxx
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