Kapitel 5
Am nächsten Tag endete mein schwer verdienter Schlaf, für meine Verhältnisse eindeutig zu schnell.
Meine Mutter rüttelte an meinen Schultern: „Eliza, du musst aufstehen. Sonst verschläfst du mir noch den ganzen Tag".
Müde rieb ich mir den Schlaf aus den Augen und setzte mich auf. Erst dann wurde mir glasklar, weshalb ich unbedingt aufwachen musste: Wenn ich nicht bald aufbrechen würde, müsste ich durch die heiße Mittagssonne laufen. Die Hoffnung auf Regen hatte ich schon lange begraben, sodass mir keine andere Möglichkeit blieb, als mich aufzuraffen.
Eine Ewigkeit später lehnte ich mich gegen die Außenwand des alten Bauernhauses. Zugleich zupfte meine Mutter nervös an meinem Kleid herum.
„Es reicht, Mutter. Ich bin kein Kind mehr", sie ließ erst nach kurzem Zögern von mir ab.
„Du musst trotzdem ordentlich aussehen, wenn du ankommst. Achte bitte darauf. Was sollen denn die Leute denken?".
Sanft packte ich sie an ihren Schultern. Sie war gerade einmal wenige Zentimeter größer als ich: „Keine Sorge, ich werde unsere Familie mit Stolz vertreten".
„Ich habe noch etwas für dich, bevor du gehst...", und damit verschwand meine Mutter ins Innere.
Mein Vater, der noch immer seine Worte wie Gold aufsparte, klopfte mir aufmunternd auf die Schulter.
„Versprich mir, gut auf sie aufzupassen", murmelte ich, noch bevor meine Mutter wieder auftauchte.
Das in der Sonne glänzende Objekt, hatte augenblicklich meine ganze Aufmerksamkeit:
„Das, mein Schatz, ist das Einzige, was unsere Familie über Jahrhunderte hinweg besaß", das Etwas entpuppte sich als eine Kette, an der ein schweres bronzen -farbenes Medaillon hing.
Auf den ersten Blick wirkte es gewöhnlich, doch wenn man ganz genau hinsah, entdeckte man auf dem Oval -förmigen Medaillon die mickrigen Blüten, die detailreich in der Mitte eingearbeitet waren. Meine Mutter öffnete den Verschluss und legte es mir um meinen Hals:
„Ich möchte, dass du es an behältst, mit dem Wissen, wohin du gehörst. Wohin du zurückkehren kannst, wann immer du möchtest", gerührt von diesem großartigen Geschenk brachte ich kein Wort zustande.
Stattdessen strichen meine Finger über den welligen Rand des Medaillons. Das ungewohnte Gewicht der Kette, gab mir ein Gefühl von Schönheit, was ich nicht mehr missen wollte. Ein solch edles Schmuckstück stand in keinem Verhältnis zu meinem grauen Kleid aus Leinen, welches platt an meinem Körper herunterhing.
Ehedem hatte ich keinen blassen Schimmer von der Existenz dieses Objektes, umso überraschter war ich, dass von nun an, ich die Besitzerin eben welches war.
„Dankeschön", ich schloss meine Mutter in die Arme, welche mir einen Kuss auf die Stirn drückte.
„Ich werde gut darauf Acht geben", versprach ich, nachdem ich auch meinen Vater umarmt hatte.
„Hier, nimm auch ein Stück von dem Brot. Die Reise zieht sich länger, als man glauben mag", daraufhin reichte sie mir zwei in einem Beutel gehüllte Scheiben Brot.
Auch dafür bedankte ich mich im großen Maße.
Schlussendlich gestaltete sich der Abschied einfacher als gedacht: Meine Mutter verdrückte ein paar Tränen, während mein Vater mich tiefgründig musterte. Zum Abschluss winkten sie mir, bis sie sich nur noch als kleine Silhouetten am Horizont abzeichneten.
Die erste Stunde verging wie im Flug. Schon erreichte ich eine hügelige Landschaft, bedeckt von schattenspendenden Laubbäumen, die sich verlockend am Rande des Weges befanden.
Obwohl meine Augen schon vor Müdigkeit brannten, war es viel zu früh, um zu rasten. Denn ich war schließlich selber Schuld: Die schlaflose Nacht, in der ich mich in der Stadt aufhielt, hatte mir meinen Vorrat an Kräften, schon im Vorhinein massiv eingeschränkt.
Nach zwei weiteren Stunden jedoch, konnte ich meine Augen kaum mehr offen halten, sodass ich mich meinen Gefühlen hingab und eine Pause einlegte.
Geschickt hatte ich mir dafür eine tiefhängende Linde ausgesucht, die mich nicht nur vor der heißen Mittagssonne schützte, sondern auch vor Dieben aller Art. Sicherheitshalber versteckte ich das Brot unter meinem Kleid, nachdem ich mich gemütlich unter dem Baum ausgebreitet hatte. Es dauerte nicht lange, da übermannte mich ein tiefer, traumloser Schlaf.
Urplötzlich fühlte ich tastende Hände auf meinen Körper. Wie lange hatte ich geschlafen? Ich verzichtete darauf mich ausgiebig zu strecken sondern tat weiterhin so, als würde ich noch tief und fest schlafen.
Die Person, die mich unerlaubt abtastete, würde ich es heimzahlen. Trotzdem wusste ich, dass ich bei einem Kampf höchstwahrscheinlich nicht gewinnen würde. Dafür war ich einfach nicht kräftig genug. Nichtsdestotrotz konnte ich den Verbrecher überwältigen, indem ich ihn überraschte.
Abrupt, umfasste ich die Gestalt und drückte sie mit den Händen fest auf den Boden, sodass sie auf dem Rücken unter mir lag.
„Was-", presste sie hervor.
Es handelte sich um eine junge, schwarze Frau, deren langes, pechschwarzes Haar wirr in ihrem Gesicht hing.
„Wer bist du?", brummte ich.
Zugleich betrachtete ich sie: Wie eine Diebin wirkte sie wahrlich nicht. Die Frau war mit einer grauen Schürze bekleidet, trug darunter jedoch eine gelbe Bluse.
„Würdest du bitte von mir runtersteigen?", erwiderte die Diebin mit einem durchdringenden Blick.
„Auf keinen Fall!", hielt ich dagegen, „Wie soll ich sicher sein, dass du mich nicht beklaust?".
„Dich beklauen? Wieso sollte ich? Das habe ich gar nicht nötig", konterte sie.
„Und das soll ich dir glauben? Nachdem du mich eben nach Wertgegenständen abgesucht hast...", instinktiv griff ich an meinen Hals. Zum Glück hatte ich sie noch aufhalten können, ehe sie meine Kette entdecken konnte.
Diesen kurzen Augenblick nutzte die Fremde, um sich unter meinen Arm zur Seite zu rollen. Zu spät begriff ich ihr Vorhaben und griff ins Leere, als ich sie noch festhalten wollte.
Panisch richtete sie sich auf und verbarg sich schützend hinter dem massiven Baumstamm der Linde.
„Du bist ja verrückt", quietschte sie.
„Ich soll die Verrückte sein? Lächerlich", wütend verschränkte ich die Arme vor der Brust, „Ich beklaue keine schlafenden Menschen. Ach was, ich stehle grundsätzlich nicht".
„Solltest du aber vielleicht",
„Was...?",
„Dann bestände dein Proviant nicht ausschließlich aus zwei Scheiben Brot".
Mein Puls raste, was bildete sie sich überhaupt ein?
„Außerdem habe ich dich gar nicht durchsucht", behauptete die Diebin kleinlaut, „Ich wollte nachsehen, ob es dir gut geht".
„Und das soll ich dir jetzt glauben?", ich war nicht überzeugt von ihrer vermeintlichen Absicht.
„Mir ganz gleich, ob du es tust, oder nicht. Nur lass mich bitte in Ruhe, ich habe noch einen weiten Weg vor mir".
Lachend hob ich die Hände: „Von mir brauchst du nichts zu befürchten. Anscheinend habe ich dich früh genug gestört, denn es scheint noch alles an seinem Platz zu sein".
„Habe ich es nicht gesagt?", langsam kam die junge Frau hinter dem Baum hervor und betrachtete mich kritisch.
Sie hatte eindeutig Angst vor mir. Wie unbegründet diese Angst war, wollte ich vorerst für mich behalten.
„Mein Name ist Tahnee", ihre Hand streckte sie vorsichtig in meine Richtung. Was sollte das schon wieder?
„Ich bin Eliza", presste ich mit zusammengebissenen Zähnen hervor und schüttelte Tahnees Hand kurz. Schweigend sahen wir uns in die Augen, bis ich schließlich die Stille unterbrach:
„Ich werde jetzt weitergehen. Wehe, du greifst mich an. Dann kann ich für nichts garantieren".
Tahnee nickte nur, sichtlich genervt von mir. Aber - oh wunder - , das beruhte auf Gegenseitigkeit.
Im Anschluss daran klopfte ich den Staub von meinem Kleid und folgte dem Weg bis zu einer Kreuzung. Ein modriges Schild teilte mir mit, dass ich die Rechte der beiden Abbiegungen nehmen musste, um mein Ziel zu erreichen.
Gleichzeitig hoffte ich, meine ungeliebte Verfolgerin endlich loszuwerden. Doch vergeblich: Auch Tahnee bog rechts ab.
Seufzend blickte ich über meine Schulter. Ich hatte mich auf eine ruhige Reise gefreut, fern ab von Gesprächen.
Dies wurde mir leider verwehrt: Denn schon nach zwei weiteren Kreuzungen, wurde Tahnee plötzlich schneller, sodass sie mit mir Schritt halten konnte.
„Es ist lächerlich, wenn ich hinter dir herlaufe, wie Küken ihrer Mutter", erklärte sie schlicht, ohne, dass ich nachgefragt hatte.
„Aha", sagte ich desinteressiert und erhöhte erneut mein Tempo.
„Wo läufst du eigentlich hin?", fragte Tahnee mich nun.
„Das geht dich rein gar nichts an", ich atmete hörbar aus.
„Ich für meinen Teil möchte auf dem königlichen Hof neue Arbeit finden", sie kicherte, „Vielleicht sogar einen Prinzen heiraten...".
Ich verdrehte die Augen, sie würde wahrscheinlich noch nicht mal im selben Raum eines Prinzen atmen dürfen.
Erst dann wurde mir klar, was ihre Aussage für mich bedeutete: Tahnee würde mich bis zum Schluss begleiten, wenn ich sie nicht vorher loswurde. Im Prinzip war das aber genauso unwahrscheinlich, wie ihre prophezeite Heirat mit einem königlichen Sohn.
„Na dann, werden wir noch viele schöne Stunden miteinander verbringen", der Sarkasmus innerhalb dieser Aussage schien nicht laut genug gewesen zu sein, denn Tahnee war sichtlich erfreut:
„Sehr gut. Ich bin nämlich ziemlich froh, die Strecke nicht alleine bewältigen zu müssen".
Ich blinzelte zu ihr hinüber. Sie war kaum älter als ich und sah im Grunde ganz nett aus. In diesem Augenblick wandten sich ihre braunen Augen zu mir. Ihr breites Lächeln entblößte ihre Grübchen, die sie umso freundlicher wirken ließen.
Trotz alledem konnte ich es mir nicht leisten ihr zu vertrauen, dennoch sprach nichts dagegen, den Weg mit ihr zu bestreiten.
„Du bist nicht sehr gesprächig, kann das sein?",
„Gut erkannt, du Blitzmerkerin", diese Aussage brachte sie zum Lachen.
„Du bist lustig. Ich glaube, ich kann dich gut leiden, obwohl du mich fälschlicherweise als Diebin betitelt hast",
„Du kennst mich doch gar nicht?",
„Trotzdem".
Und damit war das Gespräch beendet.
Spät am Abend beschlossen wir während der Nacht eine Pause einzulegen. Kurzerhand hatten wir einen umgefallenen Baumstamm als Bank umfunktioniert.
Tahnee öffnete ihre in die Jahre gekommene Umhängetasche und fischte einen Apfel hervor, in welchem sie unmittelbar genüsslich hinein biss. Auch ich schnappte mir eine Scheibe Brot, riss etwas von ihr ab und katapultierte es in meinem Mund. Eine Zeitlang saßen wir kauend nebeneinander.
„Woher kommst du eigentlich?", fragte ich wenig später.
„Bis vor einer Woche lebte ich noch im westlichen Teil des Königreiches".
Ich nickte. Auch wenn ich gern mehr gewusst hätte, hakte ich nicht weiter nach:
„Dagegen ist meine Route bis zum Schloss ja förmlich ein Spaziergang".
Denn anders als Tanhee, lebte ich im inneren Teil des Landes, nahe dem Wohnsitz der Familie Hirundo. Ein Konflikt hatte damals dazu geführt, dass England in drei Königreiche aufgeteilt worden war: Dem Gebiet des Herzogs von Wellington, der mit seinen drei Söhnen eine Burg im nördlichen Teil des Landes bewohnte.
Hingegen erstreckte sich das Terrain des Grafen Carpenter in der mittleren Hälfte. Ganz im Süden formte das Königreich Hurindo den Schluss.
Das Königspaar hatte bisher noch keine Nachkommen gezeugt – eine Erweiterung der Grenzen war daher bis auf Weiteres eher unwahrscheinlich.
Nach einer Weile teilte Tahnee mit, dass sie müde sei und sie sich daher schon mal schlafen legte. Ich begrüßte diese Entscheidung, denn so hatte ich ein wenig Zeit für mich. Bis jetzt hatte ich mein Heimweh erfolgreich verdrängt, doch nun wirkte es massiv in Form von Bauchschmerzen auf mich ein.
Gedankenverloren rieb ich das Medaillon zwischen meinen Fingern. Im Hintergrund vernahm ich den immer ruhigere werdenden Atem von Tahnee.
Ob es auch ihr so schwergefallen ist, ihre Heimat zu verlassen? Jetzt wollte ich doch lieber mit ihr sprechen, als mit meinen Gedanken allein zu sein.
Bald darauf hatte ich mich auch auf der trockenen Wiese zusammengekrümmt. So lag ich auf dem Rücken und betrachtete die Sterne am Himmel.
Noch immer kreisten meine Gedanken um den morgigen Tag, bei meiner Familie, sowie vor allem bei meiner Zukunft. Nichtsdestotrotz fiel ich irgendwann in einen unruhigen Schlaf.
Der nächste Morgen begann ruckartig, denn Tahnee weckte mich grob, indem sie mich schüttelte. Stöhnend machte ich mich zum Aufbruch bereit, während Tahnee schon ungeduldig auf mich wartete. Wie kann ein Mensch, schon zu früh, so aktiv sein?, fragte ich mich im Inneren.
Die fortlaufende Route verlief über einen ebenerdigen Trampelpfad, auf welchem sich bereits einige Menschen versammelt hatten, die scheinbar alle das selbe Ziel verfolgten.
„Schau, mal! Da ist es schon", Tahnee zeigte aufgeregt auf eine Turmspitze, die sich hinter einem Stück Wald befand.
„Du hast Recht", erwiderte ich und band mir meine Haare zu einem Zopf, „Ich schätze noch einen halben Tag und wir sind da".
Und ich sollte Recht behalten.
Noch am selben Nachmittag erreichten wir das pompöse Gebäude. Gleich am Eingang, den ein Tor aus Stein markierte, bildete sich eine Schlange aus Frauen, welche alle durcheinander plapperten. Die meisten schleppten einen voll bepackten Korb mit sich, oder zogen einen Holzwagen hinter sich her.
„Stell dich schon mal an, ich werde nachsehen, was uns vorne erwartet", bot Tahnee an und war kurzerhand in der Menge verschwunden.
Dankbar, nahm ich einen Platz am Ende der Schlange ein. Hier wagte ich einen genaueren Blick auf das Schloss: Es war größer, als ich mir vorgestellt hatte.
Schmale Türme ragten in die Höhe, welche sich dicht an dicht, aneinander schmiegten. Von außen konnte man etliche Fenster zählen, welche dem verwinkelten Gebäude den nötigen Charme verliehen. Außerdem rankten efeuartige Gewächse zwischen den Fenstern ineinander und umspielten jegliche Nischen. Zudem wehten Fahnen im Wind, die das Wappen der Familie Hirundo abbildeten.
Oben auf der Mauer positionierten sich in diesem Augenblick einige Wachen, die wiederum sichtlich amüsiert das Treiben vor der Burg beobachteten.
Tahnee berührte meine linke Schulter, woraufhin ich überrascht zusammenzuckte: „Ach du bist es".
„Wer denn sonst?", erwiderte Tahnee, wobei sie nicht ganz Unrecht hatte,
„Wir müssen uns da vorne anmelden. Anschließend wird entschieden, ob sie uns gebrauchen können, oder auch nicht. Lediglich fünfzehn Frauen werden sie einstellen. Ist das zu fassen?!".
Und es stimmte: Auf dem Vorplatz hatten sich mittlerweile um die vierzig Frauen versammelt. Noch nicht mal die Hälfte würde einen Arbeitsplatz bekommen, wobei einige schon aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters ausscheiden würden.
„Meinst du, wir haben eine Chance?", äußerte ich meine Bedenken, „Zumal ich gar keine Erfahrung habe".
Aber Tahnee winkte ab: „Blödsinn. Natürlich werden wir angenommen. Schau dich doch mal um", ich zuckte mit den Schultern, doch das mulmige Gefühl blieb.
Kurze Zeit später war ich an der Reihe. Vor mir saß ein älterer Mann an einem kleinen Tisch und füllte Formulare aus. Seinen Kopf zierte ein schwarzer Hut, der mit einer langen Feder bestückt war.
„Name?", die tiefe Stimme imponierte mir.
„Eliza Rutherford", gab ich an.
Nachdem er dies notiert hatte, fragte er außerdem mein Alter (dreiundzwanzig), meine Größe (1,65cm) und meinen Beziehungsstand (ledig) ab. Anschließend bat mich der Mann zu warten, bis man meinen Namen aufrufen würde. Neben mir beantwortete Tahnee dieselben Fragen, bis sie schließlich zu mir zurückkehrte.
Wir zogen uns in den Schatten zurück. Keiner von uns sagte ein Wort. Denn in mir lief mein Herz einen Marathon.
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