Kapitel 4
Noch am selben Tag, zog ich mich in den Wald zurück. Die Sonnenstrahlen kämpften sich zwischen den hochgewachsenen Tannen und in der Ferne hörte man zwitschernde Vögel. Durch die Idylle schlängelte sich ein schmaler Bach, der schließlich in einen See mündete.
Das ruhige Plätschern des Wassers machte die Atmosphäre perfekt, sodass ich mich gelassen auf den flachen Stein am Rand fallen ließ. Kurzerhand löste ich die Riemen meiner Schuhe, stellte sie beiseite und tauchte meine Füße in das kühle Nass. Sofort erfüllte mich die angenehme Frische.
Ich lehnte mich zurück und ließ die Sonnenstrahlen meine Nase kitzeln. Für einen kurzen Augenblick konnte ich die Ruhe genießen, doch meine Gedanken brachten mich immer zurück zum Hier und Jetzt.
Seufzend setzte ich mich auf. Ich fragte mich immer wieder, ob meine Entscheidung die Richtige war. Vielleicht hätte ich mich mit meinem Leben zufriedenstellen sollen. Kein Risiko eingehen. Aber was könnte schon passieren? Was genau machte mir so große Angst, dass ich selbst an einem Ort, wie diesem, nicht zur Ruhe kam?
Während ich darüber nachdachte, wurde es mir plötzlich so klar wie nie zuvor. Dies war wohl das erste Mal, dass ich eine Entscheidung ganz alleine für mich traf. Des Weiteren trug ich alle damit einhergehende Verantwortung, was so auch noch nicht vorkam. Bei jedem Gedankengang war mir das Wohl der Familie das Wichtigste. Aber jetzt war das anders.
Da war noch so viel mehr, dass ich in mir spürte: Die prickelnde Vorfreude auf ein neues, unbekanntes Leben, sowie ein Hauch von Abenteuerlust, die meinen Adrenalinspiegel höher treiben ließ. All das zusammen wirkte wie eine Droge auf mich ein, erschwerte es mir allerdings auch meine Gedanken zu ordnen.
Schließlich hatte ich mich nicht ohne Grund hierher verirrt. Neben meiner Familie würde ich auch Morris verlassen. Die Vorstellung, ihn nie wiederzusehen, versetzte mir einen Stich in mein Herz.
—
„Du musst still sitzen bleiben, Eliza. Sonst verpasst du die ganze Geschichte", Morris sprach ganz sanft auf mich ein, obwohl seine Augen erkennen ließen, dass er schon längst keine Geduld mehr übrig hatte, verlor er nie seine Ruhe.
„Ich kenne sie doch schon", kicherte ich, was ein Fremder durchaus als freches Verhalten gedeutet hätte.
Im Gegensatz dazu streckte Morris seinen Arm nach oben, um das höchste Regalbrett zu erreichen. Hier bewahrte er seine kostbarsten Werke auf. Und natürlich, wollte ich vor allem diese Bücher immer und immer wieder lesen.
Das Buch welches Morris nun hervorholte hatte ein durchweg weißes Cover. In der Mitte saß eine Taube, die dem Lesenden geradezu ins Gesicht starrte. Unter ihr stand in goldenen Lettern: Die fliegende Taube.
Ich lehnte mich auf meinem überdimensionalen Stuhl zurück und machte es mir bequem. Erwartungsvoll blickte ich ihn mit großen Augen an.
Als Nächstes schlug Morris endlich das Buch auf, richtete seine Brille zurecht und räusperte sich: „Ganz früher, als noch kein Mensch die Erde bewandert, geschweige denn, sie zu seinem Nutzen gewandelt hatte, lebten die Tiere als friedliches Volk zusammen. Darunter auch eine glückliche Tauben-Familie", Morris sah auf und fand mich freudestrahlend unter dem Stuhl vor.
Auf dem Bauch konnte ich viel besser mit den Beinen wackeln, ohne dass er mich ermahnte. Außerdem war die Perspektive eine ganz andere: Morris Schuhbänder wackelten einladend vor meinem Gesicht hin und her.
Doch zu diesem Zeitpunkt schlug Morris seine Beine übereinander, während er sich tiefer in den grünen Sessel kuschelte.
„Weit und breit gab es keine anderen Tauben! Dennoch störte sich das kleine Taubenkind nicht daran. Es hatte andere Freunde zum Spielen: Das Hasenkind, das kleine Mäuschen und die Tochter des Bürgermeisters, einen rot – weißen Fuchs.
Jeden Morgen trafen sie sich zum Spielen. Mal spielten sie verstecken, mal schwammen sie in dem großen See. Dabei fiel dem Taubenkind auf, dass jedes Tier etwas Besonderes konnte: Die Maus war sehr flink. Durch ihren schmalen Körper passte sie in jeden noch so engen Spalt. Dagegen konnte der Hase höher hüpfen, als alle anderen",
„Das kann ich auch!", unterbrach ich ihn, richtete mich auf und hüpfte polternd durch die Wohnung.
Morris lachte, was seine tiefen Falten in die Länge zog. Seine blauen Augen verfolgten mich in meinem kindlichen Spiel und er gab mir die Zeit, die ich brauchte, mich wieder auf die Geschichte zu fokussieren.
„So...wo waren wir. Ahja", Morris feuchtete seine Fingerkuppe mit der Zunge an und blätterte auf die nächste Seite, „Der Fuchs jedoch, das sage ich dir, konnte so lautlos schleichen, dass er jedes Fangenspiel gewann. Nur das arme Taubenkind hatte so gar nichts, was es besonders machte. Es fühlte sich nutzlos und hässlich. Besonders dann, wenn es die anderen Tierkinder sah. Ihr graues Federkleid konnte wohl niemals einen Schönheitswettbewerb gewinnen.
Eines Abends vertraute es sich seiner Mutter an und trauerte bitterlich, um sein leidliches Wesen. Die Mutter nahm es in den Arm.
„Allein, dass du mein Kind bist, reicht für mich aus, dass du das besonderste aller Tierkinder bist", beteuerte die Mutter.
Doch das reichte der kleinen Taube nicht. Sie wollte auch etwas können, was keines ihrer Freunde beherrschte.
Also machte sie sich auf und besuchte den Otter. Dieser konnte weite Strecken schwimmen, ohne dass seine Atmung schlapp machte.
Nach mehreren Versuchen jedoch, so zu schwimmen, wie der Otter, gab die kleine Taube auf. Ihre Federn saugten das ganze Wasser auf und zogen sie beim Schwimmen hinunter.
Die Taube wollte nicht aufgeben, also spazierte sie zu einem Affen, der hoch oben in den Wipfeln die Blätter pflückte.
„Lieber Affe, bitte bring mir das Klettern bei", bat die Taube.
Doch der Affe hörte sie nicht. Also sah das Taubenkind nach, ob es einen anderen Weg nach oben gab. Abermals scheiterte sie. Ihr Körper war viel zu breit gebaut, um sich an den dünnen Ästen entlangzuhangeln",
„Gleich kommt meine Lieblingsstelle!", platzte ich heraus und setzte mich kerzengerade auf den Boden.
Morris zwinkerte mir zu: „Plötzlich flog eine schwarze Gestalt an ihr vorbei. Es war der alte, weise Rabe. Als er bemerkte, wie traurig die Taube dreinblickte, stoppte er seinen Flug und landete auf einem umgefallenen Baumstamm.
„Was ist los?", fragte er krächzend.
„Ich kann gar nichts", heulte die Taube.
„Ach was", brummte die Krähe, „Du hast doch auch Flügel, also kannst du fliegen".
Ungläubig starrte die Taube den Vogel an. Sie glaubte ihm kein Wort. Trotzdem schaute sie an sich hinunter. Ihre Arme hatten keine Hände, geschweige denn Krallen. Hatte der Rabe vielleicht doch recht?
„Und wenn schon", das Taubenkind sank in sich zusammen. „Ich bin noch nie geflogen. Ich kann das nicht".
Da lachte der Rabe: „Naja, wenn du es nicht versuchst, wirst du es auch nie können",
„Was ist, wenn ich falle?",
„Dann stehst du wieder auf und versuchst es erneut"", Morris klappte das Buch zu, „Was glaubst du, wird passieren, wenn die Taube es probiert, Eliza?".
Ich musste bloß für einen Moment überlegen: „Sie wird nicht fliegen können".
Er nickte: „Das ist sehr wahrscheinlich. Denn wenn man etwas zum ersten Mal ausprobiert, ist man noch lange kein Profi", Morris sah mich an, „Was muss sie tun, damit sie besser darin wird?".
„Üben", mutmaßte ich.
„Und genau deshalb kommst du jeden Tag zu mir", behutsam strich er mir über den Kopf, „Damit du deine Flügel zu erkennen und zu benutzen weißt".
—
Um Morris nicht in die Augen schauen zu müssen, wenn er die Nachricht erfährt, beschloss ich ihm einen Brief zukommen zu lassen. Dieser musste sich allerdings erstmal schreiben, leider nicht von allein.
In einem hohlen Baumstamm verbarg sich eine Schreibfeder, die ich in weiser Vorsicht schon vor Jahren dort versteckt hatte.
An ruhigen Tagen kam ich hierher und übte das Schreiben für mich allein. Hierfür eignete sich das kleine Büchlein, welches mir Morris für meine Schreibübungen überlassen hatte, bestens. Nach einer freien Seite musste ich lange suchen, denn beinahe die ganze Fläche war mit Buchstaben voll gekritzelt.
Meine Schrift war eindeutig nicht die hübscheste, sodass es selbst mir schwerfiel, die Wörter zu entziffern. Doch jetzt musste ich mir Mühe geben, betete ich in meinem Inneren.
Lieber Morris, weiter kam ich nicht. Wie sagte man jemanden, den man seit seiner Kindheit kannte, dass man fortging? Er würde es verkraften, das wusste ich. Aber sorgen würde Morris sich trotzdem. Und das wollte ich auf keinen Fall.
Es fällt mir schwer, diese Zeilen für dich zu schreiben, mit dem Wissen dich womöglich eine lange Zeit nicht zu sehen. Du warst immer für mich da und hast mir so viel beigebracht, ohne etwas als Gegenleistung zu verlangen. Das werde ich dir nie vergessen, Morris. Dir verdanke ich mein Wissen über die wundervolle Welt der Bücher, aber du musstest gleichwohl viel Geduld mit mir haben. Ich möchte dir hiermit meine große Liebe mitteilen, die ich dir gegenüber empfinde. Du bist der beste Freund, der geduldigste Lehrer und gehörst längst zu mir, ebenso wie meine Familie. Auch wenn ich dich verlasse und versuche, mir als Zofe ein neues Leben im Schloss aufzubauen, werde ich dich niemals vergessen. Wenn du das liest, werde ich wahrscheinlich schon aufgebrochen sein. In Liebe, deine Eliza
Zu spät bemerkte ich die Träne, die meine Wange hinunter kullerte. Sie tropfte auf die Mitte des Papiers und breitete sich als Pfütze aus. Ich schniefte. Gleichzeitig bemühte ich mich, das Papier vor einem Wasserschaden zu retten, indem ich es mit meinem Kleid vorsichtig trocken tupfte.
Zum Glück waren nur wenige Teile eines Wortes verschmiert, sodass man den Text noch immer lesen konnte. Behutsam faltete ich die Seite in der Mitte und riss sie mit einem Ruck aus dem Buch. Ich strich, über die nun entstandene Lücke. Eine passende Symbolik für meine jetzige Situation, wie ich fand.
Später am Abend legte ich mich früh schlafen. Der Brief weilte unterdessen unter meinen Schuhen, die aneinandergereiht auf ihren Einsatz am nächsten Tag warteten.
Meine Eltern schliefen bereits, als ich mich auf meinen Platz hin und her wälzte. Heute schien der Boden noch härter, das Stroh kratziger und die Decke umso muffiger, als je zuvor. Mein pessimistischer Geist plagte mich mit dunklen Zukunftsaussichten, in welchen ich unter den grausamsten Arten mein Leben verlor. Dagegen präsentierten sich die Schuldgefühle in Form von feuernden Stichen in meiner Brustgegend.
An Schlaf war auch eine gefühlte Ewigkeit später nicht zu denken. Schließlich gab ich auf und zog mich an. Wenn ich schon nicht schlafen konnte, sollte ich wenigstens etwas Nützliches erledigen. Auf Zehenspitzen schlich ich aus dem Bauernhaus. Meine Hand umwickelte fest das Stück Papier, welches ich vorher sorgsam zusammengefaltet hatte.
Die Nacht war dieses Mal kälter, als in den Tagen zuvor. Umso dankbarer war ich, für den schwarzen Umhang, der sich an meinem Körper schmiegte, wie eine warme Hülle.
Auch der Mond hatte wieder etwas an Form verloren und war zudem von dichten Wolken verhangen. Nur wenig Licht schenkte er der ansonsten lichtleeren Umgebung.
Kurz darauf erreichte ich den geschlossenen Buchladen. Oberhalb des Geschäfts brannte eine Kerze auf der Fensterbank. War Morris etwa noch wach? Ich würde es wohl oder übel darauf ankommen lassen müssen.
Beiläufig hob ich eine Handvoll Kieselsteine vom Boden auf und warf sie gegen das beleuchtete Fenster.
Sogleich schob sich eine Gestalt zwischen den Vorhang, presste ihn beiseite, um schließlich das Fenster zu öffnen. Verdattert blickte mir Morris entgegen: „Was machst du denn um diese Tageszeit hier?".
„Ich kann nicht schlafen", sagte ich knapp.
„Ich mache dir auf. Eine Sekunde".
Daraufhin sperrte Morris den Hintereingang des Geschäftes auf und ließ mich herein. Auch er machte nicht den Eindruck, als hätte er bis gerade geschlafen.
„Ich muss mit dir reden", platzte ich heraus, „Eigentlich wollte ich dir einen Brief schreiben, aber ich fürchte das allein reicht einfach nicht".
Morris legte einen Arm um meine Schultern, während er mich die Treppe zu seiner Wohnung begleitete.
„Setz dich erstmal, liebes", liebevoll drückte er mich in seinen alten grünen Sessel aus Samt, „und jetzt, beginn von vorne. Was ist passiert?".
Die Liebe, die in seinem Blick aufleuchtete, rührte mich, woraufhin ich den Kopf rasch zur Seite drehte. Morris musste nicht sehen, wie ich mit den Tränen rang.
Dann streckte ich meinen Rücken durch und räusperte mich. „Es ist so...", stammelte ich, „Durch einen Zufall habe ich die Möglichkeit eine bezahlte Arbeit auf dem Schloss von Hirundo anzunehmen. Es geht schon morgen los...",
„Fühlt es sich richtig an für dich?", fragte Morris mit leiser Stimme.
„Naja, ich habe Schuldgefühle, weil ich dich und meine Familie im Stich lasse",
„Jeder von uns muss früher oder später seinen eigenen Weg finden. So auch du. Also frage ich dich nochmal, ob du dich wohl in deiner Entscheidung fühlst".
Ich seufzte. Morris wollte es immer ganz genau wissen und seltsamerweise stellte ich jedes Mal fest, dass es mir half meine eigenen Gedanken zu reflektieren. So auch jetzt:
„Ja, ich denke, wenn ich jetzt nicht gehe, werde ich für immer hier bleiben. Und das möchte ich nicht".
Die Worte waren schneller ausgesprochen, als ich denken konnte. Aber es stimmte: Ich passte einfach nicht in diesen Ort und vielleicht war mir das auch schon immer klar.
Morris zeigte keinerlei Trauer in seiner Reaktion. Im Gegenteil, er freute sich sogar und versicherte, dass wir uns irgendwann wiedersehen konnten.
Als ich ihm den Brief übergab, musste er mir versprechen, ihn erst zu lesen, wenn ich nicht mehr da war. Daraufhin verabschiedeten wir uns voneinander, indem Morris mich dicht an seine Brust drückte. Ein letztes Mal sog ich seinen wohlriechenden Geruch nach alten Büchern und Tabak ein. Bewusst verschloss ich diese Erinnerung in eine imaginäre Schatztruhe, beteuerte jedoch, sie, wann immer es nötig sei wieder hervorzuholen.
Auf dem Rückweg schaute ich nochmal bei der Boutique vorbei, die ebenso nichts-sagend an ihrem Platz weilte.
Doch das Kleid im Schaufenster war schon verschwunden. Ich konnte meinen Augen kaum trauen, bemühte mich jeden Winkel des Schaufensters zu erfassen.
Trotzdem blieb das Schaufenster leer. Zugegeben, ich beneidete den Käufer des Kleides. Ich selbst würde nie in den Genuss kommen, es zu tragen.
Dieser Gedanke beschäftigte mich noch wenig später, obwohl der Schlaf schon an mir riss und keinen vernünftigen Gedankengang mehr zuließ. Die letzte Nacht in meinem Bett. Die letzte Nacht in meiner Heimat. Die letzte Nacht als die alte Eliza.
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