Kapitel 3

Die Stille, die danach den Raum durchflutete, war kaum auszuhalten. Meine Mutter war die Erste, die sich wieder rührte:

„Ich hole den Besen", murmelte sie, eher zu sich selbst, als zu uns.

Ihre raue Stimme verriet, dass sie sich noch immer bemühte, die Tränen zu unterdrücken. Auch als ich, kurze Zeit später, die Mullbinden, aus dem zerstörten Schrank rettete und meinen, noch am Boden liegenden Vater versorgte, sprach niemand über die traumatisierenden Ereignisse der letzten Stunde. Nicht, dass ich es erwartet hätte, denn das Sprichwort „Schweigen ist Gold" wurde in unserer Familie zu wörtlich genommen.

„Es könnte gleich etwas brennen...", warnte ich meinen Vater vor, der krampfhaft die Augen zukniff.

Sein Auge leuchtete in lilanen Tönen und war kaum mehr als solches zu erkennen. Darunter blutete es stark, doch ich konnte die Ursache noch nicht ausmachen. Erst als ich mit einem Stück Stoff und Alkohol die rote Flüssigkeit entfernte, zeichnete sich die Schnittwunde unter dem Auge ab.

Diese Schweine, dachte ich, sie hatten wohl Klingen unter ihren Schuhen platziert.

Wieder stöhnte mein Vater und wand sich unter meinem Arm, mit welchem ich ihn auf meinem Schoß festhielt. Leise sprach ich auf ihn ein, selbst überfordert mit der Rolle, in der ich mich gerade befand.

„Könntest du ihn bitte zu unserem Bett bringen, damit ich hier sauber machen kann?", ich hörte mich selbst auflachen, als ich die Bitte meiner Mutter vernahm.

Ob es angesichts der Übertreibung Bett oder der Absurdität ihrer Aussage war, lässt sich im Nachhinein schlecht beurteilen. Doch auch ich hielt meinen Mund. Stattdessen half ich meinem Vater den Weg bis zur hintersten Ecke des Raumes zu schaffen und deckte ihn mit einer alten Stoffdecke zu. Sanft drückte ich ihm einen Kuss auf die Stirn, bevor ich ihm seinem Schicksal überlies.

„Wir müssen einen Arzt holen", brach ich die Stille, die wie eine Decke aus Metall auf meinen Schultern lag.

„Wovon denn?", nun war es meine Mutter, die auflachte, obwohl es keineswegs fröhlich klang.

Sie rieb den Besen inzwischen noch fester über den steinernen Boden, sodass der Staub in der Sonne glitzerte.

Lange konnte ich mir dieses Schauspiel, nicht mehr anschauen. Ich musste hier raus.

In diesem Moment fielen mir die Körbe ein, die ich vor dem Haus achtlos habe liegen lassen. Ein Teil in mir betete, dass sie auch noch heile an ihrem Platz auf den Verkauf warteten.

„Ich werde die Körbe verkaufen. Vielleicht haben wir dann heute Abend wenigstens etwas zu essen", verkündigte ich, wenngleich meine Mutter keine Reaktion zeigte.

Tief im Inneren wünschte ich mir, niemals die Hoffnung zu verlieren, ungeachtet der Tatsache, dass dies in diesem Haushalt, wohl unmöglich schien.

Unwesentlich viele Stunden später, besaß ich nur noch einen einzigen Korb, der aber immerhin mit einem Laib Brot und einem Stück  Fleisch gefüllt war.

Ich hatte Glück, denn heute drückten einige Händler ein Auge zu, als ich ihnen in ausführlichen Worten, die Funktion des Korbes erläuterte. Insgeheim wusste ich jedoch, wie ich meine – teilweise nervige – Gabe zur Kommunikation geschickt zu meinen Gunsten einsetzen musste, um die Menschen unauffällig zu beeinflussen.

Heute gelang dies weitaus besser, denn ich hatte ein Ziel: Die körperlichen Wunden, so vermutete ich, hatten meinen Vater weniger getroffen, als die psychischen. Womöglich würde ein Abendessen an einem reich gedeckten Tisch, die Sorge vor der Zukunft, zumindest eine Zeit lang überdecken.

Schlussendlich war auch der letzte Stand besucht, das letzte Gespräch ohne Erfolg geführt und trotzdem, noch immer ein Korb da. Meine Enttäuschung lag, aber aufgrund meiner bisherigen Errungenschaften, in Grenzen.

Zur Belohnung gönnte ich mir einen weiteren Ausflug in die Straße der Reichen und Schönen. Auch hier drängten sich die Menschen dicht aneinander und schoben sich gegenseitig in eine Richtung.

In dem Gedränge würde ich keinen Unterschied machen, sofern ich auch als Zofe, oder Nanny für ein reiches Ehepaar hätte arbeiten können. Daher trauerte ich nicht darum, meinen Umhang dieses Mal nicht mitgenommen zu haben. Für einen kurzen Abstecher zu Morris würde es reichen, denn das Buch, welches ich vorsichtshalber um meinen Bauch gebunden hatte, wurde sicher schon von ihm vermisst.

Nachdem ich die kleine Gasse betreten hatte und nach links abgebogen war, konnte ich die Fassade meines persönlichen Paradieses erkennen. Die bodentiefen Fenster schienen jahrelang nicht mehr gereinigt worden sein und es bildete sich bereits eine dicke Staubschicht darauf. Morris war das nur Recht, da so das Innere seines Geschäftes unheimlicher und mysteriöser wirkte.

Blickte man an den Fenstern hinauf, so konnte man die Wohnungen erkennen, die sich darüber erstreckten. In einer davon wohnte Morris. Allerdings konnte man sie allein von der Einrichtung nicht von dem kleinen Laden unterscheiden. Auch dort stapelten sich Büchertürme in die Höhe, nur gab es hier ein Bett und mindestens einen Stuhl mehr.

Ich schluckte, als mich die längst vergangenen Erinnerungen an die Zeit, in der Morris mein Lehrer war, überkamen. Bis spät in der Nacht, brüteten wir damals an meiner Fähigkeit mich auszudrücken und Geschichten zu erschließen.

Ihm war es wichtig, dass ich nicht nur den oberflächigen Aufbau eines Romanes verstand, sondern auch die Beziehungen, der Figuren untereinander analysierte.

„Bücher und das wahre Leben unterscheiden sich nicht im großen Maße voneinander", sagte er oft, „Menschen haben mehr als nur ein Gesicht, auch wenn es im wahren Leben deutlich komplizierter ist, dies zu erkennen".

Und mitten drin, prangten mehrere Messingbuchstaben, welche die Worte Browns Books ergaben. Morris Nachname passte vortrefflich zu Büchern, dass es nicht schwer gewesen war, ihn zu überreden, den Namen seines Geschäftes zu ändern.

Beiläufig warf ich das Brot auf den Boden und tat so als würde ich es mühselig wieder auf meinen Korb platzieren. Derweil, riss ich das Buch von meinem Bauch und legte es in den gewaltigen Briefkasten, der sich jetzt genau auf meiner Höhe befand. Dann deponierte ich das Brot wieder in den Korb, rückte rasch mein Kleid zurecht und entfernte mich von Browns Books.

Auf meinen Rückweg hatte sich eine große Menschentraube vor einem Schaufenster aufgetan. Diese bestand hauptsächlich aus jungen Frauen und Mädchen, doch auch männlich gelesene Personen reckten neugierig die Köpfe. Meine geringe Körpergröße, machte es mir nicht leicht, die Attraktion auszumachen. Folglich drängelte ich mich zwischen einer jungen Frau und einem Mann nach vorne, die mich sofort mit bösen Blicken bestraften. Entschuldigend hob ich die Hand, wandte mich dann aber wieder in Richtung des Schaufensters.

Inmitten des großen Fensters, platzierte ein Mann eine blasse Schaufensterpuppe, die trotz des fehlenden Kopfes und des nackten Körpers beinahe anmutig drein blickte.

Um den Hals des Mannes befand sich ein Maßband, welches er im selben Augenblick an die Hüfte des Mannequins legte. Gelegentlich notierte der Mann etwas in einem kleinen Heft, dass er immer wieder aus seiner beigen Stoffhose heraus nahm.

Sogleich schien die Spannung um mich herum bis ins unendliche zu wachsen und auch ich wurde von der steigenden Erwartung angesteckt. Tatsächlich aber, konnte ich nicht erspähen, worauf, die Menschen warteten.

Beinahe zwei Minuten später, verschwand der Mann hinter dem dunkelgrünen Vorhang, der den Hintergrund des Schaufensters ausfüllte. Doch es dauerte nicht lange, da kehrte er mit einem schwarzen Objekt wieder zurück.

In diesem Augenblick streckte sich vor mir eine Frau in die Höhe, welche mir mit ihren blonden Locken die Sicht versperrte. Seufzend drehte ich mich nach links und rechts, wobei ich fieberhaft nach einer Lücke suchte. Auf meiner linken Seite fand ich sie: ein Pärchen, welches gerade imstande war den Ort zu verlassen, hatte den Rand der Menge genutzt, um das Schaufenster seitlich zu erkennen. Mit flinken Füßen wechselte ich den Platz.

Als ich hochblickte, blieb mir der Atem stehen. Mittlerweile war die ehemals nackte Schaufensterpuppe, in einem edeln, schwarzen Kleid aus feinem Samt gekleidet. Es reichte bis zum Boden und formte dort einen See aus locker fallendem Stoff. Ferner umspielte schwarze Spitze, sowohl das Dekolleté, als auch die Arme der Puppe.

Noch immer stand mein Mund weit offen. Denn ich war davon überzeugt, noch nie so einem betörenden Kleid begegnet zu sein. Ich stellte mir vor, dass sich der samtige Stoff an meinen Körper schmiegte, ich die Treppen eines Ballsaals hinunter schreite und sich einen Augenblick lang, alle Köpfe nach mir umdrehten. Wie muss es sich nur anfüllen, sich jeden Tag ein neues Kleid auszusuchen? Geschweige denn, ein Neues zu kaufen.

Ich gestand es mir nur selten ein, doch ich schätze, in meinen Träumen war ich schon lange Herrscherin eines friedlichen Landes, mit einer prachtvollen Bibliothek und einem umso größeren Zimmer nur für meine Kleider.

Nachdem die meisten Menschen die Attraktion aus nächster Nähe begutachtet haben, löste sich die Menge auf. Niemand hier, obgleich arm, oder reich, hätte sich das Kleid leisten können. Dies war etwas Einmaliges. Etwas, was nur Angehörige eines königlichen Standes besaßen.

Gerade als ich mich von dem Anblick losreißen konnte und den Heimweg in Richtung des Marktplatzes antreten wollte, ritt ebendort ein schmal gebauter Mann in die Mitte des Platzes. Sein weißes Pferd kam hier zum Stehen, während er schon die Zügel löste.

Aus einer Tasche, seitlich am Sattel, kramte er eine Schriftrolle hervor, die er kurzerhand vor seinem Gesicht aufrollte und zu vorlesen begann.

Keine Frage, dieser Mann hatte den weiten Weg von der Burg bis hier hin im Auftrag des Königs geritten. Dies verriet das Wappen, welches an dem Halfter des Pferdes klebte.

„Im Namen des Königshauses Hirundo, verkünde ich folgende Botschaft:", hier machte der Mann eine Pause und blickte verheißungsvoll in die Menge, „Im Schloss werden arbeitsfähige Zofen gesucht, die im Gegenzug eine Unterkunft, sowie regelmäßige Mahlzeiten erhalten. Da die Plätze begrenzt sind, melden Sie sich bitte unverzüglich an. Wir erwarten Sie an den Mauern der Burg. Es lebe der König und die Königin".

Seine Stimme wurde bei jedem Wort lauter, sodass er die Aufmerksamkeit aller fest in seiner Hand hatte. Insbesondere aber meine.

War dies ein Zeichen?  Hatte ich wirklich das Zeug dazu, um als Zofe ausgebildet, dem Königspaar meine Dienste zu erweisen?

Was war der Preis dafür? Ich stockte. Könnte ich wirklich meine Familie, Morris und die Stadt verlassen, um in eine mir fremde Umgebung nochmal ganz von vorne zu beginnen? Aber vor allem, war es das wert, meine Familie ihrem alleinigen Schicksal zu überlassen? Anderseits hätten sie eine Last, allerdings auch eine Arbeitskraft weniger.

Trotz meiner hitzigen Diskussionen, die in meinem Kopf stattfanden, war meine Entscheidung eigentlich schon gefallen. Ich würde gehen, ungeachtet der Risiken, die mich dort erwarteten.

Später saß ich am kleinen Esstisch, der von dem bisschen Brot und Fleisch bereits überfüllt schien. Meine Mutter befand sich zu meiner Rechten, während mein Vater sich mir gegenüber stumm ein Stück Brot abriss.

Er war noch immer sehr blass: Die Lebendigkeit in seinen Augen fehlte. Bisher hatte er kein Wort gesprochen und wir passten uns dem an. Aufgrund dessen hatte ich mich noch nicht getraut, das heikle Thema anzusprechen. Zu groß war die Angst vor einem Konflikt, welchen ich mich am liebsten vollends entziehe.

„In der Stadt traf ich heute auf einen Botschafter des Königshaus", mein Mund wurde trocken, während ich die wenigen Worte stammelte.

Ungeachtet dessen nickte meine Mutter desinteressiert. Sie war, aufgrund der offensichtlichen Gründe, nicht gut auf das Königspaar und alles was dazu gehörte zu sprechen. Übel nehmen konnte man es ihr gewiss nicht.

„Er verkündete, dass Frauen dort Arbeit bekommen, wenn sie sich dort melden. Dafür würde man Nahrung und einen Platz zum Schlafen erhalten".

Mein Vater erstarrte, sah erst mich, dann meine Mutter an.

„Das ist nicht dein Ernst, Eliza, oder?", formulierte sie den Gedanken.

„Ich sehe hier keine Zukunft für mich. Wir wissen doch alle, dass ich eigentlich viel zu alt für all das bin", ich deutete mit meinen Händen einen Kreis an.

Die Worte verließen automatisch meinen Mund. Und trotzdem ergaben sie alle einen Sinn, denn sie schlummerten wohl schon lange tief in mir drin: „Ich liege euch nur auf der Tasche und bin noch nicht mal in der Lage euch auf dem Feld zu helfen, da es nicht genügend Arbeit für alle gibt. Meine Körbe erbringen nur Essen. So könnt ihr niemals die Schulden abbezahlen", ich hielt inne und biss mir auf die Unterlippe, „ich möchte nicht, dass sowas wie heute Morgen noch ein mal passiert...".

Als ich wieder aufsah, wischte sich meine Mutter eine Träne von der Wange. Ein Wunder, dass sie immer noch welche hatte.

„Das kannst du nicht machen, Liebling", begann meine Mutter, „Ein Fehltritt und der König wird dich grausam bestrafen. Man sagt, niemand sei gewalttätiger und gnadenloser als er. Selbst vor seiner Frau macht er keinen Halt...", obgleich ich über die Erzählungen Bescheid wusste, jagten mir die Schilderungen über den König einen Schauder über den Rücken.

Ich war ihm nie begegnet, glaubte jedoch, auch seine Anwesenheit würden diese Reaktionen im gleichen Ausmaß auslösen. Angesichts dessen nahm ich mir einen Moment Zeit, um mich zu sammeln:

„Ihr braucht euch nicht um mein Wohlbefinden zu sorgen. Ich werde vorsichtig sein. Außerdem werde ich ihm sowieso nie begegnen. Vermutlich werde ich in der Küche, oder im Stall eingesetzt".

„Das tut nichts zur Sache", wies meine Mutter ab, „Du gehst nicht. Basta".

Die Entschlossenheit in ihrem Blick erlöste die Traurigkeit, die bis vor kurzem noch in ihren Augen strahlte.

Beiläufig nahm mein Vater die Hand meiner Mutter in seine. Die Bewegung kostete ihm sichtlich Kraft. Er räusperte sich, ehe er mit ruhiger Stimme das Sprechen begann:

„Wir können dich nicht zwingen hier zu bleiben. Das ist – zumindest mir - mehr als bewusst. Dennoch haben wir Angst um dich. Vermutlich wird sich das auch niemals ändern".

Seine Finger fuhren über die faltige Hand meine Mutter und drückte sie.

„Nicht desto trotz weiß ich, dass du eine intelligente und starke Frau bist. Und das  macht mir Hoffnung, dass du vorsichtig mit deinem Leben umgehen wirst",

„Uns zur Liebe...", ergänzte meine Mutter kleinlaut.

Langsam trat ich zu den beiden, legte meine Arme um ihre Schultern und zog sie in eine feste Umarmung.

„Ich liebe euch", flüsterte ich, „ich bin immer bei euch, denn ihr tragt meine Liebe in eurem Herzen".

Damit war die Sache beschlossen. Morgen würde es losgehen.

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