Kapitel 10

Bis sich meine neu gewonnen Erkenntnisse zu einer Schlussfolgerung formatierten, dauerte es länger als gewöhnlich. Zwar erkannte ich das Buch aus Morris Buchhandlung auf Anhieb, dennoch konnte ich mir einfach nicht vorstellen, dass es sich bei der Person, die ich beobachtet, hatte, um die Königin gehandelt hatte. Zumal Morris ebenso keine Anstalt gemacht hatte, sich in besonderer Art und Weise der Kundin gegenüber zu verhalten. Des Weiteren war da noch die Sache mit der Hose: Sie hatte es eindeutig darauf angelegt, weder als Königin, noch als Frau wahrgenommen zu werden. Verübeln konnte ich ihr dies aber keinesfalls. Wenn ich die Wahl gehabt hätte, wäre ich sofort in die Rolle eines stattlichen Mannes geschlüpft, inklusive aller Vorteile, die einer Frau verwehrt blieben.

Trotz dessen, dass die Königin das Privileg besaß, offiziell das Lesen und Schreiben zu beherrschen, war es nicht gern gesehen, wenn die Interessen einer Frau in etwas anderem als Stricken und Tanzen lagen. Die Intelligenz einer Frau wurde eben schon immer unterdrückt, um das fragile Ego eines Mannes nicht zu verletzen. Da schien es auch egal, wenn die Frau ihr einziges Leben darauf verschwendete, dem männlichen Geschlecht zu dienen. Als hätte Gott – der natürlich ebenfalls nur ein Mann sein konnte – die Frau nur aus dem Grunde erschaffen, weil ein Mann alleine nicht überlebte. Dabei zeigt dies doch nur umso deutlicher, dass das männliche Geschlecht in Wirklichkeit das Schwächere ist. Damals fragte ich mich häufig, ob ich die Einzige war, die so dachte, oder ob alle Stillschweigen bewahrten, aus Angst vor einer unbekannten Veränderung. Bis dahin muss man sich eben zu helfen wissen: Und scheinbar tat dies die Königin mit außergewöhnlicher Bravour, die man nur bewundern konnte.

Den Schmöker schob ich beiseite, denn um meine Vermutung zu unterlegen, musste ich schließlich noch die Gedichtbände finden. Meine Hand fuhr unter das Bett. Körniger Staub verfing sich auf meiner Haut, der unangenehm kitzelte. Kurz bevor ich aufgeben wollte, stieß ich mit meinen Fingern an etwas Hartem. Im Handumdrehen zog ich es unter der hölzernen Schlafgelegenheit hervor. Sofort stellte ich fest, wie verstaubt die beiden Bücher waren, obwohl hier scheinbar regelmäßig geputzt wird. Ein offenes Geheimnis, mutmaßte ich.

Sicherheitshalber drehte ich mich mit dem Rücken zur Tür, da ich keinesfalls von der Hofdame erwischt werden wollte. Nichtsdestotrotz siegte meine Neugier: Es handelte sich um ein Werk eines oströmischen Dichters. Das Buch selbst war in einer schnörkeligen Handschrift verfasst, obgleich mir dies keine Probleme machte, die formellen Buchstaben zu entziffern. Diese bildeten nämlich Liebesgedichte – eine Vielzahl von Liebesgedichten. Sollte die Königin sich etwa an kitschigem Lesestoff erfreuen? Die vergilbten Seiten lösten sich schwerfällig voneinander, sodass ich mir eines der Gedichte genauer ansah: „Ach wir Armen! Die Jünglinge lieben nicht, wie wir lieben:

Wenn Verlangen sie quält, trösten einander sie sich,

Suchen Freunde, vertrauen dem Freunde den Kummer der Seele,

Suchen Zerstreuung, sehn Auen und Menschen und Kunst.

Und wir eingeschlossene, kleinmütige Seelen,

Einsam zehren wir uns liebend und sehnend ins Grab" (Agathias, Beiname Scholastikos)

Erstaunlicherweise umhüllte mich beim Lesen ein Gefühl von sehnsüchtiger Trauer, nach der geschilderten Emotion. War es der Männerhass, der mich von Empfindungen wie Leidenschaft und Begierde abhielt? Mein Inneres war zerrissen. Wenngleich ich wahrlich nicht häufig darüber nachdachte, war es ein bisher unerkanntes Streben nach Liebe, welches sich in meiner Brust ausbreitete. Freilich hatte ich bis zu dieser Stunde kaum erahnen können, wie sich diese seelischen Regungen äußern. Indes war mir die trauernde Seite des Gedichts nicht entgangen. Bislang hatte ich wahrgenommen, dass die Liebe ohne den Schmerz nicht funktionieren kann, weil Extreme miteinander einhergehen müssen. Wenn ich das unendliche Glück wollte, musste ich den höllischen Schmerz akzeptieren. Ob ich dazu in der Lage war, konnte ich nur erahnen.

Plötzlich hörte ich Schritte auf dem Flur. Kurzerhand quetschte ich die Bücher wieder in ihr staubiges Gefängnis und stützte mich vom Boden ab. Die staubigen Hände rieb ich vorsorglich an dem seidigen Stoff ab, der die Unterseite des Bettes auf beiden Seiten bedeckte. An ihm ragten schmale Fäden hinunter, die in kleine Zöpfe geflochten waren und so Einblicke verhinderten.

Die Tür ging auf. Mein Körper vergaß zu atmen. Die Luft wollte meinem Körper nicht entweichen, also zwang ich sie. Elidh sagte kein Wort. Dementsprechend blieb ich ebenfalls stumm, während ich mich umdrehte und unsicher einen Knicks vollführte. Noch immer verharrte sie an Ort und Stelle, obgleich sich ihr Augen bewegten. Sie glitten über meinen Körper, als suche sie nach einem Beweis für meine Existenz, stoppten schließlich in meinem Gesicht.

Die Königin schloss hinter sich die Tür und mit sich möglicherweise auch die letzte Motivation zur verbalen Kommunikation. Befremdlich fand ich meine Reaktion darauf, da es mich nicht störte. Im Gegenteil. Mir war bewusst, was mir gleich bevorstand und ein sinnloses Gespräch wäre sowieso mehr als fehlplatziert.

Madame Thurgood hatte mir mitgeteilt, dass die Königin Hilfe beim Umziehen benötige. Das enge Korsett war – trotz der Hochwertigkeit des Materials – nicht dazu ausgelegt, sich ohne Weiteres zu lösen. Sie sagte es, als sei es das Normalste der Welt, dabei hatte ich noch keinen Menschen zuvor unbekleidet gesehen. Infolgedessen nahm ich mir vor, mithilfe einer imaginären Mauer Distanz zu ihr – der Königin – aufzubauen. Aber wie war dies möglich, wenn sie mich immer so ansah?

Nun war es mir doch lieber gewesen, sie hätte mit mir gesprochen. Doch sie machte keine Anstalten dazu. Stattdessen drehte mir die Frau den Rücken zu. Ihr kinnlangen Haare bedeckten die freie Fläche ihres Nackens, welcher ansonsten von dem roten Stoff ihres Kleides geschützt war. Ich schluckte. Die Mauer bröckelte.

Zurückhaltend ergriff ich die erste Schleife des Schnürschutzes, entwirrte sie, sodass danach die zweite folgte. Ich vernahm das wohlige Ausatmen der Königin, Stück für Stück freier von dem Hindernis an ihrer Brust. Bis ich die letzte Schleife öffnete, dauerte es lediglich wenige Sekunden. Infolgedessen löste sich das Korsett wie von selbst von dem Oberkörper der Königin. 

Als Nächstes folgte das Kleid. Dies war ausschließlich mit Knöpfen befestigt. Diese ließen sich nicht öffnen, ohne dass ich näher kam. Ich war ein Stück kleiner als sie. Elidh musste meinen Atem auf ihren Nacken bemerken, während ich ihre Lungen unter meinen Fingern arbeiten spürte. Es war gleichmäßig. Keine Spur von Anspannung, oder dergleichen. Und wieder fiel ein Stück meiner Mauer hinunter und polterte lautstark auf den Untergrund

Der samtige Stoff fiel von ihren Schultern. Weiterhin blickte sie geradeaus ins Nichts. Ich hatte keine andere Wahl, als ihre Arme zu packen und diese aus den Ärmeln zu entfernen. Wie eine Puppe ließ sie es geschehen.

Als Nächstes gesellte sich der Unterrock zu den restlichen Kleidungsstücken und entblößten lange Beine, die kaum einen Schritt alleine gehen mussten. Das zarte Leibhemd, was ausschließlich den restlichen Körper bedeckte, war meine letzte Hürde. Ich bezweifelte die Standhaftigkeit meiner Mauer. Schließlich berührten meine Fingerkuppen ihre Haut, suchten einen Weg, sie aus dem Hemd zu befreien, bis sie den Stoff über ihren Kopf zogen. Der Anblick des entkleideten Rückens erschrak mich dermaßen, dass mir ein leiser Schrei entfuhr: Dieser war nicht wie der restliche Körper wohlbehalten. Hier traf eine Narbe auf die andere, umrandet von dunkelgrünen Flecken, die sich über die ganze Fläche erstreckten. Fast war ich versucht, die Narbe zu berühren, riss mich jedoch zusammen, obgleich die Mauer nur noch einen heilen Stein besaß. Die Stille in dem Raum machte mich nun fast wütend. Trotzdem zuckte die Königin nicht zusammen, als ich ihr das Nachthemd über den Kopf schob und es wie von selbst den Weg über ihren Rücken fand. Wer hatte ihr das nur angetan? Die Wunden wirkten nicht sonderlich alt und waren sicherlich auch im Schmerzempfinden noch höchst präsent.

Für die Schuhe musste sich die Königin auf ihrem Bett niederlassen. Jetzt hatte mich ihr Blick gefangen, weshalb ich es nicht wagte meinen Kopf zu heben. Ihre Füße warteten vor meinem Gesicht. Die Königin roch sauber, nach Rosen und wohltuendem Lavendel. Es umhüllte einen, als würde man von ihr persönlich umarmt werden. Dabei wirkte beinahe alles an ihr einfach nur abwesend. Fern von der Realität. Womöglich faszinierte es mich. Und ich wollte mehr davon kennenlernen – von ihrem wahren Wesen. Jenes, welches Gedichte liest und sich für Pflanzen interessiert.

Dann folgte der zweite Schuh und zugleich der letzte Stein. „Wer tut Ihnen das an, Majestät ?", das Risiko, in welches ich mich begab, ging ich dieses Mal gern ein. Keine Antwort. Stattdessen entriss die Königin ihren Fuß: „Danke, du darfst jetzt gehen". Ich blickte auf. Ihre Augen hatten sich zu dunklen Schlitzen gewandelt. Dieses Mal behielt sie den Blickkontakt nicht aufrecht, sondern wandte sich zum Gehen in das im Zimmer angrenzende Badezimmer. Ich startete keinen neuen Versuch, überließ sie ihrer selbst und verließ den Raum so schnell ich konnte.

Wenig später fand ich mich in der Küche wieder. Madame Thurgood hatte sich neben einem Haufen an Geschirr aufgestellt, sodass sie in aller Ruhe die Anwesenden herumkommandieren konnte. „Ich muss mit Ihnen sprechen, Madame", nutzte ich einer ihrer kurzen Pausen. „Nicht jetzt. Siehst du denn nicht, dass ich beschäftigt bin ?", ihr Ärger war kaum zu überhören. „Es ist wichtig, mir ist etwas aufgefallen, worüber ich nicht schweigen kann...", begann ich vorsichtig und versuchte aus ihrer Reaktion zu lesen. Sie seufzte, wobei sie trotzdem wenig Interesse heuchelte. „Die Königin hat großflächige Verletzungen an ihrem Rücken". Ihre Antwort folgte prompt: „Eure Majestät ist in letzter Zeit häufig vom Pferd gefallen. Außerdem geht dich das überhaupt nichts an. Du solltest deinen Blick gesenkt halten, wenn sie vor dir steht, das gilt insbesondere in solchen Situationen". Ich zog eine Braue hoch. Wohl kaum zeugten diese Blessuren von einem Sturz. Wen oder was wollte die Hofdame decken ? Doch ehe ich mir dementsprechend meinen Kopf zerbrechen konnte, teilte mir Madame Thurgood den Spüldienst zu.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top