Zwischen den Gleisen


Immer das gleiche Szenario ...

Es war mitten am Tag und es musste Sommer sein. Zumindest war das eine der logischen Erklärungen, die sich Leon selbst gab, wenn der Traum wieder einmal gekommen war. Er und der andere lagen eng umschlungen zwischen Bahnschienen auf den Schwellen. Ihre nackten Oberkörper waren leicht gebräunt und wenn Leon versuchte, sich an mehr Details zu erinnern, dann sah er sich unten liegen, während der andere sich an ihn drängte, ihm durch die kurzen Haare strich und ihn küsste. Und wie!

Das war immer der Moment, in dem er erwachte. Manchmal glaubte er, noch den angenehmen Hauch eines Aftershaves in der Nase zu haben oder den Geschmack von Spearmint im Mund. Ausgerechnet! Leon kaute, wenn überhaupt, dann Kaugummi mit Cassis. Aber das war noch das kleinste Rätsel, das ihm seine nächtlichen Erlebnisse auf den Gleisen aufgaben. Wenn es nur darum gegangen wäre, dass er schwul war, dann war der Traum vollkommen nutzlos. Das wusste er spätestens seit der 9. Klasse, als er sich in den neuen Mitschüler verknallt hatte. Ein Angeber mit nichts im Kopf außer Fußball, Zocken und Mädchen. Aber ein sexy Angeber. Leider. Leon hätte was darum gegeben, sich nicht völlig bescheuert nach ihm zu verzehren. Mario hieß der, „wie Mario Götze". Was für ein Flachwitz! Vom Typ her aber waren sich Mario, also der aus der Neunten, nicht der Fußballer, und der heiße Top aus Leons Traum schon sehr ähnlich. Dunkles Haar, breite Schultern, die Augen unter dichten Wimpern hell und strahlend blau wie das Eis eines Gletschers und ein Knackarsch in der Hose, den Leon in seinem Traum nur zu gern erkunden wollte.

Was ihm allerdings Sorgen bereitete, abgesehen davon, dass er diesem Traumtypen in echt noch nicht begegnet war und womöglich nie begegnen würde, war die Symbolik der herannahenden Züge, deren Gerumpel nichts Gutes verhieß. Warum zum Geier, machte ihm das solch eine Angst? Homosexualität war letzten Endes genauso normal wie Kaugummi kauen. Diese Textzeile der Ärzte sagte sich Leon immer wieder. Trotzdem kam der Zug im Traum bedrohlich näher und Leon kam sich morgens vor wie ein Idiot.

Zugegeben: Er war der einzige Sohn seiner Eltern und als solcher ihr Ein und Alles, doch das bedeutete auch, dass sie damit klarkommen müssten, nicht Großeltern zu werden. Jedenfalls nicht auf herkömmlichem Wege. Und sie wären urplötzlich die buntesten Hühner im Dorf, also die mit dem Schwuli-Sohn, zumindest für eine kleine Weile. Das wäre schon ein Drops, den sie erstmal zu schlucken hätten. In jedem Fall wäre es höchste Zeit, dass Leon mit offenen Karten spielte. Es würde ja nicht einfacher werden, wenn er länger mit seinem Coming-Out wartete.

Er nahm sich also vor, es beim nächsten Besuch zuhause hinter sich zu bringen. Komme, was da wolle. Er könnte sich freitags nach der Uni auf den Weg machen und auch wenn er sie nicht am selben Abend damit überfallen würde, könnte er es doch am Samstag machen. Dann hätten sie am Sonntag Zeit, sich an den Gedanken zu gewöhnen und abends wäre er dann wieder zurück in Berlin.

So die Theorie.

Vielleicht hätte es auch wie geplant geklappt, wenn Leon sich ganz darauf konzentriert hätte, aber am Donnerstagabend, machte er sich mit zwei Freunden – nur Freunden – auf, um im „Chez Charlene", einer angesagten Mischung aus Gay Bar und Varieté, noch ein Bierchen zu zischen. Dort war reichlich Betrieb, denn jeder Abend nach Mittwoch zählte in Kreuzberg bereits zum Wochenende, und Leon ließ sich nur zu gern von der Stimmung im Laden anstecken. Aus den Boxen dröhnte Musik von Erasure bis Lady Gaga und bereits nach dem dritten Bier zog es Leon auf die Tanzfläche. Er tanzte immer gern, auch nur für sich, doch bald schon fiel ihm ein anderer Tänzer in Jeans und hautengem T-Shirt auf, der seinen durchtrainierten Körper geradezu verboten gut bewegte. Und nicht nur das: Soweit Leon es bei abwechselnd pink und cyan leuchtendem Scheinwerferlicht erkennen konnte, war er dunkelhaarig mit hellen Augen. Alle Versuche das zu ignorieren, nachdem er es gesehen hatte, schlugen fehl und obendrein schien es so, als hätte Leon plötzlich einen Elektromagneten angeschaltet, der den heißen Typen direkt zu ihm herüberzog. Er grub ihn an. Und wie!

„Bist du öfter hier?", vernahm Leon knapp bei lautem Bassdröhnen.

Er versuchte, lässig zu wirken und nickte. „Meist am Wochenende."

Der andere grinste und hörte nicht auf, Leon anzutanzen. Es lief.

„Hast du schon was vor heute Nacht?" Seine Stimme dicht an Leons Ohr, dazu der Hauch von Spearmint.

„Denke schon", gab er zurück und zwinkerte dem Tänzer zu. „Aber nicht hier."

„Hast du es weit?"

„Nein, du?"

Der andere schüttelte den Kopf und ließ die Hüften aufreizend kreisen. Damit war die Sache gebongt und sie müssten sich nur noch einigen, zu welchem von ihnen sie nun umziehen wollten. Der sexy Tänzer übernahm schließlich die Initiative. Kaum war der Song vorbei, packte er Leon bei der Hand und zog ihn hinter sich her. Wobei ziehen echt übertrieben war: Leon folgte wie auf Schienen.

Während die beiden so die zehn Gehminuten um drei Häuserecken zurücklegten, kamen sie kurz ins Gespräch.

„Ich heiße übrigens Leon, und du?", begann dieser ohne Umschweife. Irgendwelche Floskeln und Höflichkeiten konnten sie sich getrost sparen, fand er, wenn sie schon unterwegs waren zu einem One-Night-Stand.

„Hi Leon, ich bin Fatih."

„Das ist türkisch, oder?"

„Alter, ich bin Deutschtürke."

„Du hast blaue Augen ..."

„Ja, na und?"

„Nix, alles gut. Siehst klasse aus."

Fatih lachte. „Danke, du auch. Ich wohne übrigens im fünften Stock."

Sie waren an einem dieser typischen Kreuzberger Mietshäuser angekommen, mit Grafitti an der Eingangstür und einem kaputten Fahrrad davor. Der sexy Deutschtürke deutete nach oben.

„Nix wie rauf!"

Oben angekommen fielen sie gleich hinter der Tür übereinander her. Leon wollte noch anmerken, dass Fatih einen schönen Flur hatte, doch da spürte er schon dessen Lippen auf seinen. Sein Puls fuhr direkt in die Höhe und belustigt stellte er fest, dass es gar nicht so einfach war, nach dem Treppensteigen koordiniert zu küssen. Beide lachten und schnauften etwas, dann schob Fatih Leon weiter hinein in die Wohnung, während sie eilig ihre lästigen Klamotten loswurden. Jacken, Shirts, Jeans, alles musste weg, weg, weg, bis sie endlich, so wie Gott - oder Allah - sie geschaffen hatte, miteinander ins Schlafzimmer taumelten. Fatih sah nicht nur verboten gut aus, er fühlte sich auch verdammt gut an. Etwas größer als Leon war er und deutlich trainiert, mit wohl definierten Muskeln an den richtigen Stellen. Dabei war er kräftig und beweglich, was Leon bereits beim Tanzen aufgefallen war. Ohne Mühe dirigierte der Deutschtürke Leon rückwärts auf die Matratze und positionierte sich rittlings über ihn. Beide waren bereits sichtlich erregt, doch noch begnügten sie sich mit hungrigen Küssen und damit, ihre Leiber mit den Händen zu erkunden. Leon strich Fatih über die kräftigen Schenkel und den knackigen Po. Dieser beugte sich hinunter und strich ihm über Brust und Schultern. Dabei rieben sich ihre Erektionen immer wieder aneinander, was prickelnde Schauer über ihre Haut jagte. Endlich erkannten sie am Blick des anderen, dass sie bereit waren, weiterzugehen. So ließ Fatih kurz von Leon ab, der sich voller Erwartung in den Kissen räkelte, seinen stattlichen Liebhaber aber keineswegs aus den Augen verlor, während der sich routiniert mit einem Kondom und Gleitgel vorbereitete.

„Kann's losgehen?", fragte Fatih dann, als er sich in Position brachte und Leons Bestätigung mit einem Lächeln kurz abwartete.

Dieser atmete tief durch, konzentrierte sich darauf zu entspannen und gleich darauf konnte er spüren, wie Fatih behutsam, aber bestimmt eindrang. Dabei trafen sich ihre Blicke erneut und Leon fühlte unmittelbar ein leichtes Ziehen und mehr noch ein lustvolles Erzittern, während sich Fatih vorschob. Beide atmeten vernehmlich und hielten für einen Augenblick inne, bis Leon das nächste Signal gab. Er legte seine Arme um Fatihs Schultern und nickte kurz, worauf dieser anfing, sich zu regen. Sogleich setzten bei ihm heißkalte Schauer ein, die sich mit den rythmischen Schüben des Deutschtürken steigerten. Dieser beugte sich während ihres Liebesspiels immer wieder zu Leon herunter, um ihn mit gierigem Verlangen zu küssen. Dieser erwiderte nur allzu gern und verfiel regelrecht in einen Rausch. Das Blut pulsierte in seinen Adern und brauste ihm in den Ohren. Der Geschmack Fatihs auf seinen Lippen, gemischt mit Spearmint, betörte ihn ganz und gar. Das heftige Beben in seinem Innern, die unerbittliche Reibung zwischen seinen Schenkeln, das alles ließ ihn wimmern und sich winden.

Auch Fatihs Verzückung war inzwischen überdeutlich. Sein Atem ging laut und heiß, dort wo er sich mit dem von Leon mischte oder dessen Haut traf. Ein glitzernder Schweißfilm überzog seinen Leib und seine Stöße kamen in immer kürzeren Abständen mit unnachgiebiger Kraft. Lange würde es nicht mehr dauern, bis beide jungen Männer an ihren Höhepunkt gelangten. Leons Hände hatten sich inzwischen in Fatihs dunklem Schopf verfangen, an dem er unwillkürlich zog. Gleichzeitig legten sich seine Beine um dessen Hüften, was es ihm ermöglichte, noch tiefer vorzustoßen. Dies brachte Leon nun regelrecht um den Verstand. Er warf den Kopf nach hinten ins Kissen und stöhnte vor Lust. Sein Blick ließ sich nicht mehr fokussieren und schließlich kam er völlig unvermittelt mit einem Aufbäumen. Leon stöhnte vor Erleichterung, Fatih registrierte es, indem er ein „Woah" in ihren Kuss seufzte, dann, nach nur wenigen weiteren Schüben, kam auch er, hob den Kopf in den Nacken und suchte dann nach Leons Blick.

„Alles gut?" erkundigte er sich mit erschöpfter und zugleich rauer dunkler Stimme.

Leon brauchte einen Moment, um zu reagieren. Noch immer durchflutete ihn das Nachbeben seines Orgasmus. Endlich nickte er und zog den Mann über sich erneut in einen Kuss, dann strich er ihm über die erhitze Brust. Fatih nahm das als ein „Ja", genoss die Streicheleinheiten und ließ sich schließlich an Leons Seite sinken.

„Alter, Leon, ich dachte schon, ich hätte dich wie ein Zug überrannt", murmelte er nun.

Leon lachte glucksend. „Irgendwie kommt das hin", fand er. „Aber so werde ich gern überrannt."

„Ach, echt?"

„Ja."

„Dann sollten wir das ... wiederholen ..."

„... beibehalten ..."

„Definitiv öfter machen ..."

Beide grinsten und waren sich einig.

Übrigens vergaß Leon seine ursprünglichen Pläne für das Wochenende, denn er verbrachte es viel lieber mit Fatih im Bett. Der machte außerdem eine fantastische Baklava. Davon brachte er eine Riesenportion mit, als Leon ihn ungefähr ein halbes Jahr später seinen Eltern als festen Freund vorstellte. Denen entgleisten kurzfristig die Gesichtszüge, aber mittlerweile läuft alles ruhig wie auf Schienen. 

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