WASP
Der junge Mann am Fenster starrte hinaus auf die spiegelglatte See, die das Mondlicht aus wolkenlosem Himmel reflektierte. Alles sah so friedlich aus inmitten der Nacht. Aber wie konnte es das sein, wenn doch in seinem Innern solch ein Aufruhr herrschte? Es war, als wolle ihn die friedvolle Natur des Hampton Beach regelrecht verhöhnen. Das alles war zu perfekt, beinahe wie in einem Gemälde von Edward Hopper: erstarrt in Schönheit. Nur wenn man genau hinsah, wogte ein sanfter Wind über das Strandgras gleich neben der weiß gestrichenen Veranda. Wenn es doch nur möglich wäre, die Zeit anzuhalten! Oder auch zurückzudrehen ...
„Was machst du da?", vernahm er die schlaftrunkene, murrende Stimme seines Geliebten. „Komm zurück ins Bett, Leonardo."
„Ich schau mir das Meer an."
„Im Dunkeln? Warum schläfst du nicht? Komm zu mir."
Der Angesprochene konnte den Blick noch immer nicht abwenden. Die Spiegelung auf den Wogen war so wunderschön. Warum er nicht schlief? Eine gute Frage. Der Tag war lang gewesen. Erst die Fahrt vom Campus hierher, der ausgedehnte Spaziergang in den Dünen, das Schwimmen in der offenen See und zuletzt der ausgiebige Sex mit Maddox, seinem ein und alles. Noch immer konnte Leonardo dessen Küsse und Liebkosungen auf seinen Lippen, seiner nackten, abkühlenden Haut spüren.
„Wo bleibst du, mein Schöner?"
Würde er noch länger zögern, wäre sein Liebster am Ende beunruhigt, also ließ der junge Mann schließlich von seinen Betrachtungen und Wünschen ab. Er kam zurück ins Bett und legte sich zu dem anderen, der im selben Moment ein wohliges Brummen von sich gab. Leonardo schmiegte sich seitlich an ihn, legte ihm einen Arm um die Brust und seinen Kopf an die Schulter. Was, wenn dies das letzte Mal war? Unbewusst entfuhr ihm ein Seufzen, gleichzeitig ermahnte er sich, sein verräterisches Verhalten in den Griff zu bekommen. Wenn dies hier bald vorbei war, dann wäre es dumm, alles schon vorher zu verderben. Warum waren sie nur so unvernünftig gewesen?
Der Sturm in seinem Innern toste nun erst richtig los. Wie dumm war es, dass sie sich am Strand so unbekümmert gezeigt hatten? Der Umstand, dass Maddox' Eltern auf einer Europareise waren, änderte nichts an der Tatsache, dass ihre Liebe geheim bleiben musste. Der Sohn einer der reichsten Familien Neuenglands durfte nicht gesehen werden mit jemandem wie ihm: Einem Niemand aus einem der ärmeren Viertel Bostons, dessen Vater eine Pizzeria betrieb und der sich die Uni nur leisten konnte, weil Harvard ihn im Schwimmteam haben wollte. Und gleich morgen, spätestens übermorgen würde sich die ganze Stadt das Maul darüber zerreißen.
Leonardo verstand es nicht. Sein Vater hatte immer gesagt, die Reichen könnten tun und lassen was sie wollten, doch das stimmte nicht. Maddox als der Sohn und Erbe seiner Familie war alles andere als frei. Im Gegenteil. Enormer Druck lastete auf ihm, denn er musste es mindestens zum Staranwalt bringen, bevor man von ihm erwartete, die väterliche Kanzlei zu übernehmen. Die eigenen Wünsche kamen als letztes. Und zu diesen gehörte Leonardo selbst. Abermals seufzte er an Maddox' Ohr und seine Finger strichen wie von selbst hauchzart über dessen Brust. Der Blonde war so perfekt, doch er war nicht für ihn. Und er hatte in seinem Schlummer keine Ahnung.
Nur Leonardo hatte den Papparazzo gesehen, dessen Objektiv verräterisch in der Sonne blinkte, als sie nach dem Schwimmen zurück zum Strand gekommen waren. Verfluchter Mistkerl, der es wagte, an einem privaten Stück Strand zu lauern. Was war das für ein Mensch, der sein Geld mit dem Unglück anderer verdiente? Wie viel war ein Foto von einem schwulen Paar, nackt in der Brandung wert? Eine Menge, wenn einer von ihnen zu den Fitzroys gehörte. Ob man Maddox überhaupt erkennen konnte? Vielleicht war er in den Armen seines Liebsten verborgen geblieben? Möglich wäre es. Auch wenn Leonardo ihn aufgrund seiner Größe, der muskulösen Kehrseite, den Sprenkeln von Sommersprossen auf den Schultern und dem elfenbeinernen Ton seiner Haut unter hundert anderen erkennen könnte, galt dies nicht für die sensationslüsterne Gesellschaft Bostons. Er musste es ihm sagen: Dass er den Fotografen gesehen hatte. Auch wenn er ihren wunderbaren, sonnigen Tag nicht zerstören wollte, indem er seinen Liebsten wissen ließ, wie nah und bitter das Ende war.
Wie konnte Maddox es nicht bemerkt haben, dass etwas nicht stimmte? Leonardo hatte ihn regelrecht zurück an den Strand gedrängt, durch die Dünen und zum Haus.
„Kannst du es nicht mehr erwarten?", hatte der Blonde lachend gefragt und ihm einen spielerischen Klaps auf den Po gegeben. Leonardo hatte nur mitgelacht, auch wenn ihm nach Weinen zumute war. Es war nicht in Ordnung, nichts davon. Die ganze Welt war es nicht, wenn sie zwei Menschen, die zusammengehörten, trennen wollte, aus falschen, verlogenen Gründen. Bei diesem Gedanken hatte ihn die Verzweiflung gepackt. Dieses brennende Gefühl in der Brust, das einem den Atem raubte und die Kehle zuschnürte. Es gab nur eine Rettung: die in den Armen seines Liebsten.
„Küss mich", hatte Leonardo gefleht, kaum, dass sie die Tür hinter sich gelassen hatten.
Maddox hatte nicht gezögert und so gaben sie sich einander hin, wie es Liebende tun, die sich nacheinander verzehren und die nur glücklich werden können, wenn sie sich mit dem anderen vereinen, mit ihm verschmelzen, eins werden, wie sich alle Wasser im Ozean mischen, alle Strahlen der Sonne bündeln, alle Lüfte im Sturm sammeln, zu dem einen Ding werden, das größer ist als das Einzelne. Es war mehr als Lust, es war pulsierendes Leben. Ihre Küsse schmeckten nach Salz und ihre von der Sonne verbrannten Lippen brannten umso heißer auf der Haut. Hände fuhren voller Verlangen über ihre festen, kräftigen Leiber und ihr Liebesspiel glich dem Wogen der Brandung an einem Tag mit rauer See. Auf dem Höhepunkt hatte Leonardo gefürchtet, sein Herz würde zerspringen, doch es war stärker als je zuvor und zerbarst nicht. Wie wunderbar und brutal zugleich war das? Er musste weiterleben. Auch ohne Maddox, der ihn liebkoste, hielt, küsste, liebte ...
Schon bald wäre all das nur noch eine Erinnerung.
Leonardo musste es sagen. Jetzt.
Das Mondlicht ließ die Haut des Schläfers schimmern, als sei sie versilbert und zauberte helle Reflexe in seinen Blondschopf. Leonardo kam sich vor, als würde er einen Zauber brechen, wenn er ihn weckte. So legte er seinem Liebsten eine Hand auf die Wange und küsste ihn wach. Zuerst murrte Maddox nur als wäre er noch im Traum, doch ein zweiter Kuss folgte und ließ den jungen Mann sich regen.
„Was denn? ... Ist es noch nicht genug? ..."
Leonardo konnte nicht lächeln, obschon ihn dieses köstliche Missverständnis erfreuen sollte.
„Du musst etwas wissen, etwas Wichtiges."
Er wartete auf eine Reaktion, ein Zeichen, dass der Blonde verstand.
„Es ist mitten in der Nacht."
„Ich weiß."
Nun endlich war Maddox hellwach, richtete sich auf dem Ellenbogen auf und wandte sich seinem Geliebten zu. Da war etwas nicht wie es sein sollte, das hatte ihm dessen Stimme verraten, und als Maddox erwartungsvoll schwieg, begann Leonardo zu erzählen. Langsam und stockend. Von einem Mann in den Dünen. Von Skandal, Verrat und Verlust. Je mehr der junge Mann erfuhr, desto wilder regte sich der Widerwille in Maddox, bis er es schließlich nicht mehr ertrug.
„Red' bitte nicht weiter. Genug davon", holte er aus und legte einen Finger über Leonardos Lippen, die verstummten. „Weißt du noch, wie du mir davon erzählt hast, dass wir Reichen alles können und dürfen? Dein Vater soll das gesagt haben."
„Natürlich. Aber so ist es nicht. Du weißt das. Deine Familie würde es nie verstehen, das mit dir und mir. Und wenn erst ein Foto von uns in der Zeitung steht, dann ist es kein Geheimnis mehr. Dann werden sie etwas dagegen tun ..."
Maddox zog seinen Liebsten an sich, um ihn zu beruhigen. Was musste dieser für einen inneren Tumult ausgestanden haben, wenn das alles so aus ihm herausbrach?
„Hör mir zu, Leo", begann er aufs Neue. „Wir sind keine Kinder mehr, denen man vorschreibt, was sie zu tun oder zu lassen haben ..."
„Das weiß ich, aber deine Familie ist nicht irgendeine. Sie haben Unmengen Geld und noch mehr Macht ..."
„Doch die haben sie nicht über mich! Hörst du?"
Leonardo war nicht sicher, ob er recht verstand.
„Was kannst du meinen?", fragte er, denn er hatte zwar die Worte gehört, doch nicht begriffen, was sein Liebster sagte. Was konnte es bedeuten, wenn die Fitzroys keine Macht über ihn hatten? Maddox hauchte ihm einen Kuss auf den Scheitel, bevor er mit Nachdruck weitersprach.
„Das mit uns, läuft schon seit mehr als drei Jahren und mir ist längst klar, dass ich lieber mit dir zusammen Pizza backe, als dass ich irgendetwas von meinen Eltern nehme, was die mir nicht vorbehaltlos geben. Ich kann wie ein normaler Mensch leben, aber ich will nicht leben ohne dich."
Was war das? Ein Liebesgeständnis?
„Du hast vor, dich ihnen zu widersetzen?"
„Wenn es denn so sein muss, ja."
„Ja!"
„Vorausgesetzt, dass du mich willst ..."
„Du Spinner. Natürlich!", brachen sich die Worte Bahn. Leonardo begann zu verstehen. Es würde einen Aufruhr in der Presse geben, Konfrontationen, Brüche mit der Konvention oder einen Bruch mit der Familie, doch keine Trennung.
„Ich sag's gleich, ich bin ein miserabler Bäcker ...", wandte Maddox scherzhaft ein, doch er hatte alles zuvor verdammt ernst gemeint. „Kriege ich jetzt keinen Kuss?"
„Du ..." Weiter kam Leonardo nicht, bevor sich ihre Lippen trafen.
Das war der Augenblick, in dem sich alle furchtsame Anspannung in ihm löste. Wie konnte er so dumm gewesen sein, an ihrer Liebe zu zweifeln oder an der Entschlossenheit seines Liebsten? Unbegreiflich.
Auf seine Erleichterung folgte zunehmende Gewissheit dessen, was sie sich soeben versichert hatten: Dass sie einander wollten. Ihr Leben teilen würden. All dies legte Leonardo nun in seinen Kuss. Noch immer schmeckte er das Salz des Ozeans, oder mischten sich etwa Tränen hinzu? Wenn ja, dann waren sie Ausdruck seines unerwarteten Glücks. Dieser wunderbare Mann, den er küsste, gehörte ihm und erwiderte mit gleicher Intensität. Ihr Atem mischte sich und Maddox seufzte immerfort wohlig, während er seine Finger in dem dunklen Schopf des schönen Geliebten vergrub. Um nichts in der Welt würde er aufgeben, was er sanft in Händen hielt. Seine Leidenschaft steigerte sich nun, ebenso wie die seines Liebsten.
Sie begannen, sich mehr und mehr aneinanderzudrängen, heiße Haut auf Haut. Spürbar, real, lebendig. Unablässig küssten sie, während Leonardo sich über den Blonden schob, um ihnen dort mehr Reibung zu verschaffen, wo sich ihre Erektionen berührten. Beide stöhnten voller Lust und ließen ihrem Verlangen freien Lauf. Maddox hob sich dem fordernden Leib über ihm kraftvoll entgegen, Leonardo erwiderte dessen Betteln mit zunehmender Passion. Längst schauerte es ihn durch und durch, und der Anblick seines Liebsten verriet nicht weniger als dass es ihm ebenso erging.
Feiner Schweiß verstärkte den silbernen Glanz auf seiner Haut. Ganz und gar berauscht voneinander, mit laut pochenden Herzen, trieben sie sich so weiter heran an den Moment der vollkommenen Ekstase. Als diese einsetzte, gab es kaum ein Halten mehr. Maddox schlang seine Arme um Leonardos starke Schultern und verspürte eine enorme Hitze und ein wonniges Ziehen, bevor er sich zwischen ihren verschlungenen Leibern ergoss. Gleichermaßen erbebte jener, wand sich in höchster Wonne und suchte den Blick in die Augen seines Liebsten. Ihr Atem, ihre Körper, ihre Seelen, alles erschien mit einem Mal in absolutem Einklang, gerade so, als seien sie nur ein einziges, vollkommenes Wesen. Da war kein Unterschied zwischen ihnen, Maddox war Leonardo und Leonardo war Maddox.
Für jetzt.
Für immer.
(Das Papparazzo-Foto)
Anmerkung:
WASP ist die Abkürzung für einen White Anglosaxon Protestant (weißer, angelsächsischer Protestant), in Gegensatz dazu ist Leonardo ein WIAC, White Italo-American Catholic. Es geht dabei um die Herkunft, den Hintergrund von Einwanderern in den USA.
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