Poesie

Ihr Lieben, hier kommt ein kleines Experiment mit der Ich-Perspektive und einem Perspektivwechsel. Ich bin gespannt, was ihre davon haltet... 😊

Als ich die Augen aufschlug, drangen bereits die Sonnenstrahlen eines klaren Wintertags durch die fehlenden Lamellen der Fensterläden dieses äußerst bescheidenen Etablissements, in welches ich ihm ohne Zögern gefolgt war. Bei allem, was ich über solche jungen Männer, die aus Gelegenheit der Prostitution nachgingen, wusste, wäre es genauso gut möglich gewesen, dass man mich am heutigen Morgen zusammengeschlagen in einer Seitengasse des Montmartre fand, als dass ich in einem zerwühlten Bett aufwachte. Ich blinzelte den Schlaf fort und sah, wie er am Fenster stand, so herrlich nackt, wie ihn ein Gott, an den ich nicht mehr zu glauben wagte, geschaffen haben musste. Lässig hielt er etwas in der Hand und - las!

Siedend heiß kamen mir die trivialen Verse wieder in den Sinn, die ich nach unserem erschöpfenden Akt der Fleischeslust bei Kerzenschein auf einem Fetzen Papier notiert hatte. Aus alter Gewohnheit.

Wie sehr genoss ich deine Lust?

Sag, ob du schon gehen musst.

Dich Jüngling muss ich wiederseh'n,

bevor noch Tag und Nacht vergeh'n.

Deine Lippen, deine Lenden,

konnten endlich Trost mir spenden...

Eilig bat ich ihn, diese peinlichen Worte nicht ernst zu nehmen, sie wegzulegen.

„Warum?", entgegnete er und lächelte dabei lausbubenhaft.

„Es sind die Hirngespinste eines Dummkopfes."

„Du bist nicht dumm, nur weil du letzte Nacht gekriegt hast, was du wolltest."

Damit hatte er recht. Mir war noch gar nicht in den Sinn gekommen, dass er neben anderen nur allzu offensichtlichen Vorzügen auch über einen wachen Geist verfügte. Nun, wie er selbst andeutete, hatten wir die Nacht nicht mit Konversation verbracht.

Er war mir gleich aufgefallen, denn unter all den lärmenden Gestalten, all den flatternden Kleidern, dem betrunkenen Gelächter und dem Zigarrenrauch, erschien er als das einzig Schöne. Es mochte seine Jugend gewesen sein. In meinem Alter lag das nahe. Auch seine Gestalt, als sei er die lebendig gewordene Statue aus der antiken römischen Sammlung des Louvre, erweckte mein Interesse - und meine Begierde. So nahm ich mir vor, ihn anzusprechen, sobald er mit seinem Bauchladen in meine Nähe kam. Er hatte Tabak im Angebot, doch seine Körpersprache sowie etwas Ruchloses in seinen Augen, verhießen mehr. So kaufte ich etwas von seinen Rauchwaren und kam auf den Punkt, fragte ihn geradeheraus, was er für eine ganz spezielle Gefälligkeit verlangte. Er lächelte verheißungsvoll und nannte den Preis.

„Ich glaube, ich weiß, wer du bist", verkündete er, kam vom Fenster zurück zu mir, setzte sich auf die Bettkannte, griff nach meiner Hand und führte sie an seinen Mund. Da war noch etwas Tinte an Daumen und Zeigefinger, die er schamlos ableckte.

„Du bist dieser Poet, du warst ..."

Mein Blick ließ ihn innehalten, noch bevor ich ihm gebot, er solle den Namen eines Verstoßenen nicht aussprechen. Es würde nichts ändern und konnte Unglück bringen.

„Nun," fand er, „dann müssen wir uns einen neuen Namen für dich ausdenken."

Jetzt lächelte ich und bot ihm eine Zigarette an.



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Was da über mich gekommen ist, kann ich mir selbst nicht recht erklären.

Es war bitterkalt an diesem, unserem ersten Abend. Vielleicht war es also die Kälte, die mich ins Olympia trieb. Mehr als eine Stunde lang war ich bereits in den umliegenden Gassen umhergestreunt, immer auf der Suche nach einer günstigen Gelegenheit. Vielleicht ein Herr, der in angetrunkenem Zustand keine gute Acht auf seine Geldbörse gab, vielleicht ein anderer Herr, dem der Sinn danach stand, in einer dunklen Ecke seiner verbotenen Lust nachzukommen. In beiden Fällen wäre ich mit dem notwendigen Geschick vorgegangen: meinen flinken oder - wenn es darauf ankam - frech fordernden Fingern. Aber es war wie verhext. Bei gefrierender Nässe blieben die Trinker in den Kneipen und die Freier in den einschlägigen Etablissements. Ich trieb es lieber auf der Straße. Dort konnte ich schneller abhauen, wenn die Sache aus dem Ruder laufen sollte. Was - vorkam.

Irgendwann war ich die Lauferei satt und beschloss, es noch einmal mit einem halbwegs ehrlichen Geschäft zu versuchen. Also holte ich den Bauchladen, um mein Glück mit überteuerten Zigaretten und Tabak zu versuchen. In einem Laden wie dem Olympia gab es immer genug Kundschaft, die einen Aufpreis zahlte, wenn es schon spät war oder wenn sie mir dafür auf den Hintern starren durften. ER schien da zunächst keine Ausnahme. Erst als ich in all dem Lärm und Rauch des Saals näherkam, fiel mir auf, dass er mich regelrecht mit den Augen verschlang und sein Anzug bereits Verschleiß zeigte. Aber da war etwas an ihm, das mich nicht an eine verarmte Schwuchtel, sondern an einen gefallenen Engel erinnerte. Er wirkte trotz allem, diesem Ort, der alkoholgeschwängerten Luft, dem drittklassigen Tanzorchester und meiner offenkundigen Verfügbarkeit wie ein Gentleman. Wie einer, der dich fragt, bevor er dich anfasst. Einer, der es bevorzugt, wenn du beim Sex auch was davon hast. Besser kann ich es nicht beschreiben. Es ließ mich lächeln. Ich lächelte sogar noch mehr, als er zunächst noch nach Zigaretten fragte. Beides, Tabak und mich, konnte er unter Garantie nicht bezahlen.

„Was verlangst du für Französisch?", wollte er dann wissen.

Französisch! Er war also Engländer und irgendwie kam er mir bekannt vor.

„Alles, was du in der Tasche und alles, was du in der Hose hast."

Einen kurzen Augenblick schien es, als wäre ich mit meiner großen Klappe zu weit gegangen, doch dann nickte er. Ich hatte ihn also nicht eingeschüchtert. Gut. Mir gefällt es, wenn ein Kerl sich nicht einschüchtern lässt.

Wir waren uns also einig, ich führte ihn nach draußen und dort folgte ich ihm bis zu einem Hotel, in dem er Quartier gefunden hatte, wie er es nannte. Der Laden hatte schon bessere Tage gesehen, so wie er auch. Ich versuchte zu schätzen, wie alt er wohl war, doch wenn man so jung ist wie ich, dann kommt einem jeder greis vor, in dessen Haar sich vereinzeltes Grau zeigt. Sein Gesicht wiederum schien noch gar nicht alt, aber ein paar feine Linien um Mund und Augen zeugten von Leid. Wie war er wohl hier gelandet?

Als wir sein Zimmer erreicht hatten, beschloss ich, gleich etwas zu tun, um ihn aufzuheitern. Nicht weil er mich dafür bezahlte, sondern weil ich darin eine Herausforderung sah. Diesem sanften Mann war Böses widerfahren und er sollte es für eine Weile vergessen. In meinen Armen. In meinen Händen. Ich kannte das selbst nur zu gut, wenn man so viel Schlechtes erlebt, dass man schon nicht mehr an was Gutes glaubt ...

So ließen wir uns fallen in dieser Nacht. Sagten uns los von der Welt draußen in der Stadt, in den Gassen und Salons. Es zählte nur das, was wir taten. Ich mit ihm, er mit mir. Mein erster Instinkt hatte mich nicht getäuscht: Er war erst behutsam, mehr noch, er war zärtlich. Ich war es, der unser Liebesspiel weiter und weiter trieb. Ich wollte alles an ihm entdecken und ihm alles gestatten. Zu Beginn dieser Nacht waren wir noch Fremde, doch in ihrem Verlauf änderte sich das. Er wurde mir Freund und Vertrauter, Vater und Geliebter, alles zugleich. Und wenn er mir ein Zeichen geben würde, einen Hinweis darauf, dass er dasselbe empfand, dann wäre ich sein.

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