Into the Blue
Es begann im Jahr 1942 und ich erinnere mich noch ganz genau daran, wie das damals war. England und auch die USA befanden sich im Krieg mit Nazi-Germany und viele junge Männer aus unserem Dorf an der Küste von Cornwall waren längst bei den Truppen und kämpften an den Fronten für unsere Freiheit, den König und St. George. Auch mein älterer Bruder Gwynne. Ich jedoch war mit meinen fünfzehn Jahren noch zu grün hinter den Ohren. In vielerlei Hinsicht, wie sich herausstellen sollte.
Das erste Mal, dass ich ihn sah, war an einem Frühsommertag. Es hatte in der Woche zuvor nur geregnet und die ersten Sonnenstrahlen lockten die amerikanischen Soldaten in den Ort. Die Baracken, in denen man sie untergebracht hatte, lagen außerhalb und in ihrer Freizeit kamen sie, um sich und uns abzulenken. Sie gingen in den Pub, zum Bingo oder zum Einkaufen von Zigaretten oder kleinen Geschenken für ihre Frauen daheim. Manche von ihnen hatten auch ein Mädchen hier, denn natürlich waren junge, schneidige GIs in Uniform hoch im Kurs. Die gut gemeinten Ratschläge der Mutter oder der Tanten wurden in aller Regel ignoriert, denn welcher Backfisch ließ sich schon gern von den Alten vorschreiben, was man zu tun oder zu lassen hatte? Ich bekam zudem deutlich mit, dass andere Jungs die Yanks, wie wir sie nannten, als unfaire Konkurrenz betrachteten. Fesche Jungs von jenseits des großen Teiches und stets mit einem Kaugummi, einer Zigarette oder einem Stück Schokolade bereit, eine junge Dame in Versuchung zu bringen. Ich verspürte jedoch weder Neid noch Eifersucht in der Art, in mir keimte etwas anderes: Ein Verlangen nach einem dieser jungen Männer. Terry hieß er und das ist alles, was ich weiß.
Als ich ihm zuerst begegnete, kam er mit ein paar anderen GIs in den Pub, wie ich gerade dabei war, einige Lieferungen von meinem Vater, der den Kolonialwarenladen im Dorf führte, vorbeizubringen. Sie redeten mit dem Wirt und keiner von ihnen beachtete mich, den schlaksigen Halbstarken, der in einer Ecke am Tresen ein paar Päckchen abstellte. Auch er nicht. Aber ich sah ihn. Er stromerte lässig herüber zum Radio und fragte kurz über die Schulter, ob es okay sei, wenn er es anstellte. Mr. Jones, der Wirt, stimmte zu und kümmerte sich um seine Ware. Ich wagte kaum zu atmen. Die Musik von Glenn Millers „Moonlight Serenade" ertönte etwas blechern und die anderen Soldaten begannen zu maulen. Ausgerechnet das lahme Ding! Sie wollten lieber etwas Fetziges. Aber er nicht. Er begann sanft in den Hüften zu wiegen und schloss dabei die Augen, als ob er an jemanden dachte. Vielleicht sein Mädchen, schoss es mir in den Sinn. Natürlich dachte er bei solchen Bewegungen und dieser Musik an sie. Er wirkte wie im Traum, drehte sich langsam und ich erwischte mich selbst dabei, wie ich auf seine Uniformhose starrte, unter deren steifem Stoff sich die Rundungen seines Gesäßes abzeichneten. Mir wurde schlagartig warm und ich konnte den Pub gar nicht schnell genug verlassen. Da war etwas los mit mir, was ich nicht verstand.
Erst etwa drei Wochen später sah ich ihn wieder. Ich hatte es vermieden, in den Pub zu gehen, wenn die GIs dort waren. Und ebenso vermied ich den Umgang mit anderen Jungs oder Mädchen meines Alters. Ich wollte allein sein, mit dem, was ich nur als Verwirrung bezeichnen konnte. Also zog es mich an einen Ort, der mir damals der schönste auf der ganzen Welt schien und dies heute umso mehr ist: Der Waldsee im Queen's Wood. Dort gab es ein Ufer mit flachem Wasser, an dem man den Kindern der Gegend das Schwimmen beibrachte, denn im rauen Meer an der Küste war dies zu gefährlich. Der See war friedlich und lag stets mindestens halb im Schatten großer alter Bäume, deren Äste tief bis zur spiegelnden Oberfläche hinunterragten. An einer Stelle genügte die Tiefe aus für einen fünf Meter hohen, hölzernen Sprungturm, zu dem ein Steg führte. Eben dort begegnete ich Terry.
Ich fuhr mit meinem Rad an so manchem Nachmittag zum Schwimmen und Baden an den See, wenn meine Arbeit erledigt war. An Wochentagen traf ich dort nie jemanden und so wagte ich es sogar, vollkommen nackt zu schwimmen. Anschließend legte ich mich in das hohe Gras am Ufer und ließ mich von der Sonne trocknen. An jenem besonderen Tag jedoch schlief ich ein und erwachte erst im Abendrot. Und da sah ich ihn. Ganz oben auf dem Sprungbrett in fünf Metern Höhe. Vielleicht hatte sein erster Sprung ins Wasser mich geweckt, denn das Licht der untergehenden Sonne reflektierte auf seiner nassen Haut wie hunderte feurig-glänzender Tropfen aus Honig. Ich musste ihn an seiner natürlichen Anmut erkannt haben, die sich mir bei seinem Tanz im Pub in die Seele gebrannt hatte. Er schüttelte seinen Kopf einmal hin und her, sodass Wasser wie Funkenflug von ihm wegspritzte. Ich wagte nicht, mich aufzusetzen, denn ich wollte ihn noch länger beobachten, wie er sich bewegte, wie er sprang. Erst als ich meine Augen gegen die Sonne schützte, erkannte ich, dass er mir zugewandt auf dem Turm stand und seine glänzenden Muskeln raubten mir jeden Rest meines Atems. Sein schlanker Körper glich dem einer griechischen Statue, wie ich sie aus Schulbüchern kannte. Seine breiten Schultern zeugten von Kraft, ebenso seine Arme und Schenkel. Die Muskulatur seiner Brust und seines Leibes war ebenmäßig und klar definiert und ich fragte mich, welche Art körperlicher Ertüchtigung er als Soldat wohl machte.
Und dann geschah es. Mit der Geschmeidigkeit einer Großkatze ging er vor bis zur Kante des Sprungbretts. Dort holte er ein paar tiefe Atemzüge und streckte die Arme weit aus. Als nächstes hob er sie über den Kopf, dann setzte er sie in einer einzigen grazilen Abwärtsbewegung vor sich auf das Brett. Im selben Moment stiegen seine Beine empor zu einem perfekten Handstand, den er unglaublicher Weise so für eine paar Sekunden mühelos hielt. Und bevor ich mich versah, stieß er sich plötzlich mit den Armen ab, sein Körper machte eine halbe Schraube und einen Salto, so tauchte er ein in das tiefe Blau des Sees. Für die Dauer eines Wimpernschlags fürchtete ich, die Wasseroberfläche hätte ihn verschluckt und würde ihn aus Eifersucht nicht wieder hergeben, doch dann kam er wieder hoch. Er prustete, jauchzte und schüttelte den Kopf vor Freude über seinen gelungenen Sprung. Ich widerstand meinem Impuls, ihm zuzujubeln und duckte mich zurück, tief ins Gras. Dort lag ich auf dem Rücken und spürte mein Herz wie wild rasen. Meine Hände waren zittrig. Was geschah nur mit mir?
Ein neues, hölzernes Rumpeln, gefolgt von einem Eintauchen und dann wieder ein Lachen, holten mich in meiner Aufmerksamkeit zurück an den See. Ich musste diesen Mann einfach beobachten, jeder seiner Bewegungen folgen, mich an seinem Anblick weiden. Es war wie eine Art Magie, die er auf mich ausübte und so begriff ich endlich. Ich fühlte mich von ihm angezogen. Aber das war doch nicht möglich, das war etwas Verbotenes und durfte nicht so sein! Also nahm ich mir vor, es zu testen. Ich sah noch genauer hin, wie er den Turm erklomm. Die klitschnasse Unterhose zeigte mehr von den Rundungen seines Hinterteils, als sie verbarg und ich spürte, wie mir bei diesem Anblick die Schamesröte ins Gesicht stieg. Schlimmer noch, ich wartete auf den Moment, wenn er, auf dem Turm angelangt, sich mir wieder zuwenden würde. Sicher gäbe es vorn unter dem Stoff auch etwas zu sehen. Dann nahm ich mir halbherzig vor, wegzuschauen, so sehr hatte ich das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun, doch ich konnte nicht anders.
Es bestand kein Zweifel daran, dass Terry sich völlig unbeobachtet fühlte, denn er schritt ebenso lässig wie zuvor an den Rand des Brettes, während ich hinsah, wo sich seine Männlichkeit durch die nasse Hose abzeichnete. Gleichzeitig spürte ich, wie sich meine eigene dadurch erregte. Eine bisher unbekannte Hitze durchflutete mich und konzentrierte sich kribbelnd und überdeutlich zwischen meinen Schenkeln. Und wieder hielt ich den Atem an, als sich der Turmspringer bereitmachte. Er ging abermals in den Handstand und hielt sich in der Luft, noch länger als beim ersten Mal. Mit einem kraftvollen Ausruf und einem plötzlichen Druck seiner starken Arme, löste er sich dann vom Holz und schien kurz zu schweben, bevor er mit einem nächsten gedrehten Salto wie mühelos ins Wasser glitt. Ein neues Prusten und Spritzen kündeten von seinem Auftauchen und wieder schüttelte er lachend seinen Kopf. Mit nur drei kräftigen Schwimmzügen war er zurück am Ufer. Mich überkam der Gedanke, dass er der schönste Mann der Welt sein musste, denn das würde seine Wirkung auf mich erklären. Natürlich war dies nur der naive Versuch, mir einzureden, dass jeder andere Junge, jeder andere Mann auch von Terrys makelloser Schönheit und seiner absoluten Körperbeherrschung angetan wäre. Das musste absolut normal sein, fand ich.
Er hatte inzwischen die Stelle bei einem Felsen erreicht, wo seine Kleider lagen. Dort stieg er ganz ungeniert aus seiner Unterhose, um sie auszuwringen. Seine Nacktheit hätte mich noch mehr beschämen müssen, doch stattdessen starrte ich fasziniert auf das Spiel seiner Muskeln an Rücken und Gesäß, als er sich nach seinen Sachen bückte und sich in aller Ruhe anzog. Dann, als es so weit war, dass er sein Fahrrad nahm, um zurück zu den Baracken zu radeln, widerstand ich dem Impuls, ihm etwas zuzurufen. Bleib! Oder: Hier bin ich! Was für ein Irrsinn.
Von dem Tag an hoffte ich jedes Mal, wenn ich an den See fuhr, dass Terry auch kommen würde. Ich badete, schwamm und legte mich im hohen Gras auf die Lauer. An den Abenden, wenn er kam, genoss ich jede einzelne Sekunde, jeden seiner Sprünge, jedes Jauchzen und erst recht jedes sonnige, honigfarbene Glitzern auf seiner Haut. In mir wuchs der Wunsch, ihn zu berühren, die Wärme seiner Haut zu spüren, die Wassertropfen aus seinem Haar auf meiner Haut zu fühlen, sie ihm abzulecken, erst nur von den Lippen oder von den perfekten Schultern, seiner Brust, ... am Ende überall. Ich verfiel in einen Zustand, immer schwankend zwischen höchstem Glück am See und größtem Unglück, wenn ich des Nachts allein in meinem Zimmer lag, an ihn dachte und mich selbst berührte, wann immer ich dies tat.
An einem Tag, ich weiß es noch ganz genau, da lag ich verborgen und beobachtete meinen geliebten Turmspringer, doch mit einem Mal war etwas anders als sonst. Da war eine Ruhe und ein Frieden am See, als hielten die Vögel, die Frösche und alle anderen Tiere des Waldes die Luft an. Beinahe konnte ich hören, wie Terry atmete, als er oben auf seinem Brett stillstand und seinen Blick am Ufer entlang schweifen ließ. Ahnte er, dass ich dort war? Wieder wollte ich rufen: Hier bin ich! Du bist das Schönste, was ich je gesehen habe! Warte, ich komme zu dir! Aber ich wagte es nicht. Wenn er meine Gefühle, von denen er nichts wissen konnte, nicht erwiderte, wenn es ihm peinlich wäre, dass ich hier war, dann käme er vielleicht niemals wieder. Auch in Amerika, das wusste ich, stand es für zwei Männer unter Strafe, sich zu lieben. Außerdem würde ich nicht wagen, ihn bloßzustellen. Was würden seine Kameraden von ihm denken? Was würden sie tun? Ich brauchte mir nur vorzustellen, was die Menschen im Ort von mir denken würden, wie viel Schande ich damit über meine Familie bringen würde. Niemand dürfte es je erfahren, dass ich so war. In all diese Gedanken verstrickt entging mir sein nächster Sprung. Erst das Geräusch des Wassers ließ mich aufhorchen. Sogleich vernahm ich wieder Vogelgezwitscher.
Schließlich kam jener bedeutungsvolle Tag, der mein Leben komplett verändern sollte. Die Nachricht selbst traf mich bereits am Vormittag, während ich die neue Ware für meinen Vater in die Regale räumte. Die Amerikaner hatten einen Einsatzbefehl erhalten und würden nach Penzance abrücken. Dafür waren sie ausgebildet worden. Terry würde fortgehen. Er würde niemals wiederkehren. Warum auch? Er kannte mich nicht einmal und ich war im Grunde nichts als ein Jugendlicher, der ihm heimlich auflauerte. Mir war hundeelend, es kam mir vor, als würde der Boden unter mir ins Wanken geraten. Falls ich mir irgendwelche Illusionen darüber gemacht hatte, dass ich mich ihm zu erkennen geben würde, dass er genau so sei wie ich, dass wir gemeinsam im blauen Wasser schwimmen und uns küssen würden und wer weiß was noch miteinander anstellten, dann waren sie gerade zerplatzt.
In meiner Verzweiflung fuhr ich zum See, voller jugendlich-dramatischer Gedanken. Wenn ich jetzt dort ertrinken würde, dann ersparte ich meinen Eltern sicher viel Kummer. Mit meiner Vorliebe für Männer käme ich sowieso ins Zuchthaus. Dort würde ich garantiert sterben, also was machte es ...? Als ich endlich den Ort erreichte, war es noch heller Nachmittag, aber etwas war anders. Das bemerkte ich sofort. Da stand Terrys Fahrrad bei dem Felsen, seine Kleider lagen herum. Und im nächsten Moment entdeckte ich ihn. Er saß auf dem Steg, der zum Turm führte und ließ die Beine ins Wasser baumeln. Als er mich sah, winkte er mir zu. Ich war zu aufgewühlt, um einen klaren Gedanken zu fassen, also zögerte ich. Da rief er nach mir.
„Du bist der Junge aus dem Pub! Komm her, wie heißt du?"
Wie von unsichtbaren Fäden gezogen, näherte ich mich ihm. Er war noch trocken. Hatte er hier auf mich gewartet?
„Branok", brachte ich meinen Namen heraus und merkte, wie meine Ohren vor Aufregung brannten.
„Hast du Lust zu schwimmen, Branok? Ich bin Terry. Ich habe dich hier gesehen."
Kaum zu glauben, was er da sagte, aber es kam mir dennoch vor wie die logischste Sache von der Welt. Eifrig nickte ich und bevor ich mich's versah, war er auch schon mit einem Klatscher im Wasser. Im Nu entledigte ich mich nun meiner Sachen bis auf die Unterhose.
„Wo bleibst du? Bist du so lahm?"
Als Nächstes war er neben dem Steg, wo ich stand und spritzte mich nass. Nun hielt mich nichts mehr, mit einem übermütigen Jauchzer sprang ich hinein und schwamm auf ihn zu. Er lachte und spritzte wieder, da spritzte ich zurück. Dann schwamm er weiter auf den See hinaus und ich hinterher. Ich weiß nicht, ob ich genauso schnell schwimmen konnte wie er oder ob er mich aufholen ließ. Etwa in der Mitte ließen wir uns dann auf dem Rücken treiben. Es war wunderbar. Unter uns das tiefe Blau, über uns der Himmel.
„Morgen früh muss ich fort", sagte er ruhig.
„Ich weiß."
„Magst du springen?"
„Ja."
Gemeinsam, Seite an Seite schwammen wir zum Turm. Es gab auch ein Brett auf halber Höhe, zu dem stiegen wir gemeinsam hinauf. Oben fragte er, ob ich schonmal einen Köpper gemacht hätte. Natürlich hatte ich das. Und so machten wir unsere Sprünge. Erst ich, dann er. Unten im Wasser wartete ich auf ihn und für einen Augenblick kam es mir so vor, als sei da nicht nur Wasser in seinen Augen. Doch er lächelte. Dann, mit einem plötzlichen Auflachen, döppte er mich unter und mit ein paar kräftigen Schwimmzügen war er am Ufer. Ich folgte ihm und als ich ihn erreichte, stand er bereits mich erwartend da, während ich noch um Luft rang. Es störte ihn nicht. Er wusste genau, was er tun wollte, noch bevor ich begriff. Er nahm sich die Kette mit der Hundemarke ab, die Soldaten stets tragen, und legte sie mir in die rechte Hand.
„Ich gebe sie dir, damit du sie aufbewahrst", sprach er leise und umso ernsthafter. „Sie soll dich an diesen Tag erinnern und daran, dass du stets so bleibst, wie du bist. Versprichst du das, Branok?"
Zu aufgewühlt, um zu sprechen, nickte ich und schaute ihm in die Augen. Sie waren ebenso blau, wie der See und auch so tief. Das Wasser hing silbern-glitzernd in seinen dunklen Wimpern. So geschah das Unglaublichste von allem. Er trat vor, so nah, dass sich unsere Körper berühren würden, wenn sich einer von uns nur rührte, dann legte er mir eine Hand in den Nacken und beugte sein Gesicht zu mir. Das ist es, er wird mich küssen!, realisierte mein Verstand und instinktiv schloss ich meine Augen und neigte den Kopf ein wenig. Da trafen sich unsere Lippen wie von selbst. Meinem ersten Impuls der Überraschung folgte ein Hineingeben in den Kuss. Alle meine Sinne explodierten förmlich. Seine Lippen waren warm und weich und sein Atem kitzelte meine Wange. Sanft stupste er mit seinen an den meinen, fuhr ihre Konturen ab, bis ich sie langsam öffnete. Doch er blieb ganz sanft und behutsam. Ohne Eile genossen wir diesen perfekten Augenblick. Nur ein wenig erkundeten sich die Spitzen unserer Zungen. Er schmeckte und roch nach amerikanischem Spearmint-Kaugummi. Seine zweite Hand führte mich ein wenig am Kinn und gab mir Sicherheit. Elektrisierend ist das Wort, mit dem ich es heute in meiner Erinnerung beschreibe. Vollkommen elektrisierend war dieses Gefühl. Ich kam mir vor wie ein Dornröschen, das endlich von seinem Prinzen wachgeküsst wird. Und obwohl es etwas Verbotenes war, fühlte es sich so gut und richtig an.
Wie wir diesen ersten Kuss beendeten, weiß ich nicht mehr genau, nur noch, dass mir die Tränen kamen, weil ich wusste, dass es zugleich ein Abschiedskuss war. Unendlich süß und doch so bitter. Er bemerkte meine Tränen und wischte sie mit seinen Fingern fort, während er mir zulächelte und mich in den Arm nahm. Mit dem Kopf an seiner Brust konnte ich sein Herz spüren. Es schlug schnell, laut und lebendig, so wie meins.
Nach einer kleinen Weile hob er erneut mein Kinn an und mir wurde klar, dies war das Zeichen, zu gehen. Ich nahm mir vor, tapfer zu sein, ihm zuliebe. So zogen wir uns still an, wohl wissend, dass alles vorbei sein musste, sobald wir wieder in unseren Kleidern steckten. Als Letztes legte ich mir seine Kette um den Hals und verbarg sie unter meinem Hemd. Dann, im Schein der Abendsonne, schoben wir mit unseren Fahrrädern in Richtung des Ortes. Es gab nichts zu sagen, denn jedes Wort hätte unsere innere Verbundenheit nur übertönt. Manchmal streiften sich unsere Hände und Finger wie zufällig, hakten kurz ineinander, um dann wieder leer in die Luft zu greifen. Als wir schließlich die Abzweigung erreichten, wo sich unsere Wege trennen mussten, hielten wir kurz. Zum Lebewohl nahm er meine linke, ich legte meine rechte Hand dorthin, wo seine Kette über meinem Herzen lag. Wir sahen uns in die Augen, dann wandte er sich ab, stieg auf sein Rad und fuhr fort. Ich schaute ihm nach, bis er zuletzt um eine Kurve verschwunden war.
Wir sahen uns niemals wieder. Aber ich glaube fest daran, dass er zu den Wenigen gehört haben muss, welche die Luftangriffe auf Penzance und die Landung in der Normandie überlebt haben. Er ist nachhause gekommen, heil und gesund und lebt irgendwo an einem blauen See, mit einem Mann, der ihn liebt. Für mich bleibt er meine erste und größte Liebe. Dieser Nachmittag war ein Geschenk von ihm an mich. Das größte Geschenk aber waren seine Worte: bleib so, wie du bist.
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