Ein Gefühl wie Empire State
Der Gastraum des Hotels Sonnenhof sah aus, als sei die Zeit irgendwann in den Achtzigern stehen geblieben und der letzte Dorf-DJ hätte vergessen, seine Anlage und die Discokugel wieder mitzunehmen. Ganz so schlimm hatte sich Silas die Location für das Abi-Treffen seines 2011er Jahrgangs dann doch nicht vorgestellt. Aber jetzt waren er und sein Superschatz da und sie mussten das Beste daraus machen.
„Sag mir bitte, dass wir uns das hier schöntrinken werden", flüsterte Marlon hinter vorgehaltener Hand, während Silas ein entschuldigendes Lächeln aufblitzen ließ.
„Da bleibt uns nicht viel anderes übrig", gab er zu.
Im nächsten Augenblick war es für jede Art von geordnetem Rückzug auch schon zu spät. Man hatte die beiden jungen Männer entdeckt und ein untersetzter Typ, den Silas verspätet als Timo, den früheren Stufensprecher und Organisator dieses Wiedersehens erkannte, kam auf sie zu. Gefolgt von ein paar anderen, die ihm schon in der gemeinsamen Zeit auf dem Gymnasium nie von der Seite gewichen waren. Timos Pilotfische, wie Silas sie immer nannte.
„Na, das ist ja eine Überraschung. Silas! Mit dir haben wir hier wirklich nicht gerechnet. Das war eine gute Idee von dir, ordentlich Kilos abzunehmen, auch wenn sie wohl zehn Jahre zu spät kam!"
„Hallo Timo", brachte der Angesprochene auffallend eisig heraus. „Ich mit dir schon."
Etwas umständlich rangen sich die beiden einen Handschlag zur Begrüßung ab, nur um dann zu schweigen. In dieser peinlichen Pause räusperte sich Marlon, trat vor und beschloss, dem dreisten Kerl etwas entgegenzusetzen.
„Du bist Timo?", fragte er nach und tat gespielt erfreut. „Mein Partner hat gar nichts von dir erzählt! Ich bin Marlon. Overbeck, so wie Silas."
Dieses Auftreten seines Mannes veranlasste Silas direkt, sich selbstbewusst aufzurichten und dessen Hand zu nehmen. Es war ihm nur recht, wenn jeder im Saal gleich wusste, dass er, der ehemals pummelige Streber, zu dem attraktivsten Typen des Abends gehörte. Marlon sah nicht nur aus wie ein Model aus der Jeans-Werbung, mit Sixpack und Muskeln an Stellen, wo andere nicht mal Stellen hatten, er war auch eins.
„Schau an. Keine echte Überraschung, möchte ich meinen", bemerkte der rüpelige Gastgeber mit einem vielsagenden Blick auf seine alten Kumpel.
„Wie meinst du das?"
Marlon hatte bereits genug gesehen und gehört. Und er war bereit, sich und seinen Mann gegen ein homophobes Arschloch zu verteidigen. Er baute sich zu voller Größe auf.
Überraschend machte dieser Timo nun jedoch einen Rückzieher. Warum auch immer. Vielleicht, weil er ein Einsehen hatte. Auch möglich, dass er einfach nur feige war, oder nicht riskieren wollte, den Abend schon zu Beginn aus dem Ruder laufen zu lassen.
„Gar nichts. Geht mich auch nichts an", stammelte er. „Ich wusste nicht, dass Silas geheiratet hat."
Eine so fadenscheinige Erklärung reichte Marlon keinesfalls, aber ein Blick von seinem Schatz signalisierte ihm, sich zu beruhigen.
„Komm, lass", bat dieser ihn zusätzlich und das genügte.
Wissend, dass man ihnen mit Blicken folgte, machten sich die zwei auf zur Theke, wo sie sich Hocker schnappten und dem Wirt ein Zeichen gaben. Während Silas etwas zu trinken bestellte, sah sich Marlon um. Was für eine miese Veranstaltung. Es wirkte gerade so, als würden die Anwesenden ihn und Silas bewusst ignorieren. Als wären sie Luft, ohne ein klares Zeichen von diesem Blödarsch Timo.
„Sag mir bitte", begann er mit einem spöttischen Ton, „dass wir nicht hier sind, um uns zu amüsieren. Das glaube ich nämlich nicht."
Sein Mann verzog entschuldigend die Lippen.
„Nein, das hast du ja gerade gemerkt."
Der Wirt brachte zwei Bier mit zwei Kurzen. Marlon stürzte den Kurzen gleich hinunter, stellte das Shotglas ab und sah fragend in Silas' blaue Augen.
„Na schön. Es tut mir leid, dass wir hier sind. Das ist schlimmer als jede Dorfdisco. Aber ich dachte, alle Idioten von damals kommen hierher, um mit ihren dicken Autos, nervigen Kindern und stupsnäsigen Gattinnen anzugeben. Und irgendwie hab ich gehofft, herauszufinden, dass die größten Arschlöcher inzwischen depressive Loser sind."
Marlon grinste.
„Du meinst, du wolltest dich in ihrem Elend suhlen."
„Ja."
„Das seh ich ein", befand er nachdenklich. „Und warum sind wir dann nicht in deinem dicken Auto hier?"
Das war in der Tat eine gute Frage, musste sich Silas eingestehen. Aber sein Wagen war jetzt nichts, worauf er besonders stolz war. Das war eigentlich ...
„Oh!", entfuhr es Marlon nun, als der Groschen fiel. „Wir sind hier, weil du mit mir angeben willst."
Silas nickte. Ihm war klar, dass er seinen Mann hätte vorwarnen sollen. Aber was sagt man da? Hey, Ponyboy, wir gehen zu meinem Abi-Jubiläum, weil ich will, dass alle Mistvögel, die mir auf der Penne das Leben zur Hölle gemacht haben, sehen, mit was für einem sexy Leckerbissen ich zusammen bin? Alle sollen wissen, dass der Pummel mit der Polaroid inzwischen ein erfolgreicher Modefotograf ist und sein Süßer ohne Klamotten einfach zum Niederknien aussieht?
„Was hast du gedacht, dass passiert? Ich lege hier einen Striptease hin, damit dich alle beneiden?" Marlon schien kein bisschen beleidigt. Eher war da Neugier in seiner Stimme.
„Es tut mir leid, ich bin dumm. Lass uns wieder abhauen. Du warst klasse eben und jetzt wissen diese Halbaffen, dass ich verheiratet bin. Das ... tut gut und reicht völlig. Fahren wir zurück und machen wir was Schönes."
Mit einem Lächeln um den Mund nickte Marlon. Doch er wollte offenbar so schnell nicht aufbrechen, denn er gab dem Wirt ein Zeichen für zwei weitere Kurze, die auch prompt kamen.
„Was hast du vor? Willst du dir das hier doch noch schöntrinken?", hakte Silas nach.
„Oh nein. Aber wenn wir schon mal da sind, dann sollten wir auch ein bisschen Show bieten."
„Du spinnst und dafür liebe ich dich."
„Ich weiß."
Silas schaute seinen Mann an, der sich noch immer nicht vom Fleck bewegte und den zweiten Schnaps kippte. Hatte er das etwa ernst gemeint? Verrückt genug war er. Und auch selbstsicher genug. Scheiß drauf, schoss es dem Fotografen ins leicht benebelte Hirn. Sollten sich doch die Leute das Maul zerreißen. Er war nicht glücklich verheiratet, erfolgreich und aus diesem Kaff herausgekommen, um sich von alten Mitschülern kleinmachen zu lassen.
„Bist du bereit?", flüsterte Marlon ihm zu, wobei er auffordernd eine dunkle Braue anhob.
„Zu allem", kam das Okay.
Bereits in nächsten Moment beugte sich sein Schatz zu ihm, legte ihm eine Hand in den Nacken und führte ihre Lippen zueinander. Sofort schoss Blut in Silas' Kopf und er fragte sich für den Bruchteil einer Sekunde, ob es dem Schnaps oder dem Publikum geschuldet war, doch dann war es auch schon egal. Er schloss die Augen und erwiderte Marlons schamlosen, demonstrativ mit Zungeneinsatz fordernden Kuss. Oh ja, sein Mann war ein freches Kuss-Monster und er selbst konnte es auch sein. Ohne Eile legte Silas dem anderen eine Hand an die Kinnlinie, die andere fuhr durch dessen nussbraunen Schopf und zog leicht daran. Ein Glucksen und die Intensivierung ihres Kusses bestätigten, dass Marlon es genoss. Dann, als sie kurz innehielten, um zu atmen, öffnete Silas die Augen und fand so ein freches Blitzen in denen seines Mannes. Er führte etwas im Schilde. Ganz eindeutig.
„Weißt du noch, auf dem Empire State?", fragte er in einer Mischung aus Neckerei und Verschwörung.
Aber ja! Wie hätte Silas vergessen können, dass sie es dort getan hatten? In einer Kabine der Herrentoilette. Kurz vor der Räumung der Besucherterrasse wegen Sturmwarnung.
Das hier war nicht das Empire State, nur der Sonnenhof, aber was machte das? Sie würden einen Sturm der Entrüstung auslösen und das gefiel ihm. Sehr sogar.
„Komm!", flüsterte Marlon an sein Ohr, nahm ihn bei der Hand und zog ihn mit sich, genau in die Richtung, die ein Schild ihnen wies.
„Boah, ist das langweilig hier!", hörte sich Silas selbst verkünden, als die beiden Männer sich ihren Weg, vorbei an staunenden, leicht schockierten Gesichtern, bahnten. Timo und seine Truppe, nebst der dazugehörigen Gattinnen, sah aus, als hätte man ihnen Reiszwecken auf den Stuhl gelegt. Doch das kümmerte das Paar nicht. An Garderobe und Zigarettenautomaten vorbei, führte eine Treppe in den Keller, wo ihnen zwei ehemalige Mitschülerinnen mit aufgefrischtem Make-Up entgegenkamen, dann hatten sie den Raum für Herren erreicht. Er war leer und nicht gerade gemütlich mit ockergelben Fliesen. Aber was machte das?
Im Nu hatten die beiden eine der Kabinen geentert und verschlossen. Silas keuchte etwas vor Aufregung. Nie hätte er es für möglich gehalten, so etwas in seinem Heimat-Nest zu bringen. Seine Anspannung entlud sich in einem Lachen, in das Marlon, der ihn mit seinem ganzen Leib an die Tür drückte, mit einstimmte.
„Himmel! Was tun wir hier?", brachte Silas hervor.
Wieder gluckste Marlon etwas atemlos.
„Deinen alten Klassenkameraden was zum Grübeln geben, denke ich."
Das war treffend formuliert, wie Silas fand. Trotzdem war er unsicher.
„Willst du es durchziehen?"
„Nur, wenn du es auch willst. Aber, verflucht, Sil, ich bin schon so hart, ich höre nur noch auf meinen kleinen Freund."
Wieder lachte Silas, erst recht, weil er klar gegen seine Lenden spüren konnte, was Marlon meinte.
„Du redest von deinem großen Freund", scherzte er.
„Du machst mich wahnsinnig."
„Was du nicht sagst."
„Genug geschwätzt."
„Find ich auch."
Ohne weitere Umschweife gingen die zwei nun zur Sache. Marlon drängte sich mehr und mehr an seinen Mann, schob ihm ein Bein in den Schritt und überließ es ihm, sich mit beiden Händen einen Weg unter sein Hemd, an seine muskulöse Vorderseite zu bahnen. Er selbst küsste ihn verlangend auf den Mund und weiter am Hals, dort wo dessen Schlagader verlief. Dies, das wusste er genau, erregte Silas über alle Maße. Aber auch in Marlons Adern kochte das Blut bereits laut.
„Fass mich an!", bettelte er in Silas' Halsbeuge und begann gleichzeitig, sich an dessen Hose zu schaffen zu machen. Seine Finger waren durch die Erregung unkoordiniert und offenbar ging es seinem Mann nicht anders. Auch er fummelte und zerrte irgendwie an der lästigen Klamotte, die Marlons pulsierende Erektion schließlich frei und in Silas' Hände gab. So wie sich das entwickelte, konnten beide nur hoffen, die Kabinenwand würde ihr Drücken und Schieben aushalten. Das hier war nicht das Empire State! Silas ächzte auf, als auch Marlon endlich Hand anlegte und damit begann, ihm den Penis mit festem Griff zu massieren. Schon bald würden sie kommen, das verrieten ihr Seufzen und Stöhnen, welche von den gefliesten Wänden widerhallten und ihre Lust noch steigerten. Silas legte genießerisch den Kopf nach hinten und bot abermals seinen Hals für die wilden Küsse seines Liebsten dar. Dieser nahm die Chance gern wahr, während er sich unablässig an ihn presste. Dann endlich war es so weit. Ein unmissverständliches, heißes Schauern ließ Marlon seinen Leib anspannen und im nächsten Moment kam er, ergoss sich ungezügelt über Silas' Hände und Bauch. Aber was kümmerte die Sauerei jetzt noch? Silas bäumte sich für ihn auf und erbebte gleichermaßen unter der Wucht seines Orgasmus. Gemeinsam hielten sie einander irgendwie aufrecht und atmeten schwer, bis endlich ein Gefühl von Erleichterung einsetzte, das sie wohlig seufzen ließ.
„Das war ... heftig", brachte Silas hervor.
„Für dich nur das Beste."
Beide lachten.
„Ob uns wer gehört hat?"
„Scheiß drauf."
Abermals Lachen.
„Wir sollten uns verziehen."
„Das find ich auch. Wir brauchen eine Dusche."
„Und ein Bett."
Kurzes Schweigen.
„Nein, eigentlich brauche ich nur dich."
„Und ich dich."
„Na, dann komm!"
Der Rest war schnell erledigt. Die beiden richteten sich einigermaßen her, dann verließen die miese Location. Quer über die Tanzfläche, vorbei an den Gestalten aus Silas' Vergangenheit. Hand in Hand.
https://youtu.be/88sARuFu-tc
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