Cadan und der Winter
Fluff
TW: plötzlicher Kaninchentod
Der Winter war in diesem Jahr deutlich früher eingebrochen als in jedem anderen, an das sich Cadan erinnern konnte. Mit kaum mehr als zwanzig Jahren waren das nicht allzu viele, doch selbst sein Lehrmeister, der alte Hexer, musste lange zurückdenken, um sich zu entsinnen, wann der erste Schnee zuletzt die Zugvögel noch auf ihrer Reise in wärmere Gefilde überrascht hatte. Sogar die Moorkaninchen hatten den Fellwechsel gerade erst begonnen und boten ein viel zu gutes erdfarbenes Ziel inmitten schier endloser weißer Flächen. Dem jungen Mann war es so ein Leichtes, sie mit Pfeil und Bogen zu erjagen. Seine Augen waren scharf und selbst wenn der eisige Wind den Schnee verwirbelte, verfehlte Cadan sein Ziel nicht.
Wenn er dann in die Hütte des Alten zurückkehrte, empfing dieser ihn stets mit einem heißen Trank aus Johannisbeeren mit Gewürzen und einem zufriedenen Ausdruck im Gesicht. Cadan mochte Lucius sehr. Nicht nur, weil er ihn in einer stürmischen Gewitternacht getröstet und als Lehrling auserwählt hatte, sondern auch, weil die Künste, die er lehrte, dem Jungen das Gefühl gaben, etwas Besseres aus seinem Leben zu machen. Er war längst nicht mehr der geschundene, verängstigte Schafhirte, den Lucius bei sich aufgenommen hatte. Viele Pflanzen und Kräuter waren ihm inzwischen bekannt. Wie man mit ihnen Krankheiten und Schmerzen linderte oder wie man Wunden bei Mensch und Tier versorgte, das alles lernte Cadan mit großem Interesse. Lesen und sogar ein wenig schreiben konnte er und wusste, wie man selbst an so einem unwirtlichen Ort wie dem Moor ohne die Hilfe anderer überlebte. Längst verstand er die Tänze der Irrlichter und die Magie des Feuers.
Es gehörte zu seinen Aufgaben, in regelmäßigen Abständen die geheimen Pfade zu kontrollieren, die für ihn und den Hexenmeister als Wege aus dem Moor leicht zu erkennen waren, doch für gewöhnliche Menschen wirkten sie unheimlich, düster und gefahrvoll. So bildeten sie eine Art Schutz vor Neugierigen und verirrten Wanderern, die den Wohnort der beiden nicht finden durften. Oft hatte Lucius betont, dass es mittlerweile zu viele Unwissende gab, die Hexenkunst als Teufelswerk sahen und ihnen deswegen womöglich etwas antun würden. Nicht ohne Grund lebte er so weit fernab der nächsten Dörfer und Höfe.
Cadan jedoch war jung und die Einsamkeit fiel ihm nicht leicht. So kam es, dass er den einen oder anderen Streifzug ausgedehnt hatte, bis er in der Ferne eine Wohnstatt erspähen konnte. Er wagte sich nie dichter heran als notwendig, um zu erahnen, was die Menschen dort taten. Fütterten sie die Hühner? Hängten sie Wäsche auf? Spielten Kinder vor dem Haus? All diese Dinge kamen ihm vertraut und erschreckend zugleich vor. Sein Ziehvater konnte Hühnern mit nur zwei Fingern das Genick brechen. Er hatte Cadans Mutter geschlagen, wenn sie ihm die Wäsche nicht gut genug wusch. Und Cadan? Hatte er je draußen vor dem Haus gespielt? Er erinnerte sich nicht.
Nun, da Schnee und Eis die Welt bedeckten, trieb es ihn ab und an zu einer ganz bestimmten ärmlichen Hütte, um dort nach dem Rechten zu schauen. Eine Frau und ihr halbwüchsiger Sohn fristeten dort ihr elendes Dasein, so dicht an der Grenze zum Niemandsland, als hätte man sie aus der menschlichen Gemeinschaft verjagt oder als müssten sie sich verstecken. Sie hatte sich in der ersten Jahreshälfte mit dem Anbau von Kartoffeln und Rüben auf kargem Boden geplagt, der Junge musste eine magere Kuh und ein paar Ziegen versorgen, oftmals so, dass er mühsam gesammeltes Grünfutter auf dem Rücken herbeischleppte. Was Cadan zu ihnen führte, war nicht Mitgefühl allein, sondern das Wiedererkennen des eigenen Schicksals. So hatte er beschlossen, der abgearbeiteten Mutter und ihrem ausgemergelten Sohn zu helfen. Als sie im Herbst das Fieber bekamen, hatte er heimlich Kräuter auf der Türschwelle abgelegt. Als der Junge sich auf seinem Heimweg verirrt hatte und zwei Nächte verloren blieb, sandte Cadan die Irrlichter aus, die ihn zurück zur Hütte führten. Seit dem Einbruch des Frosts sorgte er für Feuerholz und brachte ihnen etwas zum Essen. Mal ein erjagtes Kaninchen, mal einen Beutel mit Mehl, getrockneten Früchten oder Pilzen. Stets war er darauf bedacht, dass sie ihn nicht bemerkten. Lieber war ihm, sie glaubten, jemand aus ihrem Heimatort sorge sich um sie. Es wäre gewiss nicht gut, wenn sie entdeckten, dass es der Hexenlehrling war, der ihnen half. Weder für die beiden noch für Cadan und Lucius.
An diesem Dezemberabend näherte sich Cadan der Hütte wie stets mit besonderer Vorsicht. Erst als er sicher war, dass ihn die einbrechende Dunkelheit verbergen und der frische Schneefall seine Spuren verwischen würde, wagte er sich vor. Mit einem einzigen Satz sprang er über den primitiven Zaun, der um den kleinen Nutzgarten führte und schlich weiter zur Rückseite der Behausung. Dort, unter dem Dach, wo Gerätschaften lehnten und sich ein wenig Holz stapelte, war eine kleine Fensterluke. Bei dieser legte Cadan gewöhnlich seine Gaben ab. Heute aber war da schon etwas. Sofort war der junge Hexer höchst alarmiert und wollte gleich zurückweichen, doch dann besann er sich. In der Hütte waren nur die Frau und der Junge. Von ihnen ging unmittelbar keine Gefahr aus. Doch was hatten sie dort hergelegt? Vorsichtig trat Cadan an das Fenster heran und erkannte eine kleine Figur. Er nahm sie behutsam in die Hand, um sie genauer zu betrachten. Sie war aus Holz geschnitzt und stellte ein Wesen dar, dem offenbar Flügel am Rücken wuchsen. So etwas hatte Cadan noch nie gesehen. Auch wenn er nicht wusste, was er damit sollte, steckte er es im Tausch gegen sein Kaninchen ein. Alsdann verschwand er so schnell und lautlos, wie er gekommen war. Was er nicht mehr sah, war, wie sich die Luke nur einen Spalt breit öffnete, gerade genug, damit der Knabe dahinter hinausspähen konnte in die verschneite Nacht.
*****
Lucius horchte auf, als er endlich die fast lautlosen Schritte seines Lehrlings im Schnee vernahm. Wieder kam der Bengel noch später. Dem Hexenmeister war längst klar, dass es dafür einen Grund geben musste. Noch dazu einen, der ihm womöglich nicht gefallen würde, denn Cadan könnte sein Geheimnis sonst nie so lange für sich behalten. War es möglich, dass er sich in einem der Dörfer jenseits des Moores herumtrieb? Hatte er vielleicht ein Mädchen? Aber nein, schalt sich der Alte selbst. Niemals wäre Cadan so unvorsichtig. Er wusste, was man vielerorts mit Anhängern des alten Glaubens und der Hexenkunst tat und würde nicht riskieren, dass man sie mit Schlägen forttrieb oder Schlimmeres. Und ganz gewiss würden die jungen Dinger vor ihm Reißaus nehmen, wenn sie erst wussten, wer und was er war. Auch wenn Cadan unter seiner Kapuze und den üppigen rotbraunen Locken ein recht hübscher Bursche war, wie Lucius bemerkte, als jener rasch, gefolgt von einem Windstoß, hereinkam. Den Schnee klopfte er sich an der Tür von Umhang und Stiefeln.
„Du bist spät, mein Junge", begrüßte ihn der alte Hexer.
„Der Weg ist verschneit und die Irrlichter waren heute faul", lautete die Antwort, während der Lehrling erst Bogen und Beute, dann den Umhang ablegte.
Der Alte nickte und reichte Cadan den heißen Beerensaft, mit dem er sich an den Herd setzte.
„Das sind sie meistens."
Wie immer begann Lucius damit, das Essen aufzutun und überlegte, wie er fragen könnte, um dem Burschen die Zunge zu lösen.
„Du warst heute wohl weit unterwegs?"
„Mmh, ja."
„Die Tage werden noch immer kürzer und der Schneefall verstärkt sich. Vielleicht solltest du nicht so lange Patrouillen machen. Ich denke, dass sich sowieso keine Menschenseele ins Moor wagen würde. Komm von nun an einfach nach der Jagd gleich heim. Wir können besser die magischen Sprüche studieren oder Tränke brauen."
Als er dies sagte, bemerkte Lucius eine Reaktion seines Lehrlings, die für jeden anderen außer den Hexer zu übersehen gewesen wäre: Eines von Cadans Augenlidern zuckte und sein nächster Atemzug war länger als der davor. Damit lag es auf der Hand. Irgendetwas ging vor. Jetzt - da war sich Lucius gewiss - brauchte er nur zu warten, bis der Bursche redete. So klug wie er war, wusste er, dass sein Meister wusste ...
Während die beiden ihre Mahlzeit aßen, sprachen sie zunächst über andere Dinge. Der Hexer hatte Misteln geschnitten und sich über seine stumpfe Sichel so geärgert, dass er alle Schneidewerkzeuge geschliffen hatte. Cadan hörte zu und auch wieder nicht. Wie sollte er nur erklären, was er getan hatte und warum er es wieder tun musste? Er könnte es doch nicht lassen! Schließlich brach es nur so aus ihm heraus.
„Ich muss dir etwas gestehen", begann er und sofort traf ihn der zugleich wissende und gespannte Blick des Alten. „Du sagst stets, ich solle mich vor den Menschen in Acht nehmen und das tue ich auch. Keiner hat mich gesehen. Und ich konnte nicht anders. Bitte verzeih."
Lucius' Mine verriet nicht, was er von diesem Geständnis hielt, doch Cadan vertraute ihm stets, also fuhr er fort und erzählte von der bitteren Not der Mutter und ihres Sohnes, die den Winter nicht überstehen würden, wenn er ihnen nicht mehr half. Von ihrem Leid, dass ihn dauerte und von dem Jungen, der eine Chance verdient hätte.
„Du magst ihn", bemerkte der Hexer endlich. „Und du gehst deswegen so ein Risiko ein."
„Ich kenne ihn gar nicht."
„Nein, aber du erkennst ihn."
Cadan blinzelte. Woher konnte Lucius das so genau sagen? Aber er war eben Lucius. Ihm blieb nichts verborgen.
„Es ist wahr. So wie du mich damals erkannt hast. Wir haben genügend Vorräte für den Winter. Die zwei haben das nicht."
Bei diesen Worten blitzte ein Funke in den Augen des Hexers auf. Er erinnerte sich nur zu gut daran, wie er seinen Lehrling ausgewählt hatte, weil dieser ihm von dem zu wenigen, das er selbst zum Essen hatte, etwas abgab.
„Also schön", willigte er darum ein. Im Grunde war er stolz auf Cadan, der sich nur einmal mehr als würdig seiner Ausbildung erwiesen hatte. Eines Tages würde er nicht nur ein mächtiger, sondern auch ein guter Hexer sein. „Aber versprich mir, dich trotzdem in Acht zu nehmen. Sie dürfen nicht wissen, wie man durch das Moor zu uns gelangt."
Erleichtert nickte der Bursche. Es wäre keine besondere Schwierigkeit, sich auch weiterhin nicht sehen zu lassen, dachte er, und dankte Lucius.
*****
Am dritten Tag nach ihrer Übereinkunft, machte sich Cadan abermals auf den Weg zu der Hütte am Rand des Niemandslandes. Er hatte Glück gehabt und zwei fette Enten erjagt. Eine davon würde er an der Fensterluke ablegen. Sie würde Mutter und Sohn Kraft spenden und sicher für zwei oder sogar drei Mahlzeiten reichen. Außerdem hatte Lucius seinem Lehrling einen Beutel mit getrockneten Beeren mitgegeben. Die Frau würde wissen, was damit zu tun sei, hatte er gemurmelt. Als der Bursche sich nun bei Einbruch der Dunkelheit über verschneite Eisflächen der Behausung näherte, fiel Cadan die kleine Figur wieder ein, die er beim letzten Mal gefunden hatte. Er suchte danach in seinen Taschen, doch sie war nicht mehr da. Hatte er sie etwa verloren? Er schalt sich nun, weil er sie vergessen und seinen Meister nicht gefragt hatte, was es damit auf sich haben könnte. Vielleicht war es auch besser so.
Nach dem Sprung über den Zaun bemerkte er, dass sich keine frischen Spuren fanden. Das war merkwürdig. Hatten Mutter und Sohn die Hütte nicht verlassen? Waren sie krank? Erleichtert stellte Cadan fest, dass zumindest eine Spur dicht an der Rückwand zum Feuerholz führte und es war auch noch genügend davon da. Lautlos schlich er zu der kleinen Luke, neugierig, ob wieder etwas für ihn dort lag, und tatsächlich steckte dort eine wunderschöne, große weiße Feder im Schnee. Einen Moment überlegte der junge Hexer, ob sie wirklich für ihn war und ob er sie einfach so nehmen dürfe. Dann aber war es ja nur eine Feder im Tausch für einen guten Braten. Also nahm er sie in die Hand. Im selben Augenblick stellte er fest, dass eine feine Schnur an ihr befestigt war und drinnen in der Hütte fiel etwas klappernd zu Boden. Verflucht! Die Ente fiel zu Boden und Cadan machte vor Schreck einen Satz rückwärts, wobei er auch noch ungeschickt hinten über fiel. Verdammt! Hastig sprang er auf, da öffnete sich auch schon das Fenster und eine Stimme rief:
„Halt! Bleib! Zeig dich!"
Nein, nein, nein! Mit nur drei langen Sätzen war Cadan am Zaun und hinüber.
„Jetzt lauf nicht fort! Wer bist du?"
Als hätten ihn die Rufe gebannt, hielt der Bursche inne und schaute zurück. Er wurde nicht verfolgt. Nur der Umriss des Knaben zeichnete sich in der Luke gegen den Feuerschein im Innern der Behausung ab. Das war nun wirklich alles andere als entsetzlich. Cadan zögerte. Könnte er es wagen?
„Was willst du? Warum lauerst du mir auf?", rief er ihm zu, wobei sein Atem und seine Stimme verrieten, wie außer sich er war. Doch er rannte nicht fort. „Ich könnte dich in ein Irrlicht verwandeln, wenn du mir zu nahe kommst!"
Diese Drohung hätte den Jungen eigentlich zurück in die Hütte treiben sollen, doch das tat sie nicht. Noch immer schaute er hinaus in die Nacht und obendrein kam es Cadan so vor, als habe er ihn genau im Blick.
„Ich weiß", kam die Antwort. „Du bist einer von den Verstoßenen im Moor. Aber mir und meiner Mutter tust du nichts."
Der junge Hexer schnaubte verächtlich. „Was für ein Unsinn. Mein Meister und ich, wir meiden die Menschen aus gutem Grund. Niemand hat uns verstoßen." Neugierig geworden, was dem Jungen am Fenster noch für Gerüchte zu Ohren gekommen waren, kam Cadan näher. „Und woher willst du wissen, dass ich dir nichts tue, jetzt, wo du mich entdeckt hast?"
„Deswegen bist du gerade weggerannt, richtig?"
„Das war ..."
„Du willst nicht, dass ich dich sehe."
Verdammt.
Cadan musste zugeben, dass der Junge nicht auf den Kopf gefallen war. Und auch wenn er ihn wirklich in ein vorwitziges Irrlicht verwandeln könnte, hatte er das nicht vor. Alle bisherige Mühe wäre umsonst gewesen.
„Na schön", gab er mürrisch zu, „jetzt siehst du mich. Und?"
Betont langsam trat der Lehrling vor die Luke, sodass ihn das Licht von drinnen traf. Er blinzelte.
„Ich wusste, dass du kein Dämon bist", stellte der Junge fest.
„Nein. Bin ich nicht, du Schlaufuchs. Könnte ich aber sein."
„Das stimmt nicht. Dann hättest du den Engel nicht mitgenommen."
„Den ... was für ein Ding?"
Ganz offenkundig musste die geflügelte Figur gemeint sein.
„Den Engel. Wenn du ein Teufel wärst, hätte er dir die Finger verbrannt."
Das glaubte Cadan nicht für den Bruchteil eines Wimpernschlags, doch fand er die Idee irgendwie süß.
„Hier schau, alles gut", sagte er und hielt ihm zum Beweis die Handflächen hin.
Inzwischen hatten sich seine Augen an das Gegenlicht gewöhnt und er konnte ein Gesicht erkennen. Der Junge lächelte und sah überhaupt nicht mehr so ausgemergelt aus wie im Herbst.
„Das weiß ich doch", gab er zurück. „Meine Mutter meint, du seist vielleicht sogar selbst ein Engel, weil du all diese Sachen für uns tust."
„Pffff! Kein bisschen", wehrte Cadan ab. Es machte ihn direkt ein wenig verlegen, auch wenn er keine Ahnung hatte, was so jemand tat. „Ich wohne bei meinem Meister, dem Hexer Lucius. Cadan ist mein Name und deiner?"
Der Junge riss erstaunt die Augen auf. „Dann lernst du auch die Hexerei? Ich heiße Jowan."
„Hast du keine Angst?"
„Warum? Du hilfst uns. Mutter hat so viel geweint, wenn sie dachte, ich bemerke es nicht. Das ist jetzt vorbei."
„Wie schön", fand Cadan, obwohl er es mehr für den Jungen getan hatte. Vielleicht lag es daran, dass seine eigene Mutter es nicht fertiggebracht hatte, den Mann zu verlassen, der ihren Sohn so sehr misshandelte. Vielleicht hätte es ihn getröstet, sie auch nur einmal seinetwegen in Tränen zu sehen.
„Du musst ein Engel sein!"
„Was hast du immer damit? Ich weiß gar nicht was das ist. Ich bin ein Hexenlehrling. Und deine seltsame Figur habe ich nicht mehr."
„Das macht nichts, ich schnitze dir eine neue. Sie ist fertig, wenn ihr zum Weihnachtsfest kommt."
Cadan rümpfte die Nase. „Du hast mir zweimal eine Falle gestellt, um herauszufinden, ob ich ein Dämon bin und jetzt soll ich dir trauen und zusammen mit meinem Meister hierherkommen, zu so einem ... Fest?"
„Zum Weihnachtsfest. Du kennst aber auch gar nichts!", rief Jowan aus, doch dann besann er sich. Wenn sein Besucher keinen Engel und kein Weihnachten kannte, dann doch sicher nur, weil er so weit draußen im Niemandsland lebte.
„Es tut mir leid", begann er erneut. „Ich wusste nicht, dass dich das erschreckt ..."
„Pah!"
„... und meine Mutter und ich, wir wollten herausfinden, wer uns all die guten Gaben bringt. Bitte rede mit deinem Meister und bestell ihm Grüße. Wir würden uns freuen, mit euch gemeinsam zu essen, zu singen und ein bisschen fröhlich zu sein."
So wie der Junge es jetzt beschrieb, klang es wirklich verlockend.
„Wie hast du das eben genannt?"
„Weihnachten. Aber wenn euch das lieber ist, dann nennen wir es eben ... Eisgrillen."
Jowan grinste. Das Wort hatte er sich gerade ausgedacht, doch hoffentlich gäbe es wirklich etwas, was sie alle gemeinsam am Feuer zubereiten könnten. Noch eine Ente oder ein Kaninchen. Oder zwei.
„Also schön", lenkte der junge Hexer schließlich ein. „Ich will meinem Meister eure Einladung überbringen. Wann ist denn dieses Weißgrillen?"
„Eisgrillen", wiederholte Jowan lachend. „Das ist zur Wintersonnenwende, in vier Tagen."
„Gut. Aber keine faulen Tricks mehr!"
„Das muss von dir kommen. Hätte mich nicht gewundert, wenn du ein Dämon wärst. Obwohl du dafür zu hübsch bist."
Damit hatte Cadan nie und nimmer gerechnet, doch wie es ihn so unvermittelt traf, erwiderte er das Kompliment.
„Du auch", murrte er verlegen und nahm sich dann vor zu gehen. „Wir werden uns wiedersehen. Bis dann."
„Pass auf dich auf, Cadan!"
*****
Auf seinem Heimweg schwirrten die Irrlichter nur so um Cadan herum, als wüssten sie, wie aufregend sein Erlebnis für ihn gewesen war. Natürlich war er sich der Tatsache bewusst, dass er gegen Lucius' Gebot zu höchster Vorsicht und Abstand verstoßen hatte. Aber das war nicht von ihm ausgegangen! Dieser Jowan hatte ihm regelrecht Fallen gestellt! Und er hatte mit ihm geredet. Sie hatten sich angesehen. Und er hatte Cadan und seinen Meister zum Eisgrillen eingeladen. Lucius könnte darüber nicht lange erbost sein, denn im Grunde musste er sich doch auch nach anderen Menschen sehnen.
Als er die Hütte des Hexers betrat, waren seine Gedanken und Gefühle noch immer ordentlich in Unordnung, was Lucius natürlich gleich bemerkte. Wie es so seine Art war, beschloss er, auch dieses Mal zu warten, bis der Bursche von selbst erzählte. So reichte er ihm den heißen Saft, ließ ihn Mantel, Bogen nebst Beute ablegen und bald schon saßen sie am Herd zusammen.
„Wie ist es dir heute bei deinem Werk ergangen?", fragte Lucius endlich, so als wäre nichts dabei.
„Es war ... etwas ganz Besonderes", begann Cadan zu erzählen und schon bald sprudelte es nur so aus ihm heraus.
Lucius hörte aufmerksam und einigermaßen überrascht zu. Er wusste, dass es für einen jungen Mann nicht leicht war, so fernab der Menschen wie ein Ausgestoßener zu leben. Gleichsam wusste er aber um die Dankbarkeit seines Lehrlings, seinen großen Fleiß und seine aufrichtige Hingabe an die Kunst der Heilung, der Magie und der Naturgeister. Doch offenbar hatte der Hexer den Preis dafür unterschätzt. Der Bursche musste unter ihrer Einsamkeit leiden, sonst wäre er nicht auf so eine Finte eingegangen. Mit einem einfachen Zauberspruch hätte er diesen Bengel in der Hütte verwirren können. Aber nein.
„Kannst du mir den Grund nennen", fragte Lucius zuletzt, „warum du und ich zu diesem Fest gehen sollten? Was haben du und ich mit diesem Weihnachten zu schaffen?"
Cadans Gedanken kreisten noch immer um Jowans Worte, vor allem die über Engel und Dämonen, aus denen er sich keinen Reim machen konnte. Doch dann geschah etwas Wunderbares: Tief in seinem Innern spürte er eine sonderbare Wärme, wenn er an den Jungen in der Hütte dachte. An das Lächeln auf seinem Gesicht, seine Stimme und seine Furchtlosigkeit. Endlich fand Cadan so den Ausdruck für seine Empfindungen.
„Ihn und mich verbindet etwas, von dem ich noch nicht weiß, was es ist. Aber ich möchte es unbedingt herausfinden. Ich möchte ihn wiedersehen und ihm nicht nur irgendwelche Dinge hinlegen. Ich möchte mit ihm singen. Und wenn wieder Frühling wird, bringe ich ihm das Bogenschießen bei."
Der Alte hatte genug gehört und mehr noch: Er hatte bei all dem in die Augen und das Herz seines Lehrlings geschaut. Und er hatte verstanden.
„So sei es."
Cadan strahlte.
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