Alles, was zählt
Wenn man dem Tode geweiht ist, so wie ich, dann sollte man das bisschen Lebenszeit, das einem bleibt mit offenen Armen empfangen. Man sollte keine Zeit vergeuden und keine Fragen stellen, auf die es keine Antwort gibt. So hatte ich es mir vorgenommen. So wollte ich den armseligen Rest meiner Tage verbringen. Nie hätte ich für möglich gehalten, was mit Adrien in mein Leben trat ...
An jenem Abend wartete ich endlos in dem schäbigen Hotelzimmer, welches ich in Paris gemietet hatte, auf das Erscheinen meines schönen Geliebten. Wir teilten es, seit wir die erste Nacht gemeinsam hier verbracht hatten. Er war seit dem frühen Nachmittag unterwegs, um Geld zu verdienen. Wir hatten es bitter nötig, denn die wenigen Francs, die mir im Monat zur Verfügung standen, waren längst aufgebraucht und Adrien bestand darauf, seinen Teil beizutragen, wie er es nannte. Mein Gesundheitszustand, meine Schreibblockade und mein ohnehin gebrochener Stolz ließen es also zu, dass er loszog, um in den umliegenden Cafés und Tanzlokalen seinen Geschäften nachzugehen.
Ich wusste, was er tat, denn so waren er und ich uns begegnet: An manchen Tagen machte er genug Umsatz mit seinem Bauchladen, aus dem er hauptsächlich Tabak und Schokolade, manchmal auch Kokain verkaufte. An anderen Tagen ging er auf Angebote von zahlenden Männern ein, denen er ihre sexuellen Wünsche erfüllte. Dann stellte ich keine Fragen und war einfach nur für ihn da, wenn er zurückkam. Zu mir. Es gab hier nur uns beide, ihn und mich. Mir war bewusst, dass dieses Arrangement mit mir für ihn besser sein musste als ohne mich. Trotz der mehr als bescheidenen Umstände, in denen wir lebten. Trotz meiner Schwindsucht. Umso mehr liebte ich ihn.
Draußen fiel ein andauernder Nieselregen auf das schwarz glänzende Straßenpflaster unter den neuen elektrischen Laternen. Da hörte ich endlich seine Schritte im Flur. Gleich darauf öffnete sich die Tür und er trat ein. Er war nass geworden und schüttelte den Regen aus seine dunklen Locken wie es ein Hund tut. Eine Angewohnheit, die verriet, dass er auf der Straße gelebt haben musste. Zumindest für eine Zeit. Lässig stellte er den Laden ab, dann trafen sich unsere Blicke. Selbst im schwachen Schein der Kerzen war nicht zu übersehen, wie atemberaubend er war. Seine Augen funkelten, er lächelte. Der Duft, der mit ihm den Raum erfüllte, war nicht der von Tabak und Alkohol, sondern von einem unbekannten teuren Seifenwasser. Also war er mit jemandem zusammen gewesen. Irgendwo, wo es ein Bad gab. Ich schob den Gedanken fort.
„Ich habe dich erwartet."
„Gut, ich habe uns was mitgebracht."
„Ich brauche nur dich", gab ich zurück und holte ein Tuch für ihn, damit er sich trocknen konnte und half ihm aus der feuchten Jacke. Das Feuer im Kamin brannte schon.
Er schenkte mir ein weiteres Lächeln und einen Kuss, was mir als Antwort mehr als genügte. Wir waren jetzt alles, was zählte.
„Halt mich ein wenig fest", bat er.
Ich gehorchte, wuschelte ihm durchs Haar, streifte ihm die Weste ab und öffnete sein Hemd, dann zog ich ihn ganz zu mir. Als er sich an mich schmiegte und die Arme eng um mich schloss, erschrak ich fast, weil er so warm, seine Wärme so real war. Er roch gut und sein Atem streifte mein Ohr. Ich hielt ihn so fest ich konnte, setzte ihm einen Kuss auf die Wange. Alles an ihm war so lebendig. Er war so jung, so stark – er würde weiterleben, wenn ich nicht mehr da war. Ich hasste mich für diesen Gedanken. Er war so eigennützig, so ungerecht.
„Ich liebe dich so sehr", flüsterte ich ihm zu.
„Dann zeig es mir."
Was er verlangte, obwohl er es ganz sicher wusste, musste einen Grund haben. Einen, über den er jetzt noch nicht sprechen konnte oder wollte. Aber das war mir einerlei. So schaute ich ihm in die tiefblauen Augen, legte meine Lippen auf seine, küsste ihn erst voller Zärtlichkeit, sodann mit erwachender Leidenschaft. Alles an ihm berauschte mich und trieb mich weiter. Ich zerrte ihm sein Hemd herunter, schob meine Hände über seine Brust, küsste seinen Hals. Er begann ebenfalls, mir die Kleidung vom Leib zu streifen. Erst noch mit Vorsicht, so als wäre ich zerbrechlich, doch mit meinem zunehmenden Eifer gewann er an Sicherheit.
„Ich bin nicht aus Zucker", ließ ich ihn wissen, während ich mir an seiner Hose zu schaffen machte.
„Doch, das bist du", raunte er verführerisch und begann, mich mit seinem Mund zu verwöhnen. Er leckte, knabberte, sog mir an Kinn und Hals, dann weiter über meine erhitzte Haut an Schultern und Oberkörper. Wir standen noch immer eng umschlungen bei der Tür, was so nicht bleiben konnte. Ich deutete ihm also an, mir näher ans Feuer, herüber zum Bett zu folgen, was er natürlich verstand. Der Weg dahin war nur ein paar Schritte, die wir und gegenseitig schoben und halb stolperten. Als ich die Bettkannte in den Kniekehlen spürte, ließ ich mich einfach nach hinten fallen und zog ihn mit mir.
Adrien lachte glucksend. Das war gut, denn er begann, sich zu entspannen, wirklich hier bei mir anzukommen. Eilig wurden wir nun den Rest unserer Kleider los. Er streifte seine Hosen ab, dann zog er mir meine aus und warf sie nachlässig zur Seite. Gleich kam er wieder über mich, drängte sich an mich. Ich empfing ihn mit weiten Armen, fasste sein Gesicht zwischen meinen Händen und führte ihn in einen hungrigen Kuss.
„Was ... willst du?", entfuhr es mir.
„Dich."
„Du hast mich."
Mehr brauchte es nicht, um uns vollständig zu entfesseln. Unsere Leiber drängten sich aneinander, Adrien schob sich zwischen meine Schenkel, verschaffte unseren Erektionen Reibung. Meine Arme legten sich um ihn, meine Hände wanderten zu seinem Po. Fest und muskulös wie alles an Adrien, fühlte ich ihn unter meinen Handflächen. Er stützte sein Gewicht mit einem Arm ab, mit dem anderen hielt er mich an sich. Unsere Küsse wurden wilder, wie auch das Winden und Schieben unserer Körper. Meine Lust überkam mich in heißen, prickelnden Schauern, die mir gleichzeitig die Orientierung nahmen. Ich fasste nach meinem Geliebten, damit er mir Halt gab, bekam seine Locken zu fassen. Er stöhnte wohlig, als ich daran zog, ließ es willig zu. Unser heißer Atem vermischte sich, als ich spürte, wie er endlich meine Härte fasste, um sie zu massieren. Ich tat es ihm gleich und nahm seine Länge in meine Hand. Das Gefühl, sich dem anderen so auszuliefern, war höchst erregend und so brauchte es nicht mehr viel, bis sich unser Höhepunkt anbahnte. Sein Atemrhythmus, die Rötung seiner Haut und das Pulsieren in meiner Hand waren eindeutig. Mir ging es nicht anders. Inzwischen war ich erhitzt, meine Muskeln spannten sich an und ein äußerst angenehmes Ziehen und Prickeln, durchfuhr mich, um sich in Adriens Griff zu konzentrieren und schließlich zu entladen. Wir stöhnten gemeinsam, wir kamen gemeinsam, wir lagen gemeinsam, völlig aufgelöst.
Mit dem Abebben unserer Lust gaben wir uns mehr und mehr anderen Zärtlichkeiten hin. Noch immer küssten wir uns, ich fuhr ihm durch die Locken und über den Rücken, er mir über die Seiten und Schenkel. So dösten wir ein wenig, bis er aufstand, um ein feuchtes Handtuch zu holen und etwas Holz im Kamin nachzulegen. Ich genoss dabei den Anblick, den er bot. Sex machte ihn immer noch schöner. Er kannte keine Scheu, darum bewegte er sich ganz frei und geschmeidig wie ein Kater. Der Feuerschein tauchte seinen jugendlich muskulösen Leib in warmes, goldenes Licht, gerade so, als sei er die lebendig gewordene Statue des griechischen Apollon.
Deine Liebe macht mich trunken,
ganz und gar in dir versunken,
deinem Wesen, deinen Reizen,
deinen Lippen, süß wie Honig,
im Wiegen deiner Hüften ...
Noch eh ich mich versah, hatte ich ihm in meinem Geist ein paar Verse gewidmet und gerade so, als ob er meine Gedanken lesen konnte, kam er mit einem verschmitzten Lächeln zu mir zurück.
„Du dichtest", bemerkte er und sah zu, wie ich mich säuberte.
Ich widersprach nicht. In meinem Innern war ich doch nicht ganz gebrochen.
„Ich sagte, ich habe uns was mitgebracht. Rate mal ...", begann er nun.
Ich erinnerte mich, mir mochte aber nichts einfallen, was wir hier in unserem kleinen Winkel der Welt brauchen konnten. Geld natürlich, aber das war zu profan, als dass er darum ein Aufheben machen würde. Sein Blick verriet mir, dass er auf einen Vorschlag lauerte.
„Mir fällt nichts ein," gab ich vor, dann riet ich einfach irgendetwas. „Hast du ein Kätzchen auf der Straße gefunden?"
Das schien ihm zu gefallen.
„Leider nein, rate nochmal."
Er legte sich zu mir zurück ins Bett und schaute mich auffordernd an.
„Hast du ... einen Brief für mich?"
Das war immerhin im Bereich des Möglichen. Noch hatte ich den ein oder anderen guten Freund in London, der zu mir hielt.
„Besser", verriet Adrien endlich. Er hielt es wohl nicht mehr aus, dass ich so schlecht riet. „Schau her. Das hier ist genug Geld wert, um in die Schweiz zu reisen."
Er hielt mir tatsächlich eine wertvolle Halskette, besetzt mit Edelsteinen hin, die mir natürlich die Sprache verschlug.
„Was ... wie ...?"
„Damit hast du nicht gerechnet, was? Mach den Mund wieder zu, die ist nicht gestohlen. Und es wird sie auch niemand vermissen. Da war mir noch jemand einen Gefallen schuldig. Für die Klunker halte ich die Klappe und verrate niemandem, dass er zu Jungs wie mir kommt."
Was sagte man dazu? „Das ist Erpressung, Adrien."
„Das ist unsere Fahrkarte in die Berge. Dort gibt es eine Klinik, wo man dir helfen kann. Sanatorium heißt die."
Was sagte man dazu? „Seit wann hast du diesen Plan? Woher weißt du so etwas?"
„Na, ich bin nicht blöd und einer meiner Kunden ist Arzt."
Ja natürlich, wahrscheinlich der, von dem er auch das Kokain zum Verkauf bekam. Mit einem Mal sickerte es bei mir ein: Mein wunderschöner Bursche wollte nicht zulassen, dass ich so schnell starb. Er hatte das für mich getan und er wollte noch mehr tun. Und ich war kurz davor, ihm eine Szene zu machen, weil er irgendeinem reichen Freier was abgeluchst hatte!
„Ich liebe dich so sehr und verdiene dich gar nicht", brachte ich noch heraus, bevor mir die Tränen kamen. Voller Hoffnung, Dankbarkeit und Glück.
„Es wird alles gut", flüsterte er mir zu. „Und wenn du erst in dem Sana-Dingsbums bist, dann will ich ein Kätzchen."
Was sagte man dazu?
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