42. Reaction

Fionn


Das Herz sprang mir fast aus der Brust, als ich aus der Toilette flüchtete, um geradewegs auf Dustin zuzulaufen. Er starrte mich an, als sei ich ein Geist.

„Was ist denn passiert?", fragte er einigermaßen überrascht.

„Da!" Ich deutete nach hinten. „Da, in der Toilette... ist er."

Meine Stimme bestand nur noch aus einem Keuchen.

„Wer ist er?", erkundigte sich Dustin in seiner ruhigen Art.

„Das Narbengesicht", stieß ich hervor.

Ich hatte keine Ahnung, ob er wusste, von wem ich redete, vermutete jedoch, dass die Schurken der Mafia Alistairs Mitarbeitern durchaus bekannt waren.

„Er ist reingekommen und ich bin geflüchtet."

„James!" Dustin sah mich eindringlich an, gleichzeitig packte er mich an den Schultern. „Du irrst dich, das kann nicht sein. Narbengesicht ist im Gefängnis!"

„Aber er stand..."

„Nein! Beruhige dich! Alles ist ok!" Seine Stimme hatte einen festen Klang und die Tatsache, dass er mich gerade James genannt hatte, bewirkte, dass ich zu überlegen anfing.

„Oh Gott, ich drehe hier noch völlig durch", schnaufte ich und fuhr mit einer Hand durch mein Haar, das ich am Morgen noch sorgfältig frisiert hatte.

„Es ist ok, das ist ganz normal." Dustins Tonlage war nun eine Nuance sanfter. „Die meisten Menschen in deiner Situation reagieren so. Es ist nichts Außergewöhnliches, aber dennoch lästig für die Betroffenen. Ich werde mir diesen Typen aber trotzdem näher anschauen, obgleich ich nicht denke, dass er hinter dir her ist, sonst wäre er dir nämlich gefolgt."

So einleuchtend dies auch klang, ich hatte trotzdem ein mulmiges Gefühl in meiner Magengegend, als Dustin sich auf in Richtung Toiletten machte. Nervös lehnte ich mich gegen die Wand und wartete, was passieren würde. Es dauerte gar nicht lange, da kam Dustin wieder, im Schlepptau hatte er einen Mann, dessen Gesicht mit einer Narbe überzogen war. Die beiden gingen direkt auf mich zu, wobei Dustin grinste.

„Darf ich dir José vorstellen, James?", fragte er.

José reichte mir seine Hand, während er freundlich grinste. Und dann erkannte ich es. Die Narbe befand sich auf der anderen Wange, als bei jenem Mann, gegen den ich ausgesagt hatte. Zudem waren seine Augen grün, anstatt braun. Langsam normalisierte sich mein Herzschlag wieder, während ich Josés Hand schüttelte.

„Mein Freund James hat dich mit jemandem verwechselt", erklärte Dustin grinsend, worauf José freundlich lächelte.

„Das kann passieren", antwortete er. „Aber es muss jemand sein, den du nicht besonders magst, kann das sein?"

„Ja, das stimmt."

Mehr sagte ich nicht dazu, denn es wäre nicht angebracht gewesen.

„Ok, ich muss jetzt wieder zur Arbeit, es war nett, dich kennengelernt zu haben, James."

„Du arbeitest hier?", fragte ich überflüssigerweise, was José mit einem Nicken kommentierte.

„Ja, ich bin hier am Flughafen angestellt."

Ich schaute ihm hinterher, als er um die Ecke bog und fühlte im gleichen Moment Dustins Hand auf meiner Schulter.

„Lass uns langsam zum Gate laufen, James."

Verdammt, ich musste mich jetzt echt daran gewöhnen, dass bald alle Welt mich mit James ansprechen würde.

Mit gesenktem Kopf trabte ich hinter Dustin her, der genau zu wissen schien, wohin wir laufen mussten, um zum richtigen Ort zu gelangen. Am Gate angekommen, nahmen wir unsere Plätze im Wartebereich ein und vertrieben uns die Zeit mit reden.

„Wenn wir in Paris eintreffen, begleite ich dich noch bis zum Abfluggate, damit du auch in der richtigen Maschine landest", meinte Dustin.

„Ich kann lesen!", erwiderte ich entrüstet.

„Alistair möchte es so, also keine Diskussion, bitte."

Eines hatte ich auf jeden Fall gelernt, wenn der laufende Meterfünfzig etwas befahl, traute sich niemand, sich ihm zu widersetzen. Aber eigentlich hatte ich auch gar nichts dagegen, noch ein wenig länger mit Dustin zusammen zu sein.

Da unser Flug gerade aufgerufen wurde, machten wir uns zum Einsteigen bereit. Großzügig wie er war, überließ Dustin mir den Fensterplatz, was ich sehr nett fand. Die Maschine startete pünktlich in Manchester und landete ebenso pünktlich in Paris. Normalerweise wäre Dustin gar nicht in den Bereich gekommen, welchen ich nun betreten musste, um meinen Anschlussflug nach San Diego zu erreichen. Doch aufgrund seiner Dienstmarke, sowie einer von den Behörden unterzeichneten Vollmacht, welcher er den Beamten in Paris vorlegte, gestatte man ihm, mich weiterhin zu begleiten.

Erneut nahmen wir im Wartebereich Platz, da Dustin so lange ausharren wollte, bis mein Flug aufgerufen wurde und ich in die Maschine einsteigen würde.

„Alles wird gut gehen", wisperte er mir zu.

„Das hoffe ich."

„Wir haben noch nie jemanden verloren, falls du verstehst was ich meine."

Das tat ich durchaus und es beruhigte mich ein wenig. Bevor ich noch etwas sagen konnte, drang eine Stimme durch die Lautsprecher, der Flug war bereit für das Boarding. Beinahe gleichzeitig erhoben Dustin und ich uns von den Sitzen. Als ich in seine Gesicht schaute, begann ich zu seufzen.

„Du wirst mir fehlen", sagte ich.

„Du mir auch."

Wir umarmten uns wie Kumpels das taten und er sagte noch etwas, was mich zum Schmunzeln animierte. „Irgendwann, wenn du wieder draußen bist, nehmen wir Kontakt auf."

Ich wusste genau, auf was sich das 'draußen' bezog. Er meinte damit das Zeugenschutzprogamm, aber das durfte er nicht in der Öffentlichkeit aussprechen.

„Du wärst mit Sicherheit ein guter Freund", stellte ich fest

„Du auch und jetzt ab mit dir, sonst verpasst du noch deinen Flug nach San Diego."

Das wollte ich nun auf keinen Fall.

Es schien Schicksal zu sein, dass ich wieder einen Fensterplatz bekommen hatte. So konnte ich wenigstens hin und wieder nach draußen schauen, um die Wolken zu betrachten, die wie riesige Wattbäusche wirkten, über die man am liebsten laufen wollte. Doch ich besaß durchaus noch eine andere Beschäftigung, um mir die Zeit während des langen Fluges zu vertreiben.

Neugierig holte ich die Unterlagen aus dem braunen Umschlag, welchen Alistair mir in Manchester im Parkhaus des Flughafens ausgehändigt hatte. Sorgsam studierte ich diese, um mich langsam aber sicher mit meinem neuen Leben auseinanderzusetzen.

In San Diego durfte ich meinen Mietwagen abholen, welchen ich zwei Wochen behalten würde. Während dieser Zeit sollte ich einen neuen Wagen kaufen. Diese zwei Wochen waren auch meine Galgenfrist, was die Arbeit betraf, denn ich musste erst am fünfzehnten Juli in Oceanside, in der evangelischen Gemeinde meinen Dienst als Pfarrer antreten.

Nur alleine der Name des Ortes, in welchem ich nun wohnen würde, klang irgendwie schön und friedlich. Oceanside; es erinnerte mich an das Rauschen des Meeres, frische Seeluft, sowie endlos lange Sandstrände. Vielleicht war es doch nicht so übel, dort ein neues Leben zu beginnen.

Die Adresse sowie der Hausschlüssel meines neuen Domizils befanden sich ebenfalls in dem braunen Umschlag. Somit war für alles Wichtige gesorgt. Ich hatte ein Dach über dem Kopf, einen Wagen und einen Job. Alistairs Team hatte wirklich ganze Arbeit geleistet. Grinsend las ich die Notiz auf dem kleinen Zettel, den Alistair noch beigefügt hatte. „Ruf mich an, wenn du gut angekommen bist."

Das würde ich auf jeden Fall tun.

Nachdem die Mahlzeit im Flugzeug serviert wurde und ich diese hungrig verspeist hatte, stellte ich die Lehne meines Sitzes ein wenig nach hinten, um zu schlafen. Immerhin musste ich mit acht Stunden Zeitverschiebung klarkommen. Für meinen Körper würde es bereits zehn Uhr abends sein, wenn wir landeten, aber in Kalifornien erst zwei Uhr nachmittags. Einige Stunden vorschlafen konnten also nicht schaden.

Insgesamt schlief ich sogar drei Stunden, was mir durchaus entgegenkam, denn das ließ den Flug schneller vergehen. Automatisch wanderten meine Gedanken immer wieder zu Sienna. Hoffentlich ging es ihr gut und der ganze Stress wirkte sich nicht negativ auf die Schwangerschaft und das Baby aus. Das war wirklich meine größte Sorge.

Als die Maschine in San Diego landete, verließ ich diese mit gemischten Gefühlen. Es war eben nicht so einfach, sein bisheriges Leben hinter sich zu lassen und nun ein völlig neues zu beginnen. Aber ich wollte mein Bestes versuchen.

Nachdem ich mein Gepäck vom Band geholt und die Passkontrolle hinter mich gebracht hatte, lief ich motiviert zum Schalter der Mietwagenfirmen. Alistair hatte bei Alamo einen Vertrag abgeschlossen, wo ich mich nun brav in der Schlange anstellte. Es dauerte ewig, bis ich an die Reihe kam aber umso freundlicher war der Mitarbeiter hinter dem Tresen. Binnen kürzester Zeit wurde alles abgewickelt und ich trabte zu den unzähligen SUV, welche in einer langen Reihe standen. Alistair hatte sich nicht lumpen lassen, was die Auswahl des Wagens anging, das musste ich ehrlich zugeben.

Froh darüber, dass ich mich nicht in eine enge Kiste quetschen musste, bestieg ich einen cremefarbenen Ford, dessen Inneres mit der Lederausstattung ausgesprochen elegant wirkte. Bevor ich den Motor startete, holte ich mein Navigationsgerät hervor und fütterte dieses mit meiner zukünftigen Adresse. Anschließend suchte ich nach meiner Sonnenbrille, die sich irgendwo im Handgepäck befinden musste. Nachdem ich die endlich gefunden hatte, konnte es losgehen.

Schon alleine die Strecke von San Diego bis nach Oceanside ließ vermuten, dass es mir hier wirklich gefallen würde. Überall wuchsen riesige Palmen und das Autofahren war unglaublich entspannt. Obwohl hier Rechtsverkehr herrschte, gewöhnte ich mich relativ schnell daran. Zudem durfte man auf dem Highway sowohl rechts als auch linke überholen, eine Besonderheit, die es in Europa nicht gab.

Die wuchtigen Trucks jagten mir unglaublichen Respekt ein, denn diese fuhren oftmals schneller als die PKW und es gab mehr als einen, der mich überholte. Ich hielt mich nämlich strikt an die Geschwindigkeitsbegrenzungen, da ich keineswegs auffallen wollte. James Edward sollte hier immer eine weiße Weste besitzen.

Nach ungefähr fünfzig Minuten hatte ich es geschafft. Ich stand vor meinem neuen Heim. Mir fielen fast die Augen aus dem Kopf, als ich das Gebäude erblickte, welche sogar eine eigne kleine Zufahrt besaß. So etwas war in England der reinste Luxus, zumindest wenn man in einer Metropole wie London lebte.

Zwar zählte Oceanside auch zu den Großstädten, doch mit seinen knapp hundertachtzigtausend Einwohnern (ich hatte das nachgelesen, während ich am Gepäckband am Flughafen stand), kam es mir im Vergleich zur britischen Hauptstadt eher dörflich vor. Doch damit hatte ich kein Problem, im Gegenteil. Ich fand es angenehm, nun in einer kleineren Stadt zu leben, die zudem noch direkt am Meer lag.

Nachdem ich den Wagen abgestellt und das Gepäck ausgeladen hatte, kramte ich den Schlüssel aus meiner Hosentasche. Meine erste Tat würde daraus bestehen, mich umzuziehen, denn es war unglaublich warm. Kein Wunder, wir hatten Ende Juni und dies bedeutete Sonne pur für Kalifornien.

Schnell lenkte ich meine Schritte in Richtung Haus und als ich den angenehm kühlen Flur betrat, atmete ich erleichtert auf. Eine Klimaanlage war hier wirklich vonnöten und ich ausgesprochen froh, dass das Heim damit ausgestattet war. Ohne Rücksicht auf Verluste öffnete ich meinen Koffer im Flur, um nach einer Shorts zu suchen. Jetzt wusste ich auch, warum Alistair darauf bestanden hatte, dass ich diese einpackte. In England konnte man im Sommer zwar auch kurze Hosen tragen, jedoch nicht täglich, da das Wetter oftmals zu schlecht war. Vor kühlen und regnerischen Sommern blieb ich hier jedoch verschont.

Minuten später wanderte ich durch das Haus, dessen Atmosphäre mir durchaus gefiel. Insgeheim fragte ich mich natürlich, wen Alistair beauftragt hatte, dieses Anwesen zu kaufen. Die Person besaß auf jeden Fall Geschmack und ich konnte mir vorstellen, dass Sienna sich hier ebenfalls wohlfühlte.

Mit einem kleinen Seufzen stieg ich die Treppe in den ersten Stock hinauf. Sie fehlte mir wirklich und ich hoffte, nicht mehr allzu lange auf ihre Ankunft warten zu müssen.

Unser Schlafzimmer hatte ich schnell gefunden, es war der größte der vier Räume und besaß außerdem einen direkten Zugang zu einem Bad, was ich als äußerst angenehm empfand. Nachdem ich den Koffer abgestellt hatte, nahm ich die restlichen Zimmer in Augenschein. Eines davon würde auf jeden Fall das Kinderzimmer werden und ein anderes mein Arbeitszimmer. Ich benötigte einen Ort, an welchem ich mich ungestört zurückziehen konnte, wenn ich eine Predigt ausarbeitete und genau diesen Raum betrat ich jetzt. Er lag am Nachmittag im Schatten und gewährte einen Blick auf das Nachbargrundstück zur Rechten. Ein klein wenig neugierig war ich ja schon auf diese Engländer, die Alistair erwähnt hatte und so konnte ich es mir nicht verkneifen, kurz hinüberzuschauen. Das, was ich sah, ließ mich allerdings kurz schmunzeln.

Eine junge Frau, etwa in Siennas Alter, lag auf der Terrasse und sonnte sich. Bekleidet war sie mit einem weißen, knappen Bikini. Ihre dunklen Haare waren zu einem Dutt hochgesteckt und gerade als ich mich wieder umdrehen wollte, erspähte ich einen Typen, der sich nun daran versuchte, ihr den Rücken einzucremen. Da es Donnerstagnachmittag war, fragte ich mich, ob die beiden nicht arbeiten mussten. Aber vielleicht hatten sie ja Urlaub.

Ich begann, den Kerl genauer zu betrachten, der sich nun der Rückenpartie der jungen Frau widmete. Er hatte braune, kurze Haare und seine Haut war an den Armen und Händen mit Tattoos geschmückt. Das konnte ich selbst aus dieser Entfernung mühelos erkennen. Sein gut trainierter Körper ließ vermuten, dass er regelmäßig ein Fitnessstudio aufsuchte, denn vor allem der Bizeps wirkte recht ordentlich, wie ich sehen konnte, als er diesen einmal kurz anspannte. Nachdem er der dunkelhaarigen Schönheit den Rücken eingecremt hatte, gab er ihr einen Klaps auf den Po und ließ sich dann auf der Liege neben ihrer nieder.

Seufzend wandte ich mich wieder ab. Es wäre zu schön gewesen, jetzt mit Sienna gemeinsam auf der Terrasse zu liegen und die Sonne genießen zu können. Die Versuchung, Alistair anzurufen, um mich zu erkundigen, ob er schon ein Datum bezüglich ihrer Ankunft bekanntgeben konnte, wurde in jenem Moment riesengroß. Aber da ich mich sowieso bei ihm melden sollte, konnte ich beides zusammen verbinden. Ohne zu zögern holte ich mein Handy hervor und wählte seine Nummer.

„Hallo Junge, bist du gut angekommen?"

„Ja, das bin ich."

„Fein, ist alles zu deiner Zufriedenheit? Gefällt dir das Haus?"

„Oh ja, das Haus ist spitze! Wer hat es ausgesucht?"

„Das war eine Frage zu viel, aber ich will sie dir trotzdem beantworten. Teile meiner Mitarbeiter. Die sind auf solche Dinge spezialisiert."

„Das merkt man."

Ich hörte, wie er sich räusperte, um dann zu sagen: „Sienna wird übermorgen eintreffen. Ihr Flug landet um vierzehn Uhr dreißig. Also sei bitte pünktlich am Flughafen."

Augenblicklich schlug mein Herz schneller. Ich konnte es wirklich nicht mehr erwarten, sie zu sehen und in meine Arme zu nehmen.

„Geht es ihr gut?"

„Ja, das tut es, mein Junge. Mach dir keine Sorgen."

„Kann ich sie sprechen?"

„Das geht leider nicht, denn ich bin unterwegs."

Das passte mir nun gar nicht, aber ich konnte es nicht ändern.

„Sag ihr schöne Grüße von mir, ok?"

„Wird gemacht."

Es war komisch seine Stimme zu hören und gleichzeitig zu wissen, dass ich ihn vermutlich nie wieder sehen würde. Irgendwie hing ich an Alistair, auch er fehlte mir sehr, denn er war außer Sienna, die letzte Konstante in meinem Leben. Jemand, auf den ich mich bedingungslos verlassen konnte. Ab jetzt waren Sienna und ich auf uns alleine gestellt, aber uns blieb nichts anderes übrig, als das Beste aus der Situation zu machen.

Den Kopf in den Sand zu stecken lag mir fern, nicht nach allem, was ich bereits hinter mir hatte. Ich war gerade so den Klauen der Mafia entkommen, nun wurde es Zeit für ein normales Leben. So normal, wie dies eben mit einer neuen Identität möglich war.

Während ich meinen Koffer auspackte, überlegte ich, was ich zu Abend essen sollte. Ich besaß weder Lebensmittel noch Getränke, da musste dringend Abhilfe geschaffen werden. Mit Hilfe des Handys machte ich mich schlau, wo sich der nächste Supermarkt befand. Scheinbar lag dieser gar nicht so weit entfernt, was mich natürlich freute. Da ich keine Zeit verlieren wollte, machte ich mich sofort auf den Weg, um die dringend notwendigen Einkäufe zu tätigen.

Der Walmart, in welchem ich schließlich landete, war wohl das amerikanische Pendant zu Tesco, jedoch wesentlich größer. Ständig hatte ich das Gefühl, mich darin zu verlaufen und es dauerte eine ganze Weile, bis sich alles im Wagen befand, was mein Herz begehrte und was ich für die nächsten Tage benötigte, um überleben zu können. Ich kaufte sogar Grillfleisch ein, welches ich am Tag von Siennas Ankunft zubereiten wollte. Sie sollte sich ganz entspannt einleben und möglichst wenig Stress haben.

Zuhause angekommen, wollte ich die Einkäufe ausladen, als plötzlich mein Nachbar, der Engländer, auftauchte. Dies hörte man eindeutig an seinem Akzent.

„Hallo, wie geht es dir? Bist du heute hier eingezogen?"

„Ähm, ja. Ich war gerade einkaufen."

„Das sehe ich."

Er grinste mich breit an, streckte seine Hand aus und sagte: „Ich bin Kyle, freut mich, dich kennenzulernen."

„Ich bin James, und freut mich ebenfalls", erwiderte ich.

„Deinem Akzent nach zu urteilen stammst du aber nicht aus den USA, oder?", erkundigte er sich.

„Nein, ich komme ursprünglich aus Irland und du?"

„Aus England, genauer gesagt wurde ich in Wolverhampton geboren, aber ich habe in London gelebt und gearbeitet. Nun wurde ich hierher versetzt, aber auf eigenen Wunsch."

„Das klingt gut, denn hier ist das Wetter besser", kam es schlagfertig von mir, worauf er herzlich lachte.

„Soll ich dir beim Reintragen helfen?", fragte er. „Ich habe einige Tage Urlaub und suche nach Beschäftigung."

An dieser Stelle konnte ich mir eine Bemerkung nicht verkneifen.

„Oh, ich wüsste da schon was, du hast doch eine hübsche Freundin, oder?"

Erstaunt schaute er auf. „Du hast Avril gesehen?"

„Ja, als ich meinen ersten Rundgang durch das Haus veranstaltet habe. Von meinem zukünftigen Arbeitszimmer aus kann man auf eure Terrasse schauen. Aber ich habe nicht vor, mich als Spanner zu betätigen, also brauchst du keine Angst zu haben."

Kyle lachte so sehr über meine Bemerkung und klopfte mir anschließend auf die Schulter.

„Du bist mir sympathisch, James."

„Das kann ich nur zurückgeben", kam es spontan aus meinem Mund. Und das war keineswegs gelogen, denn irgendwie mochte ich Kyle.

Zu zweit schleppten wir die Einkäufe in das Haus und als ich mich an das Verstauen der Lebensmittel machte, plauderten wir weiter.

„Was machst du denn beruflich?", erkundigte sich mein Nachbar.

„Ich bin evangelischer Pfarrer und fange in zwei Wochen meinen Job in Oceanside an."

Die Überraschung stand ihm im Gesicht geschrieben.

„Echt jetzt? Das hätte ich nicht vermutet."

„Warum nicht?"

„Weil du für einen Pfarrer ziemlich locker bist."

„Kennst du denn einen näher?", konnte ich mir nicht verkneifen zu fragen.

„Öhm, nein, um ehrlich zu sein", gab Kyle sofort zu.

Prompt musste ich schmunzeln. „Lass dir eines gesagt sein, auch Pfarrer können es faustdick hinter den Ohren haben."

Wir fingen beide gleichzeitig an zu lachen, das Eis zwischen uns schien gebrochen zu sein, falls es jemals überhaupt welches gegeben hatte.

„Also James, was sind deine Pläne für heute? Möchtest du mit uns zu Abend essen? Ich habe Unmengen an Fleisch eingekauft, ich fürchte, für Avril und mich ist das zu viel."

„Naja, wenn du mich so fragst, kann ich wohl kaum nein sagen."

Der Abend endete damit, dass ich bei Kyle und Avril auf der Terrasse saß und mir das gute Barbecue schmecken ließ. Dazu tranken wir Männer ganz leger Bier, während Avril sich zwei Gläser Wein einverleibte. Auch sie war sehr nett, wenn auch etwas zurückhaltender als Kyle. Im Geiste fragte ich mich, ob sie sich gut mit Sienna verstehen würde, konnte mir dies aber durchaus vorstellen.

„Ist es abends hier immer so warm?", fragte ich.

„Ja, man braucht im Sommer fast nie eine Jacke, wenn man mal ausgeht", erwiderte Avril und schenkte mir ein kleines Lächeln.

„Das ist gut, da wird Brenda sich freuen", meinte ich.

Ich kam mir reichlich dumm vor, sie nicht mit ihrem richtigen Namen vorzustellen.

„Wer ist Brenda?"

„Meine Frau. Und wir sind bald zu dritt, sie ist nämlich schwanger und sie kommt übermorgen hier an."

„Wohoo, das ist ja toll!" Kyle kriegte sich gar nicht mehr ein. „Siehst du Avril, da hast du bald nette Gesellschaft in deinem Alter."

„Ja, das kann ich durchaus gebrauchen", kam es von der hübschen Dunkelhaarigen.

Insgeheim hoffte ich wirklich, dass die zwei Frauen sich verstehen würden, denn wir brauchten so etwas wie Freunde. Und da Alistair die beiden hatte abchecken lassen, drohte uns von ihnen auch keine Gefahr.

Als Kyle mich später zur Haustür brachte, stellte ich ihm eine Frage, die ich schon die ganze Zeit mit mir herumtrug.

„Weißt du, wo man hier Waffen und Munition kaufen kann?"

Er starrte mich mindestens so überrascht an, wie nach meiner Aussage, dass ich ein Pfarrer sei, holte dann tief Luft und fragte: „Warum willst du eine Waffe kaufen?"

„Hast du etwa keine? Wir sind hier in Amerika, da läuft doch jeder mit einer Knarre durch die Gegend", lautete meine Antwort, die ich recht selbstsicher vortrug.

„Na ja, ich habe schon eine aber ich hätte nie gedacht, dass ein Pfarrer mich nach so etwas fragen könnte."

„Ich bin auch nur ein Mensch, ok?"

„Also gut. Wenn du es gerne möchtest, können wir uns morgen gleich darum kümmern. Ich weiß, wo es all das gibt, was du möchtest."

„Fein."

„Ich bin morgen früh um zehn Uhr bei dir, James. Dann können wir sofort losziehen."

Mit dieser Aussage gab ich mich mehr als nur zufrieden. Ich hatte es mir nämlich in den Kopf gesetzt, eine Waffe im Haus zu haben, um uns im Notfall verteidigen zu können. Sienna, mich und das Kind.

Als ich mich in dieser Nacht ins Bett legte, fühlte ich mich richtig einsam. Der einzige Mensch, mit dem ich mein zukünftiges Leben verbringen würde, war leider noch sehr weit entfernt und ich hoffte, dass die Zeit, bis Sienna hier ankommen würde, ganz schnell verging.

Pünktlich um zehn am nächsten Tag stand Kyle vor meiner Haustür, um mich abzuholen.

„Wir fahren mit meinem Wagen", erklärte er.

Ich hatte durchaus nichts dagegen einzuwenden und stieg motiviert in seinen SUV. Hier in Amerika besaßen die Leute große Autos, selten sah man Kleinwagen und noch seltener Fahrräder.

„Der beste Gunshop ist in Carlsbad, da fahren wir jetzt hin", erklärte Kyle. „Er heißt Gunther Guns und führt Waffen aller Art. Schwebt dir etwas Bestimmtes vor?"

Wie aus der Pistole geschossen entfuhr es mir: „Haben die auch Artikel von Heckler & Koch?"

Überrascht schaute Kyle zu mir. „Kennst du dich gut mit Waffen aus?"

„Nein, gar nicht, das ist die einzige Marke, die mir bekannt ist", gab ich ehrlich zu.

„Es ist ein deutscher Hersteller, das wundert mich jetzt echt."

„Ist Zufall. Ich habe darüber gelesen. Also, dass diese Waffen sehr gut sein sollen."

Ich hoffte, dass er mir das abnahm.

„Das sind sie, darauf kannst du sich verlassen. Ich habe nämlich selbst eine Heckler & Koch."

„Siehst du, du bist auch bewaffnet."

„Immerhin leben wir in Amerika."

Und schon mussten wir wieder lachen. Es war leicht, Kyle zu mögen und noch viel einfacher, mit ihm einkaufen zu gehen. Der Gunshop in Carlsbad führte wirklich alles, was man sich als Waffenliebhaber nur wünschen konnte. Die Auswahl war riesengroß und ich hätte mich sicher nicht so einfach entscheiden können, wenn Kyle mir nicht mit Rat und Tat zur Seite gestanden hätte. Letztendlich entschied ich mich für eine Pistole von Heckler & Koch, eine P2000 – Dustin hätte diese sicher auch gefallen.

„Wie viel Munition brauchst du?", fragte der lässige Verkäufer, ein dicker Mann, mit einer Hornbrille auf der Nase.

„Tausend Schuss."

Entsetzt starrte ich Kyle an, der dies gerade von sich gegeben hatte.

„Bist du verrückt geworden? Was soll ich denn mit der ganzen Munition anfangen?", blökte ich, worauf er nur antwortete: „Üben. Ich wette, du hast keine Ahnung, wie man so ein Ding überhaupt in der Hand hält. Du kannst nicht einfach eine Waffe nehmen und zielen. Das geht hundert Prozent in die Hose. Und genau deswegen werden wir in den nächsten Tagen eine Shooting Ranch besuchen. Ich bringe es dir bei."

„Ist das ein Wort unter Männern?"

„Ja, das ist es."

Ich wollte hoffen, dass ich mich nicht zu dämlich anstellte, wenn wir dies durchziehen würden.

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Fionn hat es also bis nach Oceanside geschafft.

Was haltet ihr davon, dass er sich eine Waffe zulegen möchte? Und wie fandet ihr Kyles und Avrils Auftritt? Ob Fionn wohl irgendwann Verdacht schöpfen wird?

Und denkt ihr, Sienna kommt wohlbehalten in Oceanside an?

Danke für eure Kommentare. :)

LG, Ambi xxx

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