37. Solid
Sienna
Wir saßen zu viert um den großen Esstisch in Seths und Harveys Apartment, um in meinen Geburtstag hinein zu feiern. Heute war der achtzehnte Juni und Punkt Mitternacht, am neunzehnten, wurde ich vierundzwanzig. Hin – und hergerissen zwischen Dankbarkeit, dass ich diesen besonderen Tag mit meiner Familie, sowie meiner besten Freundin verbringen durfte, und Trauer, weil ich nicht bei Fionn sein konnte, starrte ich auf mein mit Apfelsaft gefülltes Glas.
„Nun mach nicht so ein Gesicht, Sienna. Vierundzwanzig ist doch kein Beinbruch", zog Harvey mich liebevoll auf.
„Du hast gut reden. Immerhin hast du die Dreißig im letzten Jahr überschritten", meinte ich lachend.
„Warte mal ab, wenn du fünfundzwanzig wirst, backt Harvey dir eine Wahnsinnstorte."
Kaum hatte Seth das ausgesprochen, fühlte ich mich auch schon wieder schlecht. Keiner von ihnen ahnte, dass wir meinen nächsten Geburtstag nicht zusammen feiern würden und die darauffolgenden ebenfalls nicht. Vermutlich nie wieder. Es fühlte sich so endgültig an, wie das Ausbrechen der Apokalypse.
„Ich glaube, ich muss mal auf die Toilette."
Schnell erhob ich mich, um das Badezimmer aufzusuchen. Als ich mich auf die Toilette setzte, betrachtete ich meinen Bauch, der beinahe täglich an Umfang zulegte. Zumindest kam es mir so vor. Noch konnte ich meine Füße sehen, aber schon sehr bald würde dies nicht mehr der Fall sein. Das Baby wog nun zwischen dreihundert und fünfhundert Gramm bei einer Größe von ungefähr fünfundzwanzig bis sechsundzwanzig Zentimetern. Hin und wieder litt ich unter Sodbrennen, was vermutlich damit in Zusammenhang stand, dass bei meinem Baby nun die Haare zu wachsen begannen. Zum Glück entwickelte es sich völlig normal, trotz der ganzen Stressfaktoren, welche mein Leben beeinflussten.
Am nächsten Wochenende würde ich zum letzten Mal nach Irland fliegen, um Fionn zu besuchen, denn am Mittwoch danach fand die Verhandlung statt. Um ehrlich zu sein, sah ich dieser mit gemischten Gefühlen entgegen. Ich durfte nicht anwesend sein, geschweige denn mich in der Nähe des Gerichtsgebäudes aufhalten. Mit der Mafia war eben nicht zu spaßen, doch ich vertraute auf Alistairs Erfahrung in seinem Beruf. Im Anschluss an die Verhandlung würde ich Fionn am Flughafen treffen, um gemeinsam mit ihm unserer neuen Heimat entgegen zu fliegen. Doch vorher musste ich etwas tun, was einer seelischen Hinrichtung glich. Ich hatte mich dazu entschlossen, Seth, Harvey und auch Gwenny wissen zu lassen, dass sie nicht nach mir zu suchen brauchten. Zu diesem Zweck sollte ich zwei Briefe schreiben. Einen an meinen Bruder und seinen Lebensgefährten und einen an meine beste Freundin. Noch wusste ich nicht, wie ich das alles zu Papier bringen sollte, ohne einen Nervenzusammenbruch zu erleiden, aber da ich mich nach reiflicher Überlegung für diesen Weg entschieden hatte, blieb mir nichts anderes übrig, als es durchzuziehen. Es gab nur diese eine Möglichkeit, die Menschen, die mir am Herzen lagen, wissen zu lassen, was mit mir und meiner Zukunft passierte. Denn vor meiner Abreise durfte ich nichts erzählen und danach würde ich Seth, Harvey und Gwenny nicht mehr begegnen. Ich hatte es mir zur Aufgabe gemacht, die Briefe zu schreiben, bevor ich zum letzten Mal die Reise nach Irland antrat. Anschließend hatte ich nämlich keinen Kopf mehr dafür, da ich das Nötigste zusammenpacken musste, um dann am Mittwoch endgültig aus meiner Wohnung zu verschwinden.
Noch fühlte sich alles unwirklich an und ich konnte mir nicht vorstellen, London zu verlassen und vielleicht nie wieder hierher zurückzukehren.
Kaum verließ ich Badezimmer wieder, läutete es an der Tür.
„Habt ihr noch jemanden eingeladen?", erkundigte ich mich, als ich den Wohnraum betrat.
Seth, der bereits aufgestanden und auf dem Weg zur Tür war, rief mir über die Schulter zu: „Ja, wir dachten Alexander würde gut in unsere Runde hineinpassen."
Das tat er wirklich, denn er war ein ausgezeichneter Unterhalter. Jemand, der einen mühelos in ein Gespräch verwickeln und zum Lachen bringen konnte. Irgendwie fand ich es super, dass Seth ausgerechnet ihn eingeladen hatte, um mit uns gemeinsam in meinen Geburtstag hinein zu feiern. Mit Sicherheit lockerte er die Stimmung am Tisch, die im Moment eher ruhig wirkte, beträchtlich auf.
Nach einer überaus herzlichen Begrüßung nahm der Kunstgaleriebesitzer neben Seth seinen Platz ein. Es dauerte nur wenige Minuten, bis wir alle lachend am Tisch saßen, weil er eine Anekdote nach der anderen brachte. Gwenny wischte sich vor lauter Lachen die Tränen aus den Augen, während ich mir den Bauch hielt. Hin und wieder spürte ich eine kleine Bewegung, welche einem Strampeln gleichkam. Lächelnd blickte ich auf den vorgewölbten Leib. Seit ungefähr vier Wochen konnte ich nämlich die Bewegungen des Babys fühlen. Als dies zum ersten Mal passierte, befand ich mich gerade in Irland, bei Fionn. Er war vor Freude fast ausgeflippt und legte seine Hand seitdem immer wieder auf meinen Bauch. Nach wie vor sprach er mit dem Baby, ermahnte es jedes Mal, wenn wir uns verabschiedeten, brav zu sein und mich nicht zu ärgern. Es tat unheimlich gut zu wissen, einen Partner wie ihn an meiner Seite zu haben. Wir würden das Kind schon schaukeln; im wahrsten Sinne des Wortes.
„Na, was macht unser Nachwuchs?", vernahm ich Harveys Stimme, der mich neugierig beäugte.
„Ich denke, es geht ihm oder ihr gut", erwiderte ich, bemüht, keine allzu große Traurigkeit in meiner Stimmlage aufkommen zu lassen, welche die Bezeichnung „unser Nachwuchs" unweigerlich zum Vorschein brachte.
Sie würden das Baby niemals sehen, niemals in ihren Armen halten.
„Wer soll eigentlich Taufpate werden? Hast du dir das schon überlegt? Oder möchtest du es nicht taufen lassen?"
Erschrocken blickte ich in Seths Augen, der mich aufmerksam musterte.
„Also Seth, es ist doch noch viel zu früh, dass sie sich darum Gedanken macht", warf Harvey leicht vorwurfsvoll ein, worüber ich ihm unglaublich dankbar war.
„Ja, das finde ich auch", mischte sich Gwenny nun ebenfalls ein. „Lass das Kind doch erstmal gesund zur Welt kommen."
Innerlich atmete ich für einen kurzen Augenblick erleichtert auf. Gwenny hatte absolut Recht. Umso trauriger wurde ich bei der Vorstellung, dass ich sie gerne als Taufpatin eingesetzt hätte. Leider würde das nie passieren. Meine Gefühle gingen gerade mächtig den Bach hinunter, aber das durfte ich mir keinesfalls anmerken lassen. Glücklicherweise zeigte die Uhr kurz vor Mitternacht an, was bedeutete, dass Seth die Sektgläser zu füllen begann. In meinem Glas befand sich zwar nur Apfelsaft, doch auch damit ließ es sich anstoßen, was wir Punkt zwölf auch taten. Alle sangen „Happy Birthday" für mich und Seth war der Erste, der mich in seine Arme schloss, um zu gratulieren.
„Alles Gute zum Geburtstag, Schwesterchen", flüsterte er mir ins Ohr. „Bleib wie du bist."
Seine Worte rührten mich fast zu Tränen. Noch nie hatte ich mich so gut mit Seth verstanden, wie im Augenblick. Das Leben konnte ziemlich ungerecht sein, denn in wenigen Tagen stand unser Abschied bevor, von dem mein Bruder jedoch nicht das Geringste ahnte. An diesem Abend machte ich gute Miene zum bösen Spiel, lachte, alberte herum und freute mich wie verrückt über die Torte, die Harvey für mich gebacken hatte. Vierundzwanzig Kerzen musste ich auspusten, bevor wir diese anschnitten. Grinsend betrachtete ich die kleinen Marienkäfer aus Marzipan, mit welchen die Torte verziert war. Sie saßen auf grünen Blättern, die ebenfalls aus Marzipan bestanden.
„Zucker und Kalorien pur, aber ich liebe sie trotzdem", sagte ich und drückte Harvey zum Dank einen Kuss auf die Wange.
Auch Gwenny umarmte mich herzlich, was ich erwiderte.
„Wieder ein Jahr älter, Süße. Langsam gehen wir auf die Dreißig zu."
„Hör auf, das will ich nicht hören."
Alexander gratulierte mir zum Schluss und reichte mir einen Blumenstrauß, sowie eine Schachtel meiner Lieblingspralinen.
„Ihr wollt mich mästen, oder? Als ob ich nicht schon dick genug bin", scherzte ich mit einem Augenzwinkern.
„Du wirst noch voluminöser werden, keine Sorge", kam es von Harvey, der sich grinsend mit einer Hand über den Bauch fuhr.
„Darauf wette ich."
Seit meinem letzten Besuch in Irland vor zwei Wochen hatte mein Bauchumfang erneut zugenommen. Fionn würde vermutlich aus allen Wolken fallen, wenn er mich am Wochenende zu Gesicht bekam.
„Ich habe noch eine Überraschung für dich, Sienna", holte mich Alexanders Stimme aus meinen Gedanken.
Perplex schaute ich auf das Präsent, welches er mir nun überreichte. Allem Anschein nach handelte es sich dabei um ein Bild. Als ich dieses aus der Verpackung befreite, stieß ich einen leisen Pfiff aus.
„Das ist wunderschön!"
„Es stammt aus meiner Galerie und ist das Werk eines noch unbedeutenden Künstlers. Aber ich wette in einigen Jahren wird der Wert beträchtlich steigen, also pass gut darauf auf."
„Das werde ich und vielen Dank, Alexander."
Ich schenkte ihm eine herzliche Umarmung, sowie einen Kuss auf die Wange.
In diesem Jahr bedeuteten die Geschenke sehr viel für mich. Gwennys Präsent bestand aus einem wunderschönen Anhänger, einem kleinen Smaragd für meine Halskette, den ich mir schon lange gewünscht hatte. Seth und Harvey hingegen hatten einen Gutschein für Umstandskleidung gekauft. Bald würde ich nämlich noch mehr an Gewicht zulegen und alles, was ich an Kleidungstücken besaß, würde zu eng sein. Den Gutschein musste ich auf jeden Fall noch vor Mittwoch einlösen, dem Tag an welchem mein neues Leben begann.
Am Donnerstagabend setzte ich mich endlich hin und begann den ersten Brief an Gwenny zu entwerfen. Es fiel mir wahnsinnig schwer, alles zu Papier zu bringen, was sich in meinem Kopf und vor allem in meinem Herzen abspielte. Doch ich schaffte es schließlich. Zwar unter Tränen, aber das war egal. Mit zitternden Fingern faltete ich den Briefbogen und steckte ihn in einen Umschlag. Nachdem ich Gwennys Namen darauf notiert hatte, nahm ich mir den Brief an Seth und Harvey vor. Da die zwei mir gleichermaßen ans Herz gewachsen waren, beschloss ich, an beide zusammen zu schreiben. Für dieses Schriftstück benötigte ich allerdings länger, als für die Zeilen, welche an Gwenny gerichtet waren. Und auch hier musste ich weinen. Es tat so weh, auf diese Art und Weise Abschied nehmen zu müssen.
Völlig fertig legte ich mich um kurz nach Mitternacht ins Bett. Morgen würde ich Fionn sehen und das war im Moment das Einzige, was mein inneres Gleichgewicht einigermaßen aufrecht hielt.
Seit der Schwangerschaft arbeitete ich freitags nie länger als bis drei Uhr. Um kurz nach vier holte mich ein Wagen ab, der mich zum Flughafen brachte und eine Stunde später befand ich mich bereits in einem Learjet, welcher heute nach Cork flog. Alistair saß neben mir und freute sich, dass meine Schwangerschaft problemlos verlief.
„Ich weiß, man darf das einer Frau nicht sagen, aber Sie haben zugenommen", erklärte er schmunzelnd.
Ich konnte nichts anderes tun als lachen, weil er dies so drollig hervorbrachte. Man konnte ihm unmöglich böse sein, wenn er seinen treuen Hundeblick aufsetzte und mit seinen braunen Augen zwinkerte.
„Fionn wird sich wundern", meinte ich grinsend.
„Oh ja, das wird er mit Sicherheit."
Er räusperte sich kurz, um dann eine Frage zu stellen.
„Haben Sie die Briefe inzwischen geschrieben, Sienna?"
Ich antwortete mit einem schwachen Nicken. „Ja, das habe ich. Sie befinden sich zuhause, in meiner Kommode, die im Schlafzimmer steht."
„Ich werde sie am Montagabend abholen", ließ er mich wissen.
„Um welche Uhrzeit?"
„Sagen wir gegen acht?"
„Das ist in Ordnung."
Alistairs Truppe würde sich um alles kümmern, sobald ich verschwunden war. Dazu gehörten das Ausräumen und die Kündigung meiner Wohnung. Die Dinge, die Seth, Harvey und Gwenny behalten sollten, hatte ich bereits während der letzten Wochen aussortiert, in Kartons gelegt und diese beschriftet. Ich durfte weder Bilder, noch sonstige Andenken mitnehmen, welche irgendwie auf meine Vergangenheit hinweisen könnten.
Seufzend blickte ich aus dem Fenster, als das Flugzeug zur Landung in Cork ansetzte. Noch zweieinhalb Stunden, dann war ich endlich wieder bei Fionn. Unsere letzten beiden Tage in Irland standen bevor. Und ich hoffte, dass sie besonders schön sein würden.
Aufgeregt stieg ich aus dem Wagen, als Alistair diesen nach unserer Fahrt vor dem kleinen Haus in Ballinskelligs parkte. Fionn stand bereits in der geöffneten Haustür und empfing mich mit offenen Armen.
„Baby, ich bin so froh, dass du hier bist", flüsterte er.
„Ich bin auch froh", hauchte ich ihm ins Ohr.
Nachdem Fionn und Alistair sich kurz begrüßt hatten, verabschiedete sich Letzterer umgehend von uns.
„Ich komme Sie am Sonntag um sechs Uhr abholen, Sienna. Pass gut auf deine Frau auf, mein Junge."
Dann waren wir allein.
Fionn schlang seine Arme um meinen Körper, grinste und sagte: „Dein Bauchumfang hat zugelegt."
„Ich komme ja auch in die einundzwanzigste Woche", erklärte ich voller Stolz.
„Was macht das Baby gerade?"
„Es verhält sich ruhig, aber warten wir mal ab, wie lange noch."
Jedes Mal, wenn Fionn mit dem Baby sprach, regte ich sich nach relativ kurzer Zeit. So, als ob es seine Stimme hören und erkennen würde. Vielleicht spürte es auch seine Hände, welcher er dann für gewöhnlich auf meinen Bauch legte.
Nachdem wir eine Kleinigkeit gegessen hatten, kuschelten wir auf dem Sofa vor dem Kamin.
„Hey, Baby, hier ist ein Daddy, kannst du mich hören?", flüsterte Fionn, dessen Lippen sich auf der Höhe meines Bauchnabels befanden.
„Ich wette, es schläft und wird dann wach, wenn ich schlafen möchte", erwiderte ich.
Noch bevor ich den Satz zu Ende gesprochen hatte, spürte ich die sanfte Bewegung in mir. Lächelnd griff ich nach Fionns Hand, um diese zu meinem Bauch zu führen.
„Kannst du es fühlen?", flüsterte ich.
„Nicht so wirklich."
„Vermutlich ist es noch zu klein. Aber ich spüre es schon deutlich."
„Warte. Da ist was. Ja, da ist was!"
Euphorie schwang in seiner Stimme mit, die mir zeigte, wie sehr er sich freute.
„Oh Gott, ich hab unser Baby gefühlt! Das ist toll!"
Sanft umfasste er mit beiden Händen mein Gesicht und begann mich zu küssen. Mit geschlossenen Augen gab ich mich diesem Moment hin, der so Vieles in mir auslöste, aber vor allem den Wunsch, ihm ganz nahe sein zu wollen.
„Ich will mit dir schlafen, Fionn", wisperte ich.
Ein wenig besorgt blickten seine blauen Augen zu mir. „Und wie machen wir das jetzt mit deinem Bauch? So wie beim letzten Mal wird es nicht mehr funktionieren."
Damit hatte er wohl nicht so ganz Unrecht. In der Tat lag es jetzt vier Wochen zurück, seit wir zum letzten Mal miteinander geschlafen hatten, da ich bei meinem Besuch vor zwei Wochen eine Erkältung mit mir herumschleppte, die mir doch körperlich etwas zu schaffen machte.
„Vielleicht sollten wir uns informieren, damit wir alles richtig angehen", kam es dann von Fionn, dessen Blick noch immer auf mir ruhte.
Mein Herz klopfte schneller, als er diesen Satz aussprach. Seine Fürsorglichkeit war unübertroffen. Da mein Kenntnisstand hinsichtlich dieser Sache nicht besser war als seiner, erwiderte ich: „Wollen wir es googeln?"
Es dauerte keine Minute, da starrten wir beide auf Fionns Laptop, um dem Internet die notwendigen Informationen zu entlocken. Ich saß auf seinem Schoß und er bediente die Tastatur.
„Ok, da haben wir was", sagte er, was mich dazu veranlasste, genauer auf den Bildschirm zu schauen, damit ich alles lesen konnte, was die Seite hergab. Es waren jede Menge Informationen, die uns teilweise schon bekannt waren.
„Beim Geschlechtsverkehr verletzen Sie Ihr Baby nicht, auch nicht, wenn Ihr Partner oben liegt. Die Fruchtblase und die starken Muskeln der Gebärmutter schützen Ihr Baby."
„Das wissen wir ja schon", erklärte ich, um dann weiter zu lesen.
Und der nächste Satz ließ mein Herz prompt schneller schlagen.
„Auch wenn der Fötus nach Ihrem Orgasmus wild herumzappelt, heißt das nicht, dass das Baby mitbekommen hat, was passiert ist, oder dass es Schmerzen hat. Das ist eine Reaktion auf Ihren erhöhten Blutdruck und Ihr laut klopfendes Herz."
„Oh Gott, das ist krass! Es reagiert auf meinen Orgasmus! Und ich kann das jetzt sogar spüren!", kam es von mir.
„Wahnsinn, oder?" Auch Fionn zeigte sich sehr überrascht, verfolgte jedoch den weiteren Text, genau wie ich.
„Gott, ich komme mir gerade vor, wie ein Teenager, der vor seinem ersten Mal steht und wissen möchte, was Sache ist", stieß er grinsend hervor, worauf ich schmunzelnd entgegnete: „Mir geht es genauso. Also mach dich nicht verrückt."
Angestrengt lasen wir nun weiter.
„Je weiter Ihre Schwangerschaft fortschreitet, desto weniger angenehm könnte die Missionarsstellung (Mann oben, Frau unten) für Sie werden. Der dicke Bauch könnte im Weg sein. Hier einige bewährte Stellungen und Tipps für den Sex während der Schwangerschaft."
Prüfend schaute ich an mir herab. „Ok, so dick ist mein Bauch jetzt zwar noch nicht, aber wir sollten trotzdem nachschauen, welche Vorschläge die Seite anzubieten hat."
Daraufhin nickte Fionn und begann laut vorzulesen.
„Legen Sie sich auf die Seite. Die klassische oben-unten-Position verlangt mit zunehmendem Bauchumfang sportliche Anstrengung."
„Darauf möchte ich wetten", murmelte ich.
Fionn ließ sich durch meine Aussage nicht beirren, sondern fuhr fort.
„Nehmen Sie das Bett als Requisite. Ihr Bauch ist kein Hindernis mehr, wenn Sie mit angewinkelten Beinen am seitlichen oder unteren Bettrand liegen und Ihr Becken und Ihre Füße Halt an der Matratzenkante finden."
„Das klingt irgendwie nach Gymnastikstunde", platzte ich heraus.
„Für wen? Für dich oder für mich?", kam es prompt.
„Für uns beide."
Sein leichtes Seufzen war nicht zu überhören. Doch sein Gesicht hellte sich ein wenig auf, als er die nächsten Zeilen laut vorlas.
„Versuchen Sie die Sitzposition, bei der auch kein Gewicht auf der Gebärmutter liegt. Sitzen Sie auf dem Schoß ihres Partners, während er auf einem stabilen Stuhl sitzt. Haben Sie Vertrauen, denn wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Mit ein bisschen Experimentierfreude werden Sie und Ihr Partner sicher eine Technik finden, die sie beide zufrieden stellt."
„Was denkst du?" Ein wenig skeptisch schaute ich Fionn an, der ein tiefes Durchatmen hören ließ, bevor er antwortete.
„Also ich bin für die Variante mit dem Stuhl."
„Stabilen Stuhl", verbesserte ich ihn sofort.
„Meinetwegen auch das", sagte er grinsend. „Da dieser Stuhl, auf dem wir gerade zu zweit sitzen, uns ohne Probleme aushält, denke ich, dass er stabil genug sein wird, oder?"
In dieser Hinsicht konnte ich ihm wohl nicht wiedersprechen.
„Aber warum gerade diese Variante?", erkundigte ich mich rein Interessehalber.
Er schaute in meine Augen, als er antwortete: „Weil ich denke, dass ich dir und dem Baby so am wenigsten wehtun kann."
Und wieder schmolz ich fast dahin. Als unsere Lippen sich aufeinander senkten, verlor ich mich in einer anderen Welt. Zwar registrierte ich, dass Fionn das Shirt über meinen Kopf streifte, aber alles ging plötzlich so schnell, dass ich innerlich zu taumeln anfing. Sekunden später lagen die wenigen Kleidungsstücke auf dem Boden und Fionn saß fast schon erwartungsvoll auf dem Stuhl.
„Warte", wies er mich an, als ich meine Position einnehmen wollte.
Dann streckte er seine Hände aus und ließ diese über meinen Baby Bauch wandern.
„Hey, Kleines, ich hoffe, du schläfst jetzt einfach und lässt dich nicht von uns stören", flüsterte er, seinen Blick auf die Wölbung meines Bauchs gerichtet.
Ich fand es zu süß, wenn er mit unserem Baby sprach, es klang so sanft und liebevoll. Als ich in seine blauen Augen schaute, vergaß ich alles um mich herum. Die Position war im ersten Moment gewöhnungsbedürftig, doch als ich ihn in mir spürte, setzte mein Denken aus und ich ließ mich von meinen Gefühle und Instinkten treiben. Ich hatte quasi alles in der Hand, bestimmte das Tempo, den Rhythmus und fühlte seine Hände, die zunächst nur auf meinen Hüften lagen, um sich dann fast schon in diese zu krallen. Damit machte er mich total an. Vergessen waren die Ängste bezüglich unserer Zukunft, denn in diesem Moment existierten nur das Jetzt und Hier. Verzweifelt biss ich mir auf die Unterlippe, als ich kurz vor meinem Siedepunkt stand, der so schnell kam, dass ich nur noch eines tun konnte: Mich an ihm festhalten. Kraftlos sackte ich zusammen, wurde durch seine starken Arme gehalten und spürte, wie seine Lippen meine Wange berührten, als ich meinen Kopf gegen seinen lehnte.
„Bist du ok, Sienna?", fragte er leise.
Ich spürte das heftige Heben und Senken seines Brustkorbs und im gleichen Moment begann das Baby sich zu rühren. Sofort legte ich die Hände auf meinen Bauch, während sich ein seliges Lächeln auf meinem Gesicht bildete.
„Was ist?", erkundigte sich Fionn, der sofort bemerkte, dass ich ihm etwas sagen wollte.
„Das Baby, es bewegt sich."
„Hoffentlich habe ich ihm nicht wehgetan."
Mein Lächeln wurde breiter und ich wusste in jener Sekunde, dass ich meine Entscheidung mit ihm zu gehen und alles andere zurückzulassen, nie bereuen würde.
„Ich glaube nicht, wir haben doch gerade gelesen, dass das normal ist", beruhigte ich ihn.
Vorsichtig begann Fionn mich zu küssen, bevor seine rechte Hand zärtlich über meinen Bauch wanderte.
„Tut mir leid, Kleines, ich wollte dich nicht wecken", flüsterte er.
Eine winzige Träne verließ mein Auge, als ich leise wisperte: „Du wirst der beste Vater der Welt sein, das weiß ich."
„Und du die beste Mutter."
Viel zu schnell ging das Wochenende vorüber, wir konnten es kaum fassen, als wir am Sonntagabend Abschied voneinander nehmen mussten, wie die Zeit dahingerast war. Fionns Umarmung, die er mir gab, drückte vieles aus: Geborgenheit, Liebe und Stärke. Und sie ließ mich wissen, dass unsere Partnerschaft auf stabilen Pfeilern stand.
„Wir sehen uns am Mittwoch am Flughafen, Baby", sagte er und schaute dabei in meine Augen, so als ob er sich vergewissern wollte, dass ich auch wirklich keinen Rückzieher machen würde.
„Ja, das tun wir. Bis Mittwoch, Fionn. Ich liebe dich."
„Ich liebe dich auch, Sienna."
Ein letzter langer Kuss und ich musste ihn loslassen, glücklicherweise heute zum letzten Mal.
Wie versprochen holte Alistair die Briefe für Gwenny, Seth und Harvey am Montagabend bei mir ab. Weiterhin besprachen wir den Ablauf für den Mittwoch und gingen nochmals die Dinge zusammen durch, die ich mitnehmen durfte. Leider gehörte das Bild von Alexander nicht dazu, da der Name seiner Kunstgalerie auf der Rückseite in der linken oberen Ecke prangte.
„Dann möchte ich, dass er es entweder zurückbekommt oder er soll es Gwenny schenken", bestimmte ich, was Alistair sich sofort notierte.
Auch den Glaswürfel in welchem sich Seths und Harveys Gesichter befanden, durfte ich nicht mitnehmen, was Tränen in meine Augen brachte. Aber es ging hier um unsere Leben, um unsere Sicherheit, also nahm ich es hin. Alistair verabschiedete sich an diesem Abend mit folgenden Worten von mir: „Wir sehen uns am Mittwoch am Flughafen. Dort händige ich Ihnen ihren neuen Ausweis, sowie die Eheringe aus. Bis dahin passen Sie gut auf sich auf, Sienna."
„Danke, Sie auch, Alistair."
Der Abschied von Gwenny am Dienstag ließ mich innerlich beinahe zerbrechen. Ich hatte darauf gedrungen, dass wir unsere Mittagspause zusammen verbrachten. Zum allerletzten Mal. Es fühlte sich an, als würde man mir die Seele aus dem Leib reißen, als wir uns nach einer Stunde voneinander trennten. Lange schaute ich sie an, streichelte über ihre Wange und sagte: „Versprich mir, dass du mich immer lieben wirst, egal was ich tue."
Meine beste Freundin runzelte ihre Stirn. „Natürlich werde ich dich immer lieben, Sienna. Das weißt du doch."
Obwohl ich mich bemühte, meine Tränen zurückzuhalten, krochen diese trotzdem aus meinen Augen hervor.
„Was hast du denn?", erkundigte sich Gwenny besorgt.
„Das sind nur meine blöden Hormonschwankungen ausgelöst durch die Schwangerschaft", erklärte ich schniefend.
Gott sei Dank nahm sie mir das ab. Als sie mich nochmals kurz umarmte, widerstand ich der Versuchung, sie nicht mehr loslassen zu wollen. Sie durfte nichts bemerken, das hatte ich mir geschworen.
„Mach's gut, ich rufe dich die Tage an, ok?", sagte ich.
„Ok, bis dann, Sienna. Und keine Angst, ich werde dich immer lieben."
„Ich dich auch", murmelte ich, lange nachdem sie meinen Blicken entschwunden war.
Mein schwerster Gang stand jedoch an diesem Abend an: Seth und Harvey, meine Familie. Auch von ihnen wollte ich mich nochmals verabschieden, ohne dass sie es bemerken sollten. Ich wusste nicht, wie ich es schaffte, aber es gelang mir tatsächlich die Sache ohne einen Nervenzusammenbruch hinter mich zu bringen. Wenn die beiden sich irgendwann meinen Brief zu Gemüte führten, würden sie alles verstehen und mich nicht verurteilen. Seth und auch Harvey würden mich immer liebe, genauso wie ich sie. Als ich nach dem Abendessen im Flur stand, half Seth mir in die leichte Jacke. Mit geschlossenen Augen nahm ich den Duft seines Aftershaves in mir auf. Jean Paul Gaultier, das benutzte er seit Jahren. Vielleicht sollte ich am Flughafen eine Flasche davon kaufen, damit ich etwas hatte, was mich immer an ihn erinnerte. Auch Harvey bekam eine liebevolle Umarmung, sowie einen Kuss auf die Wange gedrückt.
„Tschau, Schnuckelchen und denk bitte daran dass wir am zehnten Juli alle bei Alexander zum Essen eingeladen sind, auch Gwenny."
„Ich werde es nicht vergessen", erwiderte ich mit einem erzwungenen Lächeln auf den Lippen.
Kaum fiel die Tür hinter mir ins Schloss, atmete ich tief durch, während meine Wangen durch eine Tränenflut übergossen wurden. Gerade hatte ich mit meinem alten Leben abgeschlossen, um morgen ein neues zu beginnen. Dies riss buchstäblich mein Herz in zwei Teile. Aber ich hatte mich für Fionn entschieden, mit allen Konsequenzen die dahinter standen.
Als ich an diesem Abend zu später Stunde im Bett lag, zog ein einziger Gedanke durch meinen Kopf: Bald würden Fionn und ich permanent zusammen sein, er brauchte nur noch die Verhandlung hinter sich zu bringen.
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Hey meine Lieben, hier ist das neue Update ;) - ich hoffe, ihr hattet Spaß beim Lesen.
Denkt ihr, bei der Verhandlung wird alles glatt laufen?
Und seid ihr neugierig, was in den Briefen steht, die Sienna geschrieben hat?
Danke vielmals an alle, die immer ein Feedback hinterlassen und/oder voten.
LG, Ambi xxx
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