27. Bizarre

Fionn


Seit vier Wochen befand ich mich auf der grünen Insel, die einst meine Heimat gewesen war. Das kleine, gemütliche Haus in Ballinskelligs, in welchem Alistair mich unterbrachte, gefiel mir jeden Tag besser. Aber ich durfte nicht beginnen, mich heimisch zu fühlen, denn spätestens nach meiner Aussage vor Gericht würde ich Irland für immer Lebwohl sagen.

Alistair beehrte mich nach unserer Ankunft noch ganze sechs Tage mit seiner Gesellschaft, bevor er wieder nach London zurückkehrte. Seitdem trafen in unregelmäßigen Abständen Pakete ein. Diese enthielten meine persönlichen Sachen, wie Lehrbücher und Kleidungsstücke, die bei der Anreise nicht in die beiden Koffer gepasst hatten.

Als der Postbote zum ersten Mal an der Haustür klingelte und ein Paket für James Edwards abgeben wollte, geriet ich, mental betrachtet, gehörig ins Straucheln. Den Satz „Der wohnt hier nicht", verkniff ich mir jedoch in letzter Sekunde, als ich realisierte, dass ich mich nun besser doch an meinen neuen Namen gewöhnen sollte. Mittlerweile klappte das einwandfrei, zumindest wenn die Post anrollte. Selbst die neue Unterschrift hatte ich jetzt intus; kein Wunder, denn ich übte täglich daran, damit diese immer einheitlich wirkte.

Während der ersten Tage seiner Abwesenheit vermisste ich Alistair sehr, doch nach und nach gewöhnte ich mich daran, alleine zu sein. Zukünftig würde das auch nicht anders aussehen, also sollte ich wohl mich besser damit abfinden.

Es war nicht das Schlimmste, eine Weile auf Alistairs Gesellschaft verzichten zu müssen, viel zermürbender war die Tatsache, dass ich jeden Tag an Sienna dachte. Sie fehlte mir unglaublich, obwohl wir im Grunde genommen nur hin und wieder Zeit miteinander verbracht hatten.

Aber genau diese Stunden kristallisierten sich nun als besonders wertvoll heraus. Es schien wie eine glückliche Fügung des Schicksals zu sein, dass ich ausgerechnet auf diese Frau traf. Umso härter empfand ich den Entzug von ihr. Wie gerne hätte ich sie noch einmal gesehen, mit ihr gesprochen und sie in meinen Armen gehalten.

Sienna macht mich glücklich.

Dieser simple Satz kreiste immer wieder durch meinen Kopf und ließ mich spüren, dass mein Herz viel tiefer in die ganze Sache involviert war, als ich dies je beabsichtigte. Mein Plan, einen Black Room aufzusuchen, um guten Sex zu erhalten, hatte zwar funktioniert, doch zu welchem Preis? Nun litt meine Seele, weil ich von dieser wunderbaren Frau Abschied nehmen musste.

Vielleicht war es besser so, denn mein zukünftiges Leben glich einem Versteckspiel inklusive dem Zurücklegen einer Marathonstrecke, deren Ziel noch gar nicht vorhersehbar war. Und je weniger Menschen in diesen Wirrwarr hineingezogen wurden, desto besser und sicherer würde es laufen.

Da ich nun glücklicherweise alle meine Lehr- und sonstige Bücher wieder mein Eigen nennen konnte, verbrachte ich seitdem sehr viel Zeit mit Lesen. Obwohl mir die Prüfung zum Priester erspart blieb, musste ich doch alles beherrschen, was in dieser Hinsicht verlangt wurde.

Deswegen lernte ich beinahe täglich und da meine Gehirnerschütterung inzwischen vollkommen auskuriert war, bereitete mir dies auch keine Kopfschmerzen mehr. Natürlich nahm das Studieren über den Büchern nicht meinen kompletten Tagesplan ein, denn ich spielte ebenso regelmäßig auf der Gitarre, weil ich Spaß daran hatte und weil dies mein Gemüt ungemein beruhigte. Außerdem tat ich etwas für meine körperliche Fitness, indem ich täglich joggte.

Der Strand eignete sich bestens für diese Unternehmung, vor allem der Weg zu den alten Ruinen gehörte zu meinen Präferenzen, was das Laufen anging. Seit mehreren Tagen hatte ich jedoch das komische Gefühl auf Schritt und Tritt verfolgt zu werden. Am Sonntag bemerkte ich zum ersten Mal einen jungen Mann, mit langen, leicht gelockten, braunen Haaren. Er trug einen schwarzen Hut, eine Sonnenbrille und schwarze Kleidung. Seine Gesichtszüge wirkten erschrocken, als wir im Supermarkt an der Kasse beinahe zusammenstießen.

Er stammelte ein „Tut mir leid", bevor er wieder verschwand.

Am Montagmorgen hatte ich ihn gesehen, als ich den Wagen tankte und am Dienstag suchte er, genau wie ich, die Schokoladenfabrik auf, welche unglaublich leckere Kostproben anbot, gratis natürlich.

Das waren dann für meinen Geschmack doch zu viele Zufälle.

Alistair hatte mir eingeschärft, nicht aufzufallen, mit keinem Fremden, nur mit den Einheimischen zu sprechen, für die ich offiziell als sein Neffe durchging. Trotzdem besaß ich den glühenden Wunsch, diesem merkwürdigen Individuum zu entlocken, weshalb es mich verfolgte.

Ich wollte nicht hoffen, dass er zur kolumbianischen Drogenmafia gehörte, denn dann würde ich mich gleich selbst erschießen können. Das Blöde war nur, dass ich keine Waffe besaß.

Mein Sarkasmus breitete sich selbst in meinen Gedanken aus, er ließ sich einfach nicht abstellen, was auf der einen Seite positiv war. Denn er hielt mich am Leben und sorgte dafür, dass ich den Mut nicht verlor, obwohl meine Zukunft gänzlich im Dunkeln lag.

Als ich am heutigen Morgen meine Joggingklamotten anzog, um zum Strand zu laufen, fasste ich einen Plan. Sollte der Mann sich wieder in meiner Näher blicken lassen, würde ich ihn auf jeden Fall zur Rede stellen.

Das Ganze war total merkwürdig, denn es gab keinen Grund weshalb er mich am Leben lassen sollte, wenn er wirklich zu meinen Verfolgern gehörte. Ich war wehrlos, da ich keine Waffe besaß und es wäre ein Leichtes für ihn gewesen, mich an einer einsamen Stelle abzupassen und niederzuschießen. Schließlich gab es solche Dinge wie Schalldämpfer für die Waffen, welche jegliches Geräusch verschluckten.

Je länger ich darüber nachdachte, desto seltsamer kam mir der Kerl vor. Im günstigsten Fall handelte es sich um einen Schwulen, der auf mich stand. Doch da würde ich ihn enttäuschen müssen, denn ich plante nicht, meine sexuelle Gesinnung zu ändern. Einen anderen Namen anzunehmen, sowie ein falsches Geburtsdatum verpasst zu bekommen, reichte vollauf, was die bisherigen Neuerungen in meinem Leben anging. Auf mehr war ich im Moment nicht besonders scharf.

Ein wenig angespannt schnürte ich meine Joggingschuhe, steckte mein Handy ein, schloss die Haustür hinter mir ab und rannte los. Heute schlug ich den Weg Richtung Ruinen ein, welcher sich ein wenig anspruchsvoller gestaltete, als jener, der direkt zum Strand führte. Ich begann mit einem eher gemächlichen Tempo, das ich jedoch zwischendurch steigerte.

Mittlerweile zahlte sich mein eisernes Training relativ gut aus. Am Anfang geriet ich noch ziemlich schnell außer Puste, doch nun konnte ich eine längere Strecke in strammem Tempo zurücklegen, ohne dass ich zu hecheln anfing, wie ein Hund, dessen Zunge aus dem Hals hing, weil er fast verdurstete.

Jeden Morgen, wenn ich meine Joggingrunde absolvierte, fühlte ich mich frei und unbeschwert, aber am heutigen Tag wich dieses Gefühl einer unglaublichen Beklemmung. Was, wenn der Typ doch etwas Böses vorhatte?

Alistair beruhigte mich zwar am Telefon, doch ich traute dem Frieden nicht so ganz. Irgendetwas musste dahinterstecken, dass er sich so oft in meiner Nähe aufhielt. Ich hasste nichts so sehr wie Stalker und genau dies tat der Kerl.

Meine Theorien wanderten von der Annahme, dass er ein Privatdetektiv, der im Auftrag der Mafia arbeitete war, bis hin zu der Vorstellung, dass es sich um den Reporter eines Klatschblattes handelte, der herausgefunden hatte, dass ich ein überaus wichtiger Zeuge war. Und ich konnte überhaupt nicht verstehen, dass Alistair nichts dagegen unternahm, sondern mich beschwichtigte, als ich ihn am Sonntag angerufen hatte.

Nachdem ich eine genaue Beschreibung des Mannes abgegeben hatte, sagte er nur: „Du siehst Gespenster, Junge. Das ist aber normal, alle Klienten, die im Zeugenschutzprogramm aufgenommen werden, durchlaufen diese Phase am Anfang."

„Willst du damit sagen, dass ich zu einem Psychopath mutiere?", lautete meine bissige Antwort, was er mit einem: „Quatsch, mach dir nicht zu viele Gedanken, mein Junge", abtat.

Wenn er es nicht für nötig hielt, deswegen hier aufzukreuzen, musste ich eben die Sache selbst in die Hand nehmen. Deswegen hoffte ich förmlich darauf, dass der komische Kerl sich heute wieder blicken ließ. Ich würde ihm gehörig einheizen, denn Fionn Ryan ließ in dieser Hinsicht nicht mit sich spaßen.

Schon bald erreichte ich das alte Gemäuer, welches direkt am Wasser stand. Dort legte ich eine Verschnaufpause ein, nahm einen großen Schluck des isotonischen Getränks, das ich mitgenommen hatte und ließ meine Augen über das Meer wandern. Am heutigen Tag wirkte es eher ruhig und besonnen. Im Gegensatz hierzu stand meine innere Unruhe, sowie der Drang, diesem sonderbaren Mann unbedingt begegnen zu wollen.

Nach fünf Minuten Pause setzte ich mich erneut in Bewegung, wobei ich heute die Abkürzung nahm. Immerhin bedeutete dies zehn Minuten Zeitersparnis. Jetzt ging es zum Endspurt, den ich mit aller Kraft zurücklegte. Mein Ziel bereits vor Augen, steigerte ich das Tempo, um alles aus mir herauszuholen. Das Haus befand sich noch etwa zweihundert Meter von mir entfernt, als ich ihn sah.

Er schlich um das Gebäude, so, als ob er es ausspionieren wollte und das kam mir gerade Recht. Auf leisen Sohlen pirschte ich mich von hinten an ihn heran und als ich nahe genug dran war, stürzte ich mich einfach auf ihn. Wir beide gingen zu Boden, doch ich hielt ihn fest umklammert.

„Was machst du hier? Los, rede!", zischte ich wütend. „Ich habe es gar nicht gerne, wenn man mich bespitzelt!"

Zu meiner großen Überraschung kamen die nächsten Worte ziemlich gechillt über seine Lippen: „Würdest du bitte die Güte haben, mich loszulassen? Ich möchte dir nichts Böses tun."

War er etwa auf Drogen? Seine langsame Sprechweise ließ dies fast vermuten.

„Hör mal zu, Freundchen", knurrte ich. „ich weiß, dass du mir seit Tagen hinterher schnüffelst. Also raus mit der Sprache, was willst du? Geld oder wertvollen Schmuck besitze ich nicht, also verschwinde!"

„Das geht aber nur, wenn du deine Pfoten von mir nimmst", entgegnete er, noch immer im gleichen, langsamen Ton.

Dies regte mich nur noch mehr auf. Ich war kurz davor, ihm eine zu scheuern, riss mich jedoch in letzter Sekunde zusammen. Und ich lockerte meinen Griff, was sich sogleich als folgenschwerer Fehler erweisen sollte. Ehe ich mich versah, lag ich auf dem Rücken und er war über mir.

„So, nun drehen wir den Spieß um." Er lächelte mich freundlich an, als wollte er sich mit mir verbünden.

„Geh von mir runter!", blökte ich ungehalten.

„Das tue ich, wenn du mir versprichst, mich nicht wieder von hinten anzufallen."

Während ich schnaubte, redete er weiter. „Ich hätte nicht geglaubt, mal einen Ringkampf mit einem Klienten hinlegen zu müssen. Alistair wird mir den Arsch aufreißen, wenn er hört, dass ich mich von dir habe erwischen lassen."

„Bitte was?" Mit einer Mischung aus Erstaunen und Entsetzen starrte ich in sein Gesicht. Lässig nahm er seine Arme von mir, erhob sich, klopfte sich den Staub von der Kleidung und sagte freundlich: „Ja, ich bin einer seiner Mitarbeiter. Normalerweise sind wir alle inkognito unterwegs, sobald wir einen Klienten überwachen. Aber da dies mein erster Auftrag ist, und ich wohl zu dämlich für sowas bin, möchte ich dich bitten, es nicht an die große Glocke zu hängen."

Langsam erhob ich mich vom Boden, um ihn genauer zu betrachten. Er überragte mich um einige Zentimeter, vielleicht fünf oder sechs. Seine schlanke, aber dennoch muskulöse Gestalt wirkte durchtrainiert.

Da die Ärmel seines Mantels ein Stück nach oben gerutscht waren, gaben diese den Blick auf etliche Tattoos frei, mit welchen seine Hände und Arme verziert waren. Interessant, welche Leute für Alistair arbeiteten und vor allem wie sie aussahen. Mit seinen langen, braunen Haaren, die leicht lockig bis über die Schulter fielen und dem schwarzen Hut wirkte er nicht gerade wie ein Beamter im Staatsdienst. Doch das war vermutlich Absicht.

„Mein Name ist übrigens Dustin", stellte er sich vor.

„Bekommst du keinen Ärger mit Alistair, wenn du mir das verrätst?", erkundigte ich mich erstaunt.

„Nicht mehr Ärger, als ich jetzt schon am Hals habe. Meine Kollegen haben Wetten abgeschlossen, wie lange es dauert, bis ich auffliege. Aber ich habe die Zeit überschritten, die sie für mich veranschlagt hatten."

„Die da wäre?"

Inzwischen hatte ich den Hausschlüssel aus der Tasche meiner Jogginghose geholt und öffnete die Tür.

„Vierundzwanzig Stunden, aber ich bin dir schon mehr als zweiundsiebzig auf den Fersen."

„Ich habe dich aber schon nach weniger als vierundzwanzig Stunden bemerkt", konterte ich lässig und bat ihn mit einer Geste einzutreten. Doch Dustin schüttelte seinen Kopf.

„Das darf ich leider nicht, es sei denn, du würdest angegriffen werden. Ansonsten müssen wir Abstand voneinander halten, zumindest so lange, bis Alistair etwas anderes befiehlt."

Dustin schien ein netter Kerl zu sein, umso mehr bedauerte ich es, dass er mir keine Gesellschaft leisten durfte. Aber der laufende Meterfünfzig besaß sicher seine Gründe dafür. Seufzend verabschiedete ich mich von meinem langhaarigen Beschützer.

„Ok, dann viel Spaß noch hier in Irland. Morgen werde ich übrigens am Strand joggen, nur für den Fall, dass du mir folgen möchtest."

Ein spitzbübischen Schmunzeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, als er antwortete: „Nur zu gerne, aber aus der entsprechenden Entfernung."

Ein kurzes Nicken und er verließ das Grundstück. Wehmütig schaute ich ihm nach. Schade, dass wir keinen engen Kontakt pflegen durften. Es wäre mit Sicherheit spaßig geworden.

Gedankenverloren betrat ich die Küche, trank den Rest aus der Flasche, um anschließend das Bad aufzusuchen. Nach einer ausgiebigen Dusche richtete ich das Frühstück her und als ich die Rühreier später verdrückte, las ich die neuesten Nachrichten auf meinem Laptop, der seinen Stammplatz auf dem Esstisch gefunden hatte. Der letzte Schluck Tee befand sich noch in meinem Mund, als das Handy plötzlich vibrierte.

„Alistair, schön, dass du dich meldest", sagte ich erfreut.

„Wie geht es dir, mein Junge?"

„Ganz gut. Habe gerade meine Joggingrunde und das Frühstück hinter mich gebracht", ließ ich ihn wissen.

„Das ist schön, lass es dir ruhig gutgehen. Du bist dort so sicher, wie in Abrahams Schoß."

Es fiel mir schwer, ein Hüsteln zu verkneifen, weil ich an Dustin denken musste. Allerdings fielen mir fast die Augen aus dem Kopf, als Alistair mit seiner Rede fortfuhr.

„Ich komme dich morgen besuchen, Junge."

Sofort dachte ich an den anstehenden Prozess.

„Gibt es Neuigkeiten?"

„Könnte man so sagen, aber das erzähle ich dir alles morgen, ok? Ich habe nämlich noch jede Menge zu tun."

Alistair besaß eindeutig die Gabe mich neugierig zu machen, denn ich dachte nun den ganzen Tag darüber nach, was wohl die Dringlichkeit seines Auftauchens bewirkt zu haben vermochte. Leider würde ich mich bis zum morgigen Tag gedulden müssen, um das herauszufinden.

Schon in aller Frühe stand ich am Donnerstag auf, um dem morgendlichen Ritual, dem Joggen, zu frönen. Da ich nun wusste, dass Dustin mich nicht aus den Augen ließ, grinste ich fortwährend in mich hinein, als ich am Strand entlang lief.

Gegen neun Uhr traf ich wieder zuhause ein und erledigte das übliche Procedere. Duschen, anziehen, frühstücken, sowie die Nachrichten lesen. Es wunderte mich gar nicht, dass Alistair bereits um zehn Uhr auftauchte. Da er einen Schlüssel zu meinem Heim besaß, ersparte er sich das Klingeln.

„Guten Morgen, mein Junge. Gut siehst du aus. Die irische Landluft bekommt dir hervorragend", begrüßte er mich freundlich lächelnd.

„Danke, das war schon immer so", erwiderte ich grinsend.

Alistair ließ sich auf dem Stuhl gegenüber meinem nieder, streckte sich kurz aus und fragte dann: „Hast du noch einen Tee für mich?"

„Na klar."

Schnell verschwand ich in der Küche, um nochmals eine Kanne des Getränks zuzubereiten.

„Also Junge, zuerst wollte ich dich über die finanziellen Dinge unterrichten", begann Alistair unser Gespräch, nachdem jeder von uns eine Tasse, gefüllt mit dampfendem Tee vor sich stehen hatte. Aufmerksamt hörte ich zu.

„Dein Geld und die Wertpapiere befinden sich mittlerweile auf einem Treuhandkonto, zu welchem ich Zugriff habe. Da ich davon ausgehe, dass du noch ein bisschen Kohle benötigst, habe ich was mitgebracht."

Ein wenig umständlich kramte er seine Geldbörse hervor, um fünfhundert Euro auf den Tisch zu legen.

„Danke", erwiderte ich nur.

„Das Haus wird leider verkauft werden, aber das sagte ich ja bereits. Der Erlös wird ebenfalls auf dem Treuhandkonto landen. Das bedeutet, dass du einen sehr guten Start in dein neues Leben haben wirst, was die finanziellen Dinge angeht."

Die Sache mit dem Haus zu hören tat einfach nur weh. Ich liebte es wirklich und hätte es gerne behalten, aber das war nicht unmöglich. Mein Name durfte nirgends auftauchen und so gesehen blieb Alistair keine andere Wahl, als das Anwesen zum Verkauf anzubieten.

„Gibt es sonst noch etwas, über das du mit mir reden möchtest?", erkundigte ich mich, als ich in seine braunen, wachen Augen schaute. Er schien etwas auf dem Herzen zu haben.

„Ja, mein Junge, das gibt es."

Bedächtig holte er einen braunen Umschlag aus seiner schwarzen Aktentasche, welcher auf dem Tisch deponiert hatte. Eigentlich erwartete ich, dass er den Umschlag öffnen würde, doch das tat er nicht. Stattdessen wandte er sich wieder an mich. Seine nächsten Worte erzeugten allerdings ein Zittern in meiner Seele.

„Kennst du eine Frau mit dem Namen Sienna?"

Augenblicklich zuckte ich zusammen. Wie kam er nun darauf? Da er jedoch eine Antwort erwartete, erteilte ich diese schleunigst.

„Äh, ja, ich kenne eine Frau, die Sienna heißt."

Mein Herz schlug schneller, als Alistair weitersprach.

„Gut, wo hast du sie kennengelernt?"

Jetzt wurde es peinlich, aber ich musste wohl mit der Wahrheit herausrücken.

„In einem Black Room."

„Da soll es ja schön dunkel sein", grinste Alistair, was mich erahnen ließ, dass er bereits seine Erkundigungen bezüglich dieses Raumes eingezogen hatte.

„Und wie oft hast du dich dort mit ihr getroffen?"

„Dreizehn Mal."

Schweißperlen standen auf meiner Stirn. Woher zum Teufel wusste er von Sienna? Unsere Treffen hatten vor dem verhängnisvollen Freitag stattgefunden, der mein komplettes Leben veränderte.

„Bitte", begann ich, doch Alistair winkte ab.

„Ich stelle hier die Fragen, mein Junge. Danach bekommst du Antworten."

Völlig entnervt sank ich auf meinem Stuhl zusammen. Warum musste er mich dermaßen quälen? Nur alleine die Erwähnung ihres Namens reichte, um mich total außer Fassung zu bringen. Doch Alistair war nicht dazu geneigt, mich zu erlösen, im Gegenteil. Seine nächsten Fragen bewirkten, dass mein Herz fast aus der Brust sprang.

„Und? Wie stehst du zu ihr? Ich meine, bedeutet sie dir etwas, oder waren das nur rein sexuelle Treffen für dich?"

„Ich, also ich...", stotterte ich unbeholfen.

„Ich möchte dich bitten, ehrlich zu sein, Junge. Denn jetzt ist nicht die Zeit zu schweigen", fuhr Alistair fort, dessen braune Augen noch immer auf mein Gesicht gerichtet waren.

Nach einem kurzen Durchatmen sagte ich: „Also, ja, sie bedeutet mir etwas."

Langsam öffnete er nun den Umschlag, welcher noch immer auf dem Tisch lag. Als ich die Bilder sah, traute ich meinen Augen nicht. Es waren Fotos von Sienna. Mit einer Jacke bekleidet ging sie über eine Straße. Im Hintergrund konnte man die Tower Bridge sehen.

„Was...?" Meine Kinnlade klappte nach unten.

„Wir haben sie überwacht, wir mussten sicher gehen, dass sie sauber ist, wie man in unsere Sprache so schön sagt."

„Wieso?" Meine Augen suchten Alistairs Blick, während mein Herz noch immer das Blut so schnell durch meine Adern pumpte, dass ich das Gefühl hatte, gleich zu kollabieren.

„Weil sie dich sucht. Und ich kann dir eines versichern, sie hat nichts ausgelassen, um an Informationen über deinen Verbleib heranzukommen. Sie ist ein sehr hartnäckiges Mädchen."

Ich schluckte. Sienna suchte nach mir. Es fühlte sich an wie ein Traum, der jeden Moment zu zerplatzen drohte. Anfangs konnte ich nicht begreifen, was Alistair gesagt hatte, doch je länger ich darüber nachdachte, umso stärker verinnerlichte ich den Satz.

„Sienna hat dich im Krankenhaus in Oxford besucht. Ich weiß alles Junge, denn ich habe mit ihr gesprochen."

Meine Hände zitterten noch immer, als ihn anschaute, um zu sagen: „Du hast mit ihr gesprochen? Wann denn?"

„Am Sonntag, wir waren im St. James Park, Enten füttern."

Die groteske Vorstellung, gemeinsam mit Alistair das Federvieh zu mästen, entlockte mir prompt ein Lächeln.

„Geht es ihr gut?", erkundigte ich mich noch immer ein wenig fassungslos.

„Ja, das tut es."

Er wartete darauf, dass ich die nächste Frage stellte, ich konnte es förmlich spüren. Also tat ich ihm den Gefallen.

„Warum sucht sie mich?"

Der laufende Meterfünfzig ließ sich nicht in die Karten schauen. Fast wäre ich ihm an die Gurgel gegangen, als er lässig antwortete: „Warum sucht eine hübsche, junge Frau, einen attraktiven, jungen Kerl, der plötzlich verschwunden ist. Was denkst du?"

„Sind wir hier bei einem Frage- und Antwort-Spiel?" Empört blickte ich zu Alistair, der die Ruhe selbst war.

„Wenn du es so nennen möchtest, Junge, dann ja", entgegnete er ruhig, was mich erneut zur Weißglut brachte.

„Also gut", stieß ich hervor. „Ich vermute, dass sie die gleichen Gefühle für mich hat, wie ich für sie."

„Sehr gut. Du könntest als Detektiv durchgehen."

„Mach dich nicht lächerlich!", schnaubte ich und ballte die Fäuste in den Hosentaschen.

„Ich habe eine ganz einfache Frage an dich, mein Junge. Möchtest du mit Sienna sprechen?"

Überrascht starrte ich Alistair an. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass dies möglich sein würde. Dass mein sehnlichster Wunsch sich noch erfüllen konnte. Doch ich wusste nicht, was danach geschehen würde und deshalb richtete ich nun eine Frage an ihn.

„Würde es denn etwas ändern? Also ich meine, an meiner Situation?"

„Sagen wir es so, es könnte alles ändern."

Seine vagen Andeutungen gingen mir gehörig gegen den Strich. Ebenso seine nächste Aussage.

„Es liegt an dir, Junge. Ich würde sie gerne hierher bringen, denn ich glaube, dass ihr zwei euch eine Menge zu sagen habt. Ihr solltet wirklich dringend miteinander reden."

Verzweifelt raufte ich meine Haare. Ich liebte Sienna über alles, das wurde mir gerade bewusst. Aber ich konnte ihr Leben nicht zerstören, was unweigerlich geschehen würde, sollte sie sich für mich und ich mir für sie entscheiden.

In diesem Moment hätte ich Alistair am liebsten gesagt, dass er den ganzen Zirkus mit dem Zeugenschutz vergessen sollte. Eine Nacht mit Sienna und dann sollte mich die Mafia meinetwegen niederstrecken. Ich hatte es so satt ein Gefangener der Justizmühlen zu sein. Aber Alistair würde dies niemals zulassen, das wusste ich mit Sicherheit.

Langsam schloss ich meine Augen, ließ meine Gedanken in den Black Room wandern. Sienna und ich, wir waren alleine, ich spürte ihre zarten Hände, die vollen Lippen, konnte mich an den Geruch ihres Parfums erinnern. Alles war noch gegenwärtig, als ob wir uns gestern zum letzten Mal begegnet wären. Ich musste sie sehen, egal, wie die Sache ausging, das wurde mir plötzlich klar.

Als ich meine Augen öffnete, um zu Alistair zu schauen, sagte ich: „Bitte bring sie her, ich möchte mit ihr sprechen."

Lächelnd nickte er mir zu. „Dein Wunsch ist mir Befehl, Junge, du hast in dieser Angelegenheit die Entscheidungsgewalt."

Stumm blickte ich in seine Augen, erhob mich von meinem Stuhl und fragte: „Wann?"

„Morgen."

„Morgen schon?!"

„Ja, und sie wird dir übers Wochenende hier Gesellschaft leisten, mein Junge. Solltest du allerdings wollen, dass sie früher wieder verschwindet, brauchst du mich nur anzurufen. Ich bleibe so lange auf der Insel, wie Sienna es tut, denn sie wird unter den größten Sicherheitsvorkehrungen zu dir gebracht."

Ein ganzes Wochenende mit Sienna. Das war mein größter Traum, der sich nun erfüllte, bevor ich mein neues Leben antrat.

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Hallo meine Lieben, ich hoffe, ihr hattet Spaß beim Lesen des neuen Kapitels.

Fionn hat also einem Treffen mit Sienna zugestimmt. Seid ihr gespannt darauf?

Außerdem ist einer von Alistairs Mitarbeitern aufgetaucht, Dustin. Auch die anderen werden nach und nach in der Geschichte ihren Platz finden.

Ich hoffe, ihr seid gespannt auf das nächste Kapitel.

Vielen Dank für die lieben Kommentare. ♥

LG, Ambi xxx

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