24. Second Effort

Sienna


Es war der erste Montag seit vierzehn Tagen, an dem ich wieder zur Arbeit erschien. Mein Boss, sowie meine Kollegen hatten nicht die geringste Ahnung, dass ich mich in der achten Schwangerschaftswoche befand. Den Rat meiner Frauenärztin befolgend, wollte ich mit dieser wichtigen Ankündigung bis zum Ende der zwölften Woche warten und somit blieb mein Zustand auch weiterhin ein Geheimnis.

Demnach ließ ich die Begrüßung meines Chefs „Du siehst noch immer krank aus, Sienna", unbeantwortet und auch die Besorgnis meiner Kollegen prallte an mir ab, wie ein Gummiball.

Der stressige Arbeitstag nach dieser für mich sehr langen Zeit strengte mich dermaßen an, dass ich am Abend auf dem Sofa vor dem Fernseher einschlief. Da Gwenny und ich beschlossen hatten, unsere Mädels Wohngemeinschaft aufzulösen, damit jede von uns wieder einem halbwegs geregelten Leben nachgehen konnte, befand ich mich nun alleine in meinen eigenen vier Wänden.

Wie viel hatte sich seit Jahresbeginn doch verändert, für Gwenny und für mich. Noch vor einem Monat schwebte meine beste Freundin auf Wolke Nummer sieben, schmiedete Pläne für ihre Traumhochzeit und war dabei, sich einen neuen Job in Schottland zu suchen. Jetzt saß sie alleine zuhause und fristete dem Single Dasein, genau wie ich. Nur mit dem Unterschied, dass mein Leben durch eine ungewollte Schwangerschaft und der Suche nach dem Vater des Kindes bestimmt wurde.

Das Foto, welches ich von Fionn im Krankenhaus geschossen hatte, war meine einzige Rettung, wenn ich heulend auf der Couch saß. Immer wieder blickte ich darauf und konnte mich nicht satt sehen. Obwohl ein großes Pflaster auf seiner Stirn klebte und er seine wunderschönen blauen Augen geschlossen hielt, gab es nichts, was ihn entstellen konnte. Er war wunderschön.

Jeden Morgen, wenn ich aufstand und jeden Abend, bevor ich einschlief, schaute ich mir sein Bild an. Dabei stellte ich mir vor, wie es sich wohl anfühlte, wenn er seine Hände auf meinen Baby Bauch legen würde. Und genau in solchen Augenblicken gab es nichts, was ich mir mehr wünschte, als diese Schwangerschaft gemeinsam mit ihm erleben und durchstehen zu können.

Doch Fionn war nicht hier, vermutlich wohnte er schon nicht mehr in der Nähe und die Aussichten, ihn vielleicht per Zufall zu treffen, minimierten sich mit jedem Tag mehr. Obwohl ich eher nicht an Dinge wie Schicksal glaubte, konnte ich mir die Vorstellung, ihm eines Tages auf der Straße zu begegnen, nicht so ganz verkneifen.

Mein Ziel blieb jedoch, ihn ausfindig zu machen, bevor das Baby geboren wurde, denn danach konnte ich mich nicht mehr so einfach aus dem Staub machen, um auf die Suche zu gehen. Das Baby würde meine ganze Aufmerksamkeit benötigen. Noch hatte ich keine Ahnung, wie ich Kind und Job zukünftig vereinen sollte, aber auch hierfür musste sich über kurz oder lang eine Lösung finden.

Sofern ich nicht gerade schlief, standen meine Gedanken niemals still und dies strengte mich unwahrscheinlich an. Ich verlor vier verdammte Tage, in denen ich nicht nach Fionn suchte, weil ich mich viel zu schwach und ausgelaugt fühlte, wenn ich nach der Arbeit zuhause eintraf. Doch am Freitag raffte ich mich endlich dazu auf, den Feierabend bereits nach der Mittagspause einzuläuten, um das Polizei Headquarter in London aufzusuchen.

Nicht in meinen kühnsten Träumen hätte ich jemals daran gedacht, dort vorsprechen zu müssen. Berührungen mit der Polizei hatte es bislang in meinem Leben noch nie gegeben, da ich mir nichts hatte zuschulden kommen lassen. Die Frage, wie ich nun vorgehen sollte, stellte sich automatisch, als ich das große, beeindruckende Gebäude betrat.

Im ersten Moment fühlte ich mich ein wenig verloren, da es unzählige Türen, Gänge und Schilder gab, welche meinen Kopf ganz durcheinander brachten. Für einige Sekunden schloss ich meine Augen, atmete tief durch und begann dann, die große Hinweistafel am Eingang zu studieren. Dabei entdeckte ich eine Abteilung mit der Bezeichnung „Kriminalkommissariat", welche wohl am ehesten dafür in Frage kam, mein Anliegen vorzutragen.

Das Stockwerk sowie die Raumnummer waren dahinter vermerkt, was die Suche ziemlich vereinfachte. Langsam stieg ich die große, breite Treppe bis in die erste Etage hinauf. Dort wandte ich mich nach rechts und lief zielsicher zum Raum mit der Nummer 115. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen, als ich an die Tür klopfte, um kurz darauf ein gefälliges: „Herein" zu vernehmen.

Jetzt oder nie, hieß die Devise. Da ich noch immer meine Bürokleidung, bestehend aus einem dunkelblauen Kostüm, einer weißen Bluse und meinen dunkelblauen Pumps, trug, würde ich auf jeden Fall einen seriösen Eindruck machen, selbst wenn ich den teuren Mantel ablegte. Nach einem tiefen Durchatmen betrat ich das Büro, in welchem ein Mann, mit braunem, gewelltem Haar, hinter einem wuchtigen Schreibtisch aus dunklem Holz saß. Ich schätzte ihn etwa auf Anfang Vierzig.

„Was kann ich für Sie tun, Miss?", erkundigte er sich freundlich.

„Ihre Kollegen vom Polizeirevier in Hackney haben mich an Sie verwiesen", erwiderte ich mit fester Stimme.

Ein sicheres Auftreten kam auf jeden Fall besser an, als ein unterwürfiges.

„So?" Ein wenig überrascht zog er seine buschigen, schwarzen Augenbrauen zusammen.

„Ja, es geht um einen Mord, der an Sie, also an das Headquarter weitergeleitet wurde."

Nun runzelte der Beamte seine Stirn. „Und was haben Sie damit zu tun? Sind Sie eine Zeugin?"

Das Wort Zeugin kam mir nun sehr gelegen, denn es bildete einen guten Übergang zu meinem nächsten Satz.

„Nein, aber ich glaube, dass der Zeuge, der den Mord beobachtet hat, in ein Zeugenschutzprogramm aufgenommen wurde. Fakt ist, ich muss diesen Mann finden, da ich schwanger von ihm bin. Sein Name ist Fionn Ryan und..."

Weiter kam ich nicht, denn der Beamte fiel mir plötzlich ins Wort.

„Langsam Miss. Wie kommen Sie denn zu solch einer Annahme? Und wer aus Hackney hat Sie zu uns geschickt?"

„Das war Kommissar Lennings."

Nachdem er mich mit einer Geste zum Sitzen aufgefordert hatte, griff er zu seinem Telefon und wählte eine Nummer. Wie auf glühenden Kohlen verweilend, verfolgte ich kurze Zeit später das Gespräch zwischen Kommissar Lennings und Inspektor Woodsen, wie sich der Mann am Telefon vorstellte. Da dieser den Lautsprecher benutzte, konnte ich beide Seiten hören. Wie zu erwarten, klärte Lennings seinen Kollegen über meine Vermutungen auf, was dieser mit einem Nicken zur Kenntnis nahm.

„Ich werde mich darum kümmern", verabschiedete er sich anschließend, um sich dann am mich zu wenden.

„Miss Roberts, ich muss Ihnen leider sagen, dass wir als normale Polizeibeamte keinerlei Zugriff zu den Akten des Zeugenschutzprogramms haben. Auch können wir Ihnen nicht einmal sagen, wer daran arbeitet, da dies alles unter strengster Geheimhaltung läuft. Wir wissen lediglich, dass es Kollegen gibt, die sich um diese Dinge kümmern."

Wollte er mich eigentlich verarschen? Zumindest kam es mir so vor.

„Bitte was?", sagte ich. „Sie wollen mir doch nicht erzählen, dass niemand hier in diesem Haus weiß, wer für das Zeugenschutzprogramm zuständig ist?", regte ich mich auf. „Ich bin schwanger von diesem Mann! Sie müssen mir sagen, wo er sich aufhält! Das ist doch ein Notfall!", entfuhr es mir ungehalten, da meine Beherrschung gerade zusammenfiel wie ein Kartenhaus.

„Miss Roberts, bitte beruhigen Sie sich."

Seine freundliche, jedoch sehr eindringliche Stimme bewirkte, dass ich augenblicklich verstummte und ihn einfach nur gründlich musterte.

„Es wird Ihnen vermutlich nicht gefallen, was ich Ihnen nun sage, aber es ist eine Tatsache."

Er räusperte sich kurz, bevor er fortfuhr.

„Nur der oberste Leiter unseres Präsidiums weiß, wer sich mit dieser Materie befasst. Aber er wird es Ihnen nicht sagen. Dafür gibt es mehrere Gründe. Einer davon ist natürlich die Sicherheit des Zeugen."

Wieder machte er eine kurze Pause, während ich erschöpft im Stuhl zusammensackte. Es konnte einfach nicht wahr sein, was man mir hier erzählte.

„Der zweite Grund, warum Sie keine Auskünfte erteilt bekommen, begründet sich darin, dass der Zeuge wohl keinerlei Veranlassung sah, Sie in sein neues Leben miteinzubeziehen. Sie können auf jeder Internetseite nachlesen, die sich über Zeugenschutzprogramme auslässt, dass man den Zeugen wählen lässt, welche Familienmitglieder oder Lebensgefährten ebenfalls in diesem Programm aufgenommen werden. Sollte der Mann, nachdem sie suchen, sich also tatsächlich in dieser entsprechenden Regelung befinden, hat er von vorherein ausgeschlossen, dass Sie Teil seines weiteren Lebens sein werden."

Es fühlte sich an wie ein Schlag in die Magengrube und doch keimte ein Funken Hoffnung in mir auf. Wie hätte Fionn sich jemals für mich entscheiden sollen, wenn er nicht ahnte, dass ich schwanger war? Das musste ich dem Inspektor auf jeden Fall begreiflich machen.

„Er weiß nicht, dass ich schwanger von ihm bin", platzte ich heraus. „Verstehen Sie das denn nicht?"

Inspektor Woodsen seufzte kurz auf, bevor er seine Rede fortsetzte.

„Miss Roberts, sind Sie mit dem Mann, den Sie suchen verheiratet oder verlobt?"

„Nein, das bin ich nicht. Und soviel ich weiß, ist das auch keine Voraussetzung, um schwanger zu werden", kam es energisch von mir.

Er sollte merken, dass ich nicht mit mir umspringen ließ, wie es ihm beliebte.

„Das ist es natürlich nicht. Da Sie jedoch nicht verstehen wollen, auf was ich hinaus will, muss ich meine Frage wohl anders formulieren."

Wie gelähmt starrte ich auf seine Lippen, als er die nächsten Worte aussprach.

„Standen Sie jemals mit diesem Mann in einem eheähnlichen Verhältnis? Also so etwas wie eine Lebensgemeinschaft?"

Ein leises „Nein", kam über meine Lippen.

„Gut. Darf ich fragen, woher Sie ihn kennen?"

Augenblicklich begann mein Herz zu rasen. Was sollte ich nun antworten?

„Miss Roberts, ich möchte Ihnen nur helfen, aber das wird schwierig, wenn Sie mir nicht die Wahrheit erzählen."

Für einen kurzen Moment schloss ich meine Augen. Vielleicht konnte er mir wirklich helfen, oder würde meine Anfrage an die höchste Stelle des Hauses weiterleiten. Es erforderte lediglich einen einzigen Satz meinerseits, um das herauszufinden. Doch das Risiko konnte ich nicht eingehen. Man würde mich als eine Nutte abstempeln. Als ich die Augen wieder öffnete, murmelte ich leise: „Wir haben uns in einem Club kennengelernt."

Das Wort Swinger ließ ich einfach weg. Denn sollte diese Information jemals zu Fionn gelangen, würde er auf jeden Fall wissen, um welche Art Club es sich handelte.

Inspektor Woodsens Gesicht verzog sich nun zu einem leicht ironischen Grinsen, als er sagte: „Verstehe, in einem Club."

Vermutlich dachte er an einen Night Club, was durchaus meiner Absicht entsprach.

„War es ein One Night Stand?", erkundigte er sich dann, eine Aussage, die mich ungemein wütend machte.

„Nein! Natürlich nicht! Wir haben uns insgesamt dreizehn Mal getroffen, bevor er spurlos verschwunden ist", erklärte ich mit bissigem Unterton.

„Immerhin."

Er bedachte mich mit einem mitleidigen Blick, als er sich in seinem Sessel zurücklehnte, um dann zu sagen: „Es wird wohl das Beste sein, wenn Sie jetzt gehen, denn ich glaube nicht, dass wir Ihnen weiterhelfen können."

Während ich mich von dem Stuhl erhob, nach meiner Tasche griff und so schnell wie möglich den Raum verließ, schoss ein Gedanke durch meinen Kopf. Gut, dass ich nur das Wort Club und nicht Swinger Club in den Mund genommen hatte, sonst wäre die Sache vermutlich eskaliert.

Wütend über die Engstirnigkeit mancher Menschen, verließ ich das Headquarter, um direkt zu Seth und Harvey zu fahren, denn ich brauchte dringend einen Seelentröster. Zuvor warf ich jedoch nochmals einen Blick auf die große Anzeigetafel. Insgesamt gab es sechs Büros, die zum Kriminalkommissariat gehörten. Beim nächsten Mal würde ich einen anderen Kollegen heimsuchen. Vielleicht befand sich unter den Angestellten sogar eine Frau, die mich besser verstand und die nachvollziehen konnte, wie ich mich gerade fühlte.

Bei Seth und Harvey angekommen, öffnete Letzterer die Tür, umarmte mich freudig und drückte mir einen Kuss auf die Wange.

„Na, mein Schätzchen, wie geht es dir?", erkundigte er sich mit seiner besorgten Art.

„Danke, es geht so", erwiderte ich seufzend, während ich den Mantel an der Garderobe aufhängte.

„Ist Seth da?"

„Nein, er ist noch bei einem Kunden. Ich glaube bei diesem Swinger Club, den du besucht hast."

Mit einem leichten Stöhnen ließ ich mich auf dem Sofa nieder. Diese Aussage trug nicht gerade dazu bei, dass ich mich besser fühlte. Mein Bruder machte tatsächlich Ernst und nahm den Swinger Club in seine Kundenkartei auf. Er verwandelte echt alles zu Geld, was ihm vor die Füße sprang.

„Also, was hast du auf dem Herzen, mein Schnuckelchen?" Harveys Stimme riss mich plötzlich aus meinen Gedanken und als ich bemerkte, dass er eine Tasse heiße Schokolade mitgebracht hatte, heiterte sich mein Gesicht ein wenig auf.

„Danke", sagte ich, als ich die große Tasse mit dem Blumenmuster in Empfang nahm, um gleich darauf einen kleinen Schluck zu trinken.

Dies weckte meine Lebensgeister augenblicklich auf.

„Ich komme gerade vom Polizei Präsidium", erklärte ich.

„Und? Gibt es Neuigkeiten?"

„Nein. Der Kommissar war nicht besonders freundlich, als er hörte, dass ich in keiner richtigen Beziehung mit Fionn stehe."

Harvey rümpfte seine Nase, was immer sehr lustig ausschaute, doch mir heute so gar nicht nach Lachen zumute.

„Hast du ihm vom Swinger Club berichtet?"

„Natürlich nicht! Ich bin ja nicht bescheuert. Dann hätte ich überhaupt keine Chance, etwas herauszufinden."

„Das ist wohl wahr", seufzte Harvey mitfühlend.

Ein wenig aufgewühlt berichtete ich haarklein über das Gespräch zwischen Inspektor Woodsen und meiner Wenigkeit, damit Harvey sich ein ungefähres Bild der Sachlage machen konnte.

„Aua, das klingt nicht gut", lautete sein abschließender Kommentar, was ich mit einem Nicken untermauerte.

Bevor ich noch etwas sagen konnte, öffnete sich die Tür zur Wohnung und Seth trat ein. Als er mich erblickte, begann er zu lächeln.

„Hey, Sienna, wie geht es dir?"

Er begrüßte mich mit einer herzlichen Umarmung. Gott sei Dank schien sein Groll vollends verflogen zu sein, was mich glücklich machte. Streitereien mit meinem Bruder waren mir seit jeher zuwider, denn er war meine Bezugsperson in vielen Dingen, seit unsere Eltern sich hatten scheiden lassen. Ohne Umschweife ließ Seth sich auf dem Sofa neben mir nieder, schaute mich an und sagte: „Was hast du für ein Problem, Schwesterchen?"

Sogleich schüttete ich ihm mein Herz aus, wie ich es zuvor schon bei Harvey getan hatte. Auch Seth gehörte zu den aufmerksamen Zuhörern und so war es nicht verwunderlich, dass er einen Vorschlag machte, als ich meine Erzählung beendete.

„Du solltest in der nächsten Woche nochmal dort vorbeischauen, aber bei einem anderen Kollegen. Vielleicht kannst du vorher anrufen und dich informieren, ob dieser Inspektor Woodsen irgendwann mal außer Haus ist."

„Die Idee ist spitze!", sprudelte ich hervor.

„Ich habe immer gute Einfälle und weißt du was? Ich werde für dich anrufen, damit es noch unverfänglicher ist", schlug er vor, was mich dazu veranlasste, ihm um den Hals zu fallen.

„Du bist der Beste, Seth", jubelte ich.

„Ich weiß", grinste er. „Und deshalb bin ich nun für die neue Anti-Hacker Software des Swinger Clubs zuständig. Ich werde ein Rundum-Sorglos Paket programmieren, das eine Stange Geld kostet. Somit kriegen wir das wieder raus, was du dort bezahlen musstest."

„Wir? Es nützt mir nichts, wenn du die Kohle kassierst", zog ich ihn lachend auf.

Ich wollte keinen Penny von diesem Geld, darauf kam es mir nicht an, sondern einzig und alleine darum, Fionn zu finden. Doch Seth schien bereits Pläne geschmiedet zu haben.

„Davon kaufe ich einen Kinderwagen und die erste Babyausstattung", erklärte mein Bruder, worauf Harvey prompt sagte: „Vergiss die Spielsachen und Möbel nicht. Wir wollten doch unbedingt ein Reisebettchen anschaffen."

Die beiden sahen sich in dieser Angelegenheit wohl als Sponsoren, was nicht unbedingt das Schlechteste war. Ich wusste, dass alle ihre Geschenke durchaus von Herzen kamen und sie das Baby sicher lieben würden, egal, wo und wie es entstanden war. Trotzdem pochte ich auf meinen Standpunkt.

„Hört mal, ihr zwei, ihr dürft euch gerne an der einen oder anderen Sache beteiligen, aber ich möchte nicht, dass ihr alles kauft, ok? Schließlich besitze ich auch ein Einkommen und genügend Rücklagen."

„Vergiss es. Du wirst die erste Zeit nach der Geburt nicht arbeiten gehen, denn eine Mutter gehört zu ihrem Kind", empörte sich Harvey, was mir ein Schmunzeln entlockte.

„Keine Sorge, ich habe auch nicht vor, mein Kind in der ersten Zeit zu vernachlässigen", erklärte ich. „Aber mein derzeitiges Bestreben ist es, Fionn zu finden. Vielleicht lösen sich dann einige Probleme von alleine."

Es war Seth, der mich sogleich wieder auf den Boden der Tatsachen holte.

„Denkst du etwa, ein katholischer Priester könnte als Babysitter tätig werden, oder sich gar den Erziehungsurlaub mit dir teilen?"

Mein sarkastischer Konter erfolgte wie aus der Pistole geschossen.

„Nein, aber ich dachte, er würde eine Krabbelgruppe im katholischen Kindergarten betreuen."

„Kinder!" Harvey schlug die Hände über dem Kopf zusammen. „Kriegt euch mal wieder ein und behaltet die wesentlichen Dinge im Blick."

Zu den wesentlichen Dingen gehörte es nun, dass ich in der nächsten Woche das Polizei Headquarter aufsuchte, ohne Inspektor Woodsen noch einmal zu begegnen. Und dieses Mal schien das Glück wirklich auf meiner Seite zu stehen.

Wie versprochen, rief Seth am Montagmorgen im Präsidium an und erkundigte sich nach Woodsen. Man teilte ihm mit, dass der Inspektor ab heute für drei Wochen in Urlaub sei. Mein Bruder ließ mir diese Information umgehend zukommen, indem er eine WhatsApp Nachricht verfasste, während ich im Büro saß. Dies sah ich als eine Chance, die unbedingt genutzt werden musste. Und da ich nicht jeden Tag früher gehen konnte, beschloss ich, einen längst vergessenen Plan in die Tat umzusetzen.

Ich hatte meinen Urlaub aufgespart, um eventuell eine längere Reise zu unternehmen, unter anderem nach Australien, damit ich meinem Vater einen Besuch abstatten konnte. Doch dies ließ sich jetzt aufgrund der Schwangerschaft sowieso nicht mehr durchführen. Also konnte ich die Urlaubstage anderweitig nutzen.

Diese drei Wochen kamen mir gerade Recht. Noch immer fühlte ich mich schlapp und ausgelaugt, sodass es mir nicht schwerfiel, meinem Boss am Nachmittag einen Besuch abzustatten und ihn zu bitten, ob ich kurzfristig meinen Urlaub antreten könne. Er verwehrte es mir nicht, was womöglich daran lag, dass ich wirklich abgespannt und übermüdet wirkte; zudem hatten wir einen neuen jungen Kollegen bekommen, der sehr gut mitarbeitete.

Als ich an diesem Abend das Büro verließ, hatte ich alles, was ich benötigte, um unentwegt nach Fionn suchen zu können, nämlich Zeit im Überfluss.

Gleich am nächsten Tag machte ich Nägel mit Köpfen und stattete dem Polizei Headquarter erneut einen Besuch ab. Dieses Mal klopfte ich an einer anderen Tür, hoffend, dass man mich nicht wieder wegschickte. Doch auch hier hatte ich kein Glück. Man versicherte mir, dass niemand etwas über das Zeugenschutzprogramm wusste, sondern nur der Leiter des Präsidiums, welcher für mich unerreichbar blieb. Fünf Tage lang zog ich das gleiche Spiel durch, ohne jeglichen Erfolg.

Am sechsten Tag nahm ich morgens zunächst den Termin bei meiner Frauenärztin wahr. Ich befand mich mittlerweile in der zehnten Schwangerschaftswoche und obwohl mein Bauch noch immer flach wirkte, hatte ich den Eindruck, dass die Hosen langsam enger wurden.

Die Ärztin führte eine Ultraschalluntersuchung durch, bei der ich das Baby zu sehen bekam. Als ich das winzige Wesen in mir erblickte, spürte ich, wie Tränen meine Wangen hinunterliefen. Diese entsprangen unterschiedlichen Gefühlen. Freude, weil es dem Baby gut ging und Trauer, weil Fionn es nicht wusste.

„Das kleine Kerlchen ist jetzt drei Zentimeter groß und wirklich sehr agil", erklärte die Ärztin zufrieden. „Und jetzt hören wir uns den Herzschlag an."

Es überwältigte mich total, dass das Herz des kleinen Wesens in mir schlug. Fassungslos schaute ich auf den Monitor, wagte nicht zu atmen und weinte noch immer vor Glück. Ich hatte mir nie vorstellen können, Mutter zu sein, doch jetzt war plötzlich alles anders.

„Wir sehen uns dann in vier Wochen wieder, es sei denn, Sie hätten vorher irgendwelche Beschwerden." Mit diesen Worten und einem Ultraschallbild meines Nachwuchses, das ich voller Stolz entgegennahm, entließ mich die Ärztin aus ihrer Praxis.

Halb benommen taumelte ich nach Hause, um dort meinen neuen Plan in die Tat umzusetzen. Zu diesem Zweck packte ich einen Einkaufskorb mit Proviant, sowie einige Zeitschriften ein, denn ich wollte in den Fluren des Präsidiums campieren. Irgendwann würde ich jemandem auffallen, der vielleicht etwas zu sagen hatte.

Hartnäckigkeit gehörte schon immer zu meinen Stärken, obwohl die ganze Sache reichlich an meinen Nerven zehrte. Jeder Tag, der verging, machte mir bewusst, dass Fionn sich immer weiter von mir entfernte. Trotzdem wollte ich nicht aufgeben.

Eine ganze Woche lang lungerte ich auf den Fluren herum, saß auf verschiedenen Bänken, welche für Besucher aufgestellt worden waren und beobachtete die Menschen, die geschäftig hin- und herliefen. Manche warfen mir komische Blicke zu, andere ignorierten mich und wenn mich jemand ansprach, was selten vorkam, wiederholte ich immer den gleichen Satz. „Ich suche jemanden, der für das Zeugenschutzprogramm verantwortlich ist."

Ehrlich gesagt wunderte es mich, dass man mir kein Hausverbot erteilte, doch da ich weder randalierte, noch die Leute anpöbelte, lieferte ich den Beamten auch keinen Grund dazu. Mit jedem Tag schmälerte sich meine Hoffnung und meine Kräfte ließen nach. Es zehrte gewaltig an meinen Nerven, dass es niemanden gab, der sich in der Lage dazu sah, mir helfen zu wollen oder zu können. Alles schien sich gegen mich verschworen zu haben.

Am Freitagnachmittag schlief ich völlig übermüdet auf einer der Bänke ein, welche im Erdgeschoss standen. Ich hörte nicht, wie die Menschen an mir vorbeigingen, ich bemerkte nicht, dass es immer leerer im Präsidium wurde. Erst als jemand mich sanft berührte, fuhr ich aus meinem Schlaf hoch.

Verwundert rieb ich meine Augen, denn ich hatte etwas von Fionn geträumt, und sah mich jetzt einer Frau gegenüber, welche mich besorgt anschaute. Obwohl sie eine adrette Uniform trug, wirkten ihre blonden Haare, die sie zu einem Dutt zusammengesteckt hatte, etwas unordentlich. Ihr rundliches Gesicht nahm einen mütterlichen Ausdruck an, als sie zu sprechen begann.

„Kindchen, Sie sind ja ganz kalt. Was machen Sie denn hier so lange? Die Besuchszeiten sind um, Sie müssen nach Hause gehen."

Reflexartig hielt ich meine Hände vor den Bauch, als ich mich langsam von der Bank erhob. Mütterliche Instinkte waren uns Frauen wohl angeboren, denn ich hatte ständig das Gefühl, das Baby schützen zu müssen.

„Geht es Ihnen gut, Kindchen?", erkundigte sich die Frau, ich schätzte sie auf Ende Fünfzig, sofort.

„Ja, ich bin nur müde."

Kaum hatte ich diesen Satz ausgesprochen, rollten die ersten Tränen über meine Wagen. Ich war nicht nur müde, ich war total fertig, sowohl physisch als auch psychisch. Nichts würde mir Fionn zurückbringen, niemand konnte mir helfen. Ich war am Ende meiner Hoffnungen und Kräfte angekommen. Wenn die Möglichkeit bestanden hätte, wäre ich einfach nur liegen geblieben, mit ausgeknipsten Gedanken und dem Traum, in Fionns Armen zu liegen.

„Kommen Sie, ich bringe Sie in mein Büro. Dort mache ich Ihnen einen Kakao", redete die nette Frau mir gut zu.

Dankend nahm ich ihre Hilfe an und während wir durch die langen, halbdunklen Gänge marschierten, versuchte ich meine Gedanken ein wenig zu sammeln. Sie war so liebenswürdig, vielleicht würde sie mich verstehen.

Im Büro angekommen, welches im Gegensatz zu Inspektor Woodsens herrschaftlichen Raum winzig wirkte, setzte ich mich auf einen der beiden Stühle und wartete, bis die nette Frau mit einer Tasse Kakao in ihren Händen zurückkehrte. Als ich meine Finger um das heiße Gefäß legte, spürte ich, wie kalt diese eigentlich waren. Doch ich fror nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich. Die Kälte zog durch meinen Körper, breitete sich dort unaufhaltsam aus, erfasste meine Seele und mein Herz. Tränen liefen noch immer über meine Wangen, was die Frau veranlasste, eine Hand auf meine zu legen.

„Ist ja gut, Kindchen. Ich bin Rosie, du kannst mir alles erzählen, was dich bedrückt."

Da ich absolut nichts zu verlieren hatte, entschloss ich mich dazu, Rosie reinen Wein einzuschenken, was ich mit der profanen Aussage: „Ich bin schwanger", begann.

„Das dachte ich mir fast", lautete ihre Antwort, die mich überrascht aufschauen ließ.

„Du hast dir beim Aufstehen den Bauch gehalten, das machen nur schwangere Frauen", erklärte sie freundlich.

Irgendwie erinnerte sie mich mit ihrer mütterlichen Art an Harvey, doch er war ein Mann und sie eine Frau. Vermutlich würde sie mich viel besser verstehen.

„Haben Sie Kinder?", fragte ich, nachdem ich einen Schluck Kakao getrunken hatte.

„Ja, habe ich."

Nun musste ich einen Vorstoß wagen. „Können Sie sich vorstellen, wie es gewesen wäre, wenn die Kinder ihren Vater nie hätten kennenlernen dürfen?"

„Bei Gott, das wäre schrecklich gewesen!", entfuhr es Rosie. Dann runzelte sie ihre Stirn, um eine Frage an mich zu richten. „Hat er dich etwa sitzen lassen?"

Als ich meinen Kopf schüttelte, ergriff sie wieder meine Hand.

„Was ist es dann, Kindchen? Bitte erzähle es mir."

Ich tat es. Ich erzählte alles. Angefangen von Fionns und meiner ersten Begegnung im Black Room, bis zu jenem Moment, als ich feststellen musste, dass alle seine Daten im Computersystem des Krankenhauses gelöscht waren. Selbst meine verzweifelten Bemühungen ihn zu finden, die bislang fehlgeschlagen waren, legte ich dar.

„Und jetzt bin ich die ganze Woche hier gewesen, aber niemand kann mir helfen", schluchzte ich leise. „Niemand..."

Meine Stimme erstarb und ich hatte das Gefühl, dass meine Seele nicht mehr weit davon entfernt war, das Gleiche zu tun. Zitternd versuchte ich die nächsten Worte über meine Lippen zu bringen.

„Ich liebe ihn und alles was ich möchte ist, dass er weiß, dass ich schwanger von ihm bin. Auch wenn wir nie zusammen leben können, weil es aufgrund seines Berufes nicht möglich ist..., aber vielleicht würde er das Kind eines Tages sehen wollen."

Mit letzter Kraft hob ich meinen Kopf, blickte in ihre Augen und sagte: „Ich muss ihn finden, das ist alles, was ich will. Und er hat ein Recht darauf zu erfahren, dass ich sein Kind unter meinem Herzen trage."

Rosies warme Hand lag noch immer auf meiner, als sie sprach.

„Wie ist dein Name, Kindchen?"

„Sienna. Sienna Roberts."

Ihre wachen blauen Augen waren auf mein Gesicht gerichtet, während sie eindringlich sagte: „Du darfst niemandem erzählen, dass wir uns getroffen haben und über was du mit mir gesprochen hast, Sienna. Das muss unter uns bleiben, ok?"

Als ich nickte, redete sie weiter. „Ich weiß nicht, ob ich dir helfen kann, aber ich versuche es. Dazu brauche ich allerdings deine Handy Nummer."

Ohne zu zögern gab ich ihr diese, denn ich hatte absolut nichts zu verlieren. Rosie speicherte die Nummer in ihrem Handy ab, bevor sie sich erhob, um dann zu sagen: „Ich bringe dich jetzt nach draußen, Sienna."

Wenige Minuten später standen wir vor einer der großen Tür, welche auf die Straße führte. Dort verabschiedete sich Rosie endgültig von mir.

„Du wirst von mir hören, Sienna. Aber ich kann dir zum jetzigen Zeitpunkt nicht sagen, ob meine Nachricht positiv oder negativ ausfallen wird. Pass gut auf dein Baby auf und komm nicht wieder hierher."

Als ich mich an diesem Abend ins Bett legte, keimte zum ersten Mal seit langer Zeit ein Funken Hoffnung in mir auf. Die Hoffnung, Fionn doch noch finden zu können.

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Ob die mysteriöse Frau Sienna wohl behliflich sein kann, was Fionn betrifft? Was denkt ihr?

Mögt ihr Rosie, oder kommt sie euch eher suspekt vor?

Ich hoffe, ihr hattet Spaß beim Lesen und ich bedanke mich ganz herzlich für die tollen Kommentare, die ihr immer hinterlasst.

LG, Ambi xxx

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