20. Unoccupied
AD an alle: „Newbie hat seinen Einstand in Form einer roten Boxershorts gegeben."
CP an alle: „Echt jetzt?"
KW an alle: „Bahahaha."
AJ an alle: „Warum ausgerechnet rot?"
FH an alle: „Oh man, das ist krank, wie kann ein Mann nur rote Boxershorts tragen?"
DA an alle: „Danke Dixon, dass du mich vor allen bloßgestellt hast! Das werde ich dir nie vergessen!"
Anonym an alle: „Beruhigt euch, Kinder! Papa hat eine neue Aufgabe. Hausdurchsuchung mit vollständiger Abwicklung. AD trägt die Verantwortung, Daten und Utensilien sind bereits auf dem Weg. Bitte um Bestätigung."
AD an Anonym: „Bestätige hiermit die Hausdurchsuchung mit vollständiger Abwicklung."
Anonym an AD: „Thanks and over."
Sienna
Nach meinem beinahe Nervenzusammenbruch beschlossen Seth und Harvey, dass Gwenny und ich bei ihnen übernachten sollten. Ich war zu gar nichts mehr fähig und heulte ununterbrochen. Schlafmittel zu nehmen schied aufgrund der Schwangerschaft aus und deshalb verarztete Harvey mich mit heißer Milch und Honig. Selbst Gwenny trank eine Tasse des leckeren Getränks, da sie sich ebenfalls total aufregte.
Zu zweit nächtigten wir im Gästezimmer, in welchem ein französisches Bett stand, das ausreichend Platz für uns beide bot. Gwenny nahm mich in ihre Arme, streichelte mein Haar und redete beruhigend auf mich ein. So lange, bis ich endlich in das Reich der Träume versank.
Mein Schlaf war jedoch nur von kurzer Dauer, denn bereits um sechs Uhr früh erwachte ich mit einem heftigen Brechreiz im Magen. In Windeseile suchte ich das Badezimmer auf und schaffte es gerade in letzter Sekunde, mich über die Toilette zu beugen. Eine Schwangerschaft war wirklich nicht einfach und zeigte immense Auswirkungen auf den gesamten Körper. Noch immer fühlte ich mich total schlapp, zudem war meine Psyche mehr als nur angegriffen. Wie sollte mein Leben nun weitergehen?
Laut Seth würde ich Fionn niemals finden, doch das wollte ich nicht so einfach hinnehmen. Deshalb reifte in meinem Kopf ein Plan heran, während die anderen noch schliefen. Ich wollte nach Harrow, zu seinem Haus fahren, um dort vielleicht einige Dinge in Erfahrung zu bringen. Wenn ich Glück hatte, war die ältere Frau wieder da. Ihre nette Art hatte mir sehr zugesagt und ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie mich einfach so wegschicken würde, wenn ich ihr erzählte, was Fionn und mich verband. Vielleicht war ihr sein Aufenthaltsort sogar bekannt.
Doch ich musste warten, bevor ich mein Vorhaben in die Tat umsetzen konnte, da die morgendliche Übelkeit erfahrungsgemäß noch einige Zeit anhielt. Um die Stunden zu überbrücken, setzte ich mich auf das Sofa im Wohnzimmer und nahm das Handy zu Hilfe, um nach dem Begriff Zeugenschutzprogramm zu googeln.
Das, was ich las, trug nicht dazu bei, meine Laune zu verbessern, geschweige denn, meine Zuversicht zu steigern.
Aus dem Artikel ging klipp und klar hervor, dass sämtliche Verbindungen aus der Vergangenheit gekappt wurden, sobald man dieses Programm antrat. Die Aussichten, Fionn zu finden, wurden somit ziemlich gering, doch einfach so aufgeben kam für mich nicht in Frage. Ich trug sein Kind unter meinem Herzen, was mir den besten Grund lieferte, bis an mein Lebensende nach ihm zu suchen. Abgesehen davon waren jede Menge Gefühle im Spiel, die mich weiter antrieben.
Nachdem ich eine Stunde damit zugebracht hatte, mit dem Handy im Internet zu googeln, beschloss ich, mich unter die Dusche zu stellen. Der warme Wasserstrahl bewirkte, dass ich mich langsam besser fühlte, die Lebensgeister kehrten sozusagen zurück.
Vor einem Monat noch hatte mein Leben ziemlich rosig ausgesehen. Weit und breit waren keine Probleme in Sicht, alles lief wie am Schnürchen, doch plötzlich änderten sich die Gegebenheiten. Nicht nur, dass ich schwanger war, nein, der Vater meines Kindes verschwand auch noch auf eine mysteriöse Art und Weise. Dies versetzte meiner Seele solch einen heftigen Schlag, von dem ich mich nicht erholen konnte. Wie sollte ich mit all dem klar kommen?
Seufzend stellte ich das Wasser ab, wickelte ein Badetuch um meinen Körper und rubbelte meine Haare ein wenig trocken. Gott sei Dank besaß Harvey einen Föhn, damit konnte ich meine lange Mähne einigermaßen schnell trocknen. So gesehen war es ein Segen, dass die anderen noch alle schliefen, denn ich blockierte das Bad für insgesamt fünfundvierzig Minuten, nicht zuletzt deshalb, weil ich mich zwei weitere Male übergeben musste. Gerade als ich in den Flur hinaustrat, begegnete mir Harvey, bekleidet mit einem rosa Bademantel.
„Guten Morgen, Schätzchen, du bist ja schon auf", begrüßte er mich lächelnd, umarmte mich und hauchte einen Kuss auf meine Wange.
„Ja, bin ich. Ich konnte nicht sonderlich lange schlafen", erwiderte ich, während ich ihm in die Küche folgte.
„Möchtest du etwas frühstücken?"
Energisch schüttelte ich den Kopf. „Lieber nicht, das kommt sowieso gleich wieder raus."
„Aber Kindchen, du musst etwas essen!", versuchte er mich zu überreden.
„Nein, das mache ich später, so gegen Mittag. Glaub mir, Harvey, es hat sich bewährt", erklärte ich und drückte einen Kuss auf seine Stirn.
Ein lautes Seufzen war die Antwort. „Wenn du meinst, Schnuckelchen, aber dann trinke wenigstens etwas."
„Ich nehme mir etwas mit, ok?"
Harvey runzelte seine Stirn. „Wo willst du denn hin?"
„Ich möchte nach Harrow fahren, zu Fionns Haus", antwortete ich ehrlich.
„Nun denn, davon werde ich dich wohl kaum abhalten können. Ich wünsche dir auf jeden Fall viel Erfolg. Vielleicht findest du etwas heraus."
„Vielleicht, ja."
Gedankenverloren beobachtete ich wie Harvey die extravagante Kaffeemaschine mit frischen Kaffeebohnen füllte, die herrlich dufteten. Wie gerne hätte ich eine Tasse davon getrunken, doch dies bekam mir zu dieser Tageszeit ganz und gar nicht, abgesehen davon, tat zu viel Koffein dem Baby nicht besonders gut.
Deshalb holte ich kleine Flasche Wasser aus der kleinen Vorratskammer und mopste eine Banane aus dem Obstkorb in der Küche. Später würde ich diese auf jeden Fall essen können. Inzwischen zeigte die Uhr fünf Minuten nach acht an. Normalerweise stand ich am Wochenende nie so früh auf, aber ungewöhnliche Situationen verlangten nach ungewöhnlichen Taten.
Bevor ich mich von Harvey verabschiedete, der gerade frischen Obstsalat zubereitete, zog ich Jacke und Sneakers an.
„Ich bin dann weg, sag Seth und Gwenny viele Grüße. Je nachdem was ich herausfinde, bin ich zum Mittagessen wieder da", erklärte ich, was der Lebensgefährte meines Bruder mit einem Nicken zur Kenntnis nahm.
„Ich drücke dir die Daumen, mein Schätzchen."
„Danke, Harvey, du bist der Beste."
Als ich die Tür hinter mir zuzog, atmete ich tief durch. Jetzt war ich auf mich alleine gestellt, aber genau dies strebte ich an. Es handelte sich um meine persönliche Angelegenheit, es waren Gefühle im Spiel und ich erwartete ein Kind von dem Mann, den ich nun verzweifelt suchte.
Den Weg zur U-Bahn legte ich schnell zurück und die Bahn selbst war zum Glück nicht vollgepfercht. Somit erlangte ich ohne Probleme einen Sitzplatz. Während der Zug durch den Tunnel fuhr, hing ich meinen Gedanken nach.
Ich vermisste die Zeit mit Fionn unendlich. Niemand konnte dies nachempfinden, keiner wusste, durch welche Hölle ich gerade ging. Das Fegefeuer war dagegen das reinste Kinderspiel.
Als ich meine Augen schloss, spürte ich seine Hände, die zärtlich über meinen Körper streichelten. Ich fühlte seine Lippen, die mich mit einer Intensität küssten, dass mir schwindelig wurde. Die Realität verschwand und ich trat in einen Traum, in meine eigene, persönliche Welt, den Black Room.
Ich würde alles Menschenmögliche tun, um die Zeit zurückdrehen zu können, nur ein einziges Mal, nur eine einzige Nacht, nur eine Stunde, die ich mit Fionn verbringen wollte. Hoffentlich ging es ihm gut, daran dachte ich immer wieder, in regelmäßigen Abständen.
Fast hätte ich es verpasst, an der Baker Street umzusteigen, ich schaffte es gerade noch, den Zug zu verlassen, bevor die Türen sich schlossen und lief dann mit schnellen Schritten zum Bahnsteig der Metropolitan Line, um die U-Bahn nach Harrow zu nehmen. Als ich dort ankam, wurde mir speiübel, sodass ich gezwungen war, die nächste öffentliche Toilette aufzusuchen, um mich dort zu erleichtern. Schwer atmend lehnte ich mich kurz an die Wand, damit ich ein wenig Kraft schöpfen konnte, bevor ich den letzten Teil des Weges antrat.
Als ich fünf Minuten später in die Straße einbog, in welcher sich Fionns Haus befand, begann ich zu zittern. Mit wie viel Hoffnung war ich einst hierhergekommen, doch nun schien alles zerstört zu sein.
Meine Schritte wurden langsamer, je näher ich dem Haus kam und stoppten schließlich vor dem hübschen, schmiedeeisernen Gartentor. Ein Windstoß fuhr durch die Blätter der Palme und als ich wenige Augenblicke später in Richtung Haus schaute, kam mir dieses ziemlich verlassen vor. Und mein Gefühl betrog mich nicht, denn das Tor ließ sich nicht öffnen.
Bei gründlicherem Hinsehen bemerkte ich, dass sogar alle Fensterläden geschlossen waren, ein Umstand, der mir bestätigte, was ich immer von mir schieben wollte. Niemand lebte mehr in diesem Haus.
Resigniert blieb ich einige Minuten stehen, bevor ich mich wieder auf den Rückweg machte. Vielleicht sollte ich es zu einer anderen Uhrzeit noch einmal probieren. Möglicherweise hielt sich dann die nette ältere Dame erneut hier auf. Irgendwer musste sich doch um das Anwesen kümmern, selbst wenn Fionn nicht mehr hier wohnte, konnte es doch nicht verwaist herumstehen. Das schöne Haus würde irgendwann baufällig werden, wenn niemand sich diesem annahm. Ich liebte Gebäude, welche in diesem Stil erbaut waren, ebenso das schmiedeeiserne Tor und den kleinen Vorgarten.
In meinen Träumen konnte ich hier mit Fionn leben- und mit unserem Kind. Schnell verwarf ich diesen Gedanken wieder, denn es entsprach eigentlich nicht meiner Mentalität, mich irgendwelchen Illusionen hinzugeben. Aber seit dem Beginn meiner Schwangerschaft verfiel ich immer häufiger in eine melancholische Stimmung, die dazu führte, dass ich die Träume der Realität vorzog. Meine Arbeit, die früher alles für mich bedeutet, war gänzlich in den Hintergrund getreten, seit ich von der Schwangerschaft wusste.
Mit einem letzten, sehnsüchtigen Blick auf das Haus, welches ich gerne mein Eigen genannt hätte, weil ich es einfach wunderschön fand, atmete ich tief durch, bevor ich den Weg in Richtung U-Bahn antrat.
Es war viertel nach zehn, als ich die Tür zum Apartment aufschloss und mehrere Stimmen durcheinander reden hörte. Inzwischen waren die beiden Schlafmützen, Seth und Gwenny, ebenfalls aufgestanden und leisteten Harvey am Frühstückstisch Gesellschaft. Alle drei hoben sofort ihre Köpfe, als ich den Raum betrat.
„Hey, Sienna, alles ok?", erkundigte sich Gwenny sofort.
„Leider nicht", seufzte ich, als Harvey mich prüfend anschaute.
„Hast du nichts erreicht?", erkundigte er sich besorgt, worauf ich nur den Kopf schüttelte.
„Das Haus wirkte ziemlich verlassen, um ehrlich zu sein und selbst das Gartentor war abgeschlossen."
Nach diesem Satz wandte ich mich direkt an Seth.
„Was geschieht eigentlich mit dem Grundbesitz jener Menschen, die in ein Zeugenschutzprogramm aufgenommen wurden?"
Mein Bruder stellte seine Kaffeetasse ab, bevor er zu einer Antwort ansetzte.
„Ich gehe davon aus, dass man diesen verkauft, um den Zeugen, die ja ein neues Leben beginnen, Geld zur Verfügung zu stellen. Diese Menschen müssen ja praktisch komplett von vorne anfangen."
Seths Erklärung klang irgendwie logisch, gleichzeitig aber auch beängstigend. Fionn würde dieses wunderschöne Haus verlieren, eine Tatsache, die mir einen Stich ins Herz versetzte. Seinen Worten, welche er in der Vergangenheit aussprach, hatte ich entnommen, dass er dieses Haus mochte. Ansonsten hätte er es nämlich schon längst abgestoßen.
„Was wirst du denn jetzt tun, Sienna?" Gwennys Frage holte ich aus meinen tiefen Gedanken.
„Frühstücken", erwiderte ich spontan, was einen kleinen Lachanfall am Tisch auslöste.
„Das meinte ich eigentlich nicht, aber gut, es sei dir gegönnt", erwiderte meine Freundin augenzwinkernd, als sie mir den Korb mit den frischen Brötchen reichte.
„Ist mir schon klar", entgegnete ich grinsend, obwohl mir gar nicht danach zumute war.
Nachdenklich schnitt ich das Brötchen in zwei Hälften, bestrich die eine mit Butter und Erdbeermarmelade und sagte dann: „Ich werde morgen nochmal zu seinem Haus fahren, aber zu einer anderen Uhrzeit. Vielleicht habe ich ja Glück und treffe diese ältere, nette Dame nochmals an, die mir gesagt hat, dass Fionn im Krankenhaus liegt."
„Wer ist sie überhaupt? Weißt du das?", erkundigte sich Harvey interessiert.
„Nein, aber ich vermute so eine Art Putzfrau."
„Kann er sich das denn leisten?", kam es erstaunt von Gwenny.
„Er hat etwas Geld von seinem Patenonkel geerbt."
„Wow!" Seth schaute mich entgeistert an, worauf mir nur ein „Was?", entfuhr.
„Ihr hattet nicht nur Sex miteinander. Ihr habt euch sogar unterhalten", stellte er erstaunt fest, womit er jedoch meine sarkastische Ader reizte.
Dies brachte ich zum Ausdruck, indem ich lässig sagte: „Es macht mehr Spaß, wenn man Zwischendurch redet."
Die Reaktionen am Tisch ließen mich schmunzeln. Gwenny verschluckt sich an ihrem Kaffee, Harvey fiel das Brötchen beinahe aus der Hand und Seth begann leicht zu hüsteln. Immerhin hielt dies meinen Bruder davon ab, weitere Fragen zu stellen, was mir nur Recht sein konnte.
In aller Seelenruhe begann ich nun mein Brötchen zu vertilgen in der Hoffnung, dass mein Magen es nicht wieder postwendend nach draußen schickte. Derjenige, der die Schwangerschaftsübelkeit erfunden hatte, gehörte wirklich gesteinigt.
„Also ihr zwei Hübschen, was habt ihr heute noch vor?", hörte ich Harvey fragen.
Vermutlich wollte er die Atmosphäre am Tisch ein wenig auflockern. Es war Gwenny, die zuerst antwortete.
„Ich wollte nachher kurz in meiner Wohnung vorbeischauen, um nach der Post zu sehen, sowie ein paar frische Klamotten zu Sienna mitnehmen."
Mit einem Blick, der auf mich fiel, fügte sie noch hinzu: „Wenn du möchtest, kannst du gerne mitkommen. Das würde mich echt freuen."
Für mich stellte das kein Problem dar, im Gegenteil – was entpuppte sich als Abwechslung, etwas anderes zu sehen und zu hören, obwohl ich natürlich die Gedanken an Fionn nicht vollkommen abstellen konnte.
Während Gwenny ihre Post durchging, als wir uns am frühen Nachmittag in ihrer Wohnung aufhielten, zog ich es vor, in meiner Schwangerschaftsbroschüre zu lesen. Ich tauchte ab in einen Welt der Wunder. Da ich laut Berechnung der Ärztin ab morgen in die siebte Schwangerschaftswoche eintrat, wurde der Embryo nun jeden Tag um ungefähr einen Millimeter größer. Gemessen wurde die Scheitel-Steiß-Länge, also die Länge vom Kopf bis zu Steißbein. Da das Baby in den ersten Schwangerschaftswochen noch so gekrümmt lag, konnte die Gesamtlänge nicht bestimmt werden. Weiterhin schien die siebte Schwangerschaftswoche für das Kind ein wichtiger Entwicklungsabschnitt zu sein. Bis zur zehnten Schwangerschaftswoche wurden nämlich alle wichtigen Organsysteme fertigangelegt sein, welche in den folgenden Wochen und Monaten weiter wuchsen und ausreiften, um bei Geburt voll funktionsfähig zu sein. Der Embryo hatte jetzt eine Scheitel-Steiß-Länge von etwa sechs Millimeter
„Gwenny, hast du ein Metermaß oder einen Lineal zur Hand", rief ich meiner Freundin über die Schulter zu.
„Ja, warum? Wozu brauchst du das denn?" Erstaunt blickte Gwenny zu mir, als ich antwortete: „Mein Baby ist jetzt ungefähr sechs Millimeter groß. Ich möchte gerne sehen, wie diese Länge auf einem Lineal aussieht."
„Oh Gott, sechs Millimeter!"
Sofort holte Gwenny ein Maßband hervor, um dieses an mich zu überreichen.
„Das ist noch total winzig!", rief ich überrascht aus, während mein Herz schneller schlug.
Fionns Baby wuchs in mir heran und er wusste es nicht; immer wieder nagte dieser Gedanken an mir und verhinderte, dass ich richtig zur Ruhe kam. Ich musste ihn finden, egal wie.
Gleich am nächsten Tag machte ich mich erneut auf den Weg nach Harrow, dieses Mal jedoch in Begleitung von Gwenny. Und wieder war meine Reise dorthin vergebens. Niemand schien da zu sein und das Gartentor ließ sich nach wie vor nicht öffnen.
„Heute ist Sonntag, Sienna, das war vielleicht keine so gute Idee", seufzte meine beste Freundin, als sie mein niedergeschlagenes Gesicht bemerkte.
„Du hast Recht", stimmte ich ihr zu. „Vielleicht sollte ich es lieber morgen noch einmal versuchen."
Gwenny hakte sich bei mir ein, als wir langsam in Richtung U-Bahn marschierten. Vereinzelte Sonnenstrahlen lugten durch die Wolken und die Luft roch bereits leicht nach Frühling. Normalerweise blühte ich zu dieser Jahreszeit immer auf, doch im Moment fühlte ich mich so müde und schlapp, wie nie zuvor.
Gott sei Dank wusste ich, dass dies mit der Schwangerschaft in Zusammenhang stand, ansonsten hätte ich mir wahnsinnig Gedanken um meinen Gesundheitszustand gemacht.
„Ich werde morgen bei meiner Ärztin anrufen und sie bitten, mich noch eine weiter Woche zuhause zu lassen", sagte ich, als wir aus der Straße bogen.
„Tu das. Ich meine, wenn du dich wirklich so schlecht fühlst, solltest du besser zuhause bleiben", stimmte meine beste Freundin mir zu.
„Wie lange möchtest du eigentlich bei mir wohnen?", erkundigte ich mich nun.
„Keine Ahnung, aber ich würde sagen, so lange du mich brauchst, Süße. Und im Moment tust du das auf jeden Fall."
Es gab wohl niemanden, der mich besser kannte als Gwenny und sie hatte haargenau erfasst, wie schlecht ich mich seelisch betrachtet fühlte. Mein Leben stand Kopf, denn alles, was ich mir für die Zukunft vorgenommen hatte, würde in dieser Form niemals mehr stattfinden können.
Im November würde ich ein Kind zur Welt bringen und das änderte alles. Vorbei war es mit meiner hochgelobten Unabhängigkeit. Nie wieder würde ich tun und lassen können, was mir beliebte. Es fühlte sich komisch an daran zu denken, dass ich bereits jetzt für zwei Leben die Verantwortung trug. Aber dieser wollte ich mich stellen, denn ich war noch nie der Typ gewesen, der vor Problemen flüchtete. Deshalb stand es auch nie zur Debatte, das Kind nicht auszutragen.
Das kleine Lebewesen trug meine Gene in sich, genauso wie Fionns und ich würde es notfalls alleine, oder mit der Unterstützung von Seth, Harvey und Gwenny großziehen. Sie waren noch immer meine Familie, das würde sich niemals ändern.
Am Montag schaute ich kurzfristig bei meiner Frauenärztin vorbei, welche sofort noch eine weitere Woche Arbeitsentzug anordnete. Es tat gut zu wissen, dass ich dem Druck im Büro nicht auch noch standhalten musste, denn der private reichte mir völlig.
Ich tat das, was ich mir vorgenommen hatte, während alle anderen zur Arbeit gingen. Mit einem kleinen Rucksack, in welchem sich Getränke und Essen befanden, campierte ich vor Fionns Haus. Irgendwann würde dort jemand auftauchen, da war ich mir sicher.
Um die Wartezeit besser zu überbrücken, ging ich die Straße auf und ab, entfernte mich jedoch nur so weit vom Grundstück, dass ich dieses gut im Blick behielt. Das Ergebnis war jedoch mehr als unbefriedigend. Niemand verließ das Haus und es kamen auch keine Besucher. Mehr als fünf Stunden verbrachte ich an diesem Montag insgesamt in der Straße in Harrow. Fünf Stunden, die mich meine ganze Kraft kosteten. Doch ich wollte nicht aufgeben.
Jeden Tag wiederholte sich das Spiel, das gleiche Szenario, mit leicht unterschiedlichen Uhrzeiten, doch der Erfolg blieb aus.
Als ich am Freitagabend gegen sieben in meiner Wohnung auftauchte, begegnete mir Gwenny mit einem leicht vorwurfvollen Blick.
„Warst du schon wieder in Harrow?", erkundigte sie sich, worauf ich nickte.
Die Abgeschlagenheit war mir wohl deutlich anzumerken, denn Gwenny sagte: „Du siehst total fertig aus, Sienna. Vielleicht solltest du in dieser Hinsicht einige Ruhetage einlegen. Es kann nicht förderlich für dein Baby sein, wenn du dich täglich so unter Druck setzt."
Seufzend und mit Tränen in den Augen ließ ich mich auf dem Sofa nieder.
„Ich kann nicht aufhören", wisperte ich leise. „Ich muss ihn finden."
Als die Tränen über meine Wangen liefen, nahm Gwenny mich in ihre Arme.
„Ist ja gut, Süße, ich bin doch da, lass es raus", murmelte sie und streichelte über meine Haare.
Es tat gut, sich bei ihr ausheulen zu können und nachdem ich mich ein wenig beruhigt hatte, sagte Gwenny leise. „Seth hat vorhin angerufen. Er konnte dich auf dem Handy nicht erreichen."
„Ich hatte es auf lautlos gestellt, um im entscheidenden Augenblick, der dann doch nicht stattgefunden hat, keiner Störung zum Opfer zu fallen", schniefte ich. „Was wollte er denn?"
„Du sollst dich bei ihm melden, oder besser gesagt, er wollte, dass wir morgen vorbeikommen, da er wohl einige Informationen bezüglich einer Straftat, die mit dem Zeugenschutzprogramm in Verbindung stehen könnte, für dich hat."
„Was?!" Wie von einer Tarantel gestochen sprang ich von der Couch hoch.
„Ich warte nicht bis morgen, wenn Seth Informationen an Land gezogen hat!", blökte ich laut. „Auf was wartest du doch, Gwenny? Los, zieh dich an, wir fahren nach Canada Water."
Als Gwenny sich erhob hörte ich sie murmeln: „Ich wusste, dass es so ausgeht."
„Hast du gerade etwas gesagt?", meinte ich pikiert.
„Ja, mir ist aufgefallen, dass deine Energiereserven beträchtlich sind, wenn es um Fionn geht."
Gekonnt ignorierte ich ihre Bemerkung, schlüpfte wieder in meine Jacke und die Sneakers, schnappte meine Handtasche und schaute erwartungsvoll zu meiner besten Freundin, die sich ihren Schal umband.
„Ich komme ja schon, Sienna, immer mit der Ruhe."
Obwohl ich total erschöpft in der U-Bahn saß, wurde ich durch eine unsichtbare Energiewelle angetrieben. Diese erlaubte mir nicht, mich auszuruhen, so lange ich eine Spur von Fionn verfolgen konnte. Die kurze Fahrt mit der U-Bahn nutzte ich zum Auftanken meiner Reserven und als wir in Canada Water ausstiegen, lief ich mit strammen Schritten zu meinem Ziel, welches in diesem Fall den Namen Seth trug. Was mochte er wohl herausgefunden haben?
Mit zitterndem Körper betrat ich das Apartment, nachdem Harvey die Tür öffnete und uns überschwänglich begrüßte.
„Seth dachte sich schon, dass ihr heute noch vorbeischauen würdet", bemerkte er grinsend, worauf ich nur entgegnete: „Das musste euch auf jeden Fall klar sein. Jede noch so kleine Information hilft mir vielleicht weiter."
Zu meiner Verwunderung saß mein Bruder nicht in seinem Arbeitszimmer, sondern auf dem Sofa, im Wohnzimmer. Der Laptop stand auf dem Tisch, direkt vor ihm und er starrte angestrengt auf den Bildschirm.
„Hey." Ohne Aufforderung ließ ich mich neben Seth nieder, um meine Augen ebenfalls auf den Bildschirm zu richten. Dieser zeigte einen Artikel aus einer bekannten und durchaus seriösen Tageszeitung Londons.
„Ich habe ein bisschen im Internet geforscht, Sienna. Und dabei bin ich darauf gestoßen."
Seth wies mit seinem Zeigefinger auf den Artikel, welchen ich augenblicklich zu lesen begann. Der Inhalt befasste sich mit einem Mord, der am Freitag, dem 19.02., abends gegen zwanzig Uhr, im Stadtteil Hackney geschehen war. Wenn man dem Artikel Glauben schenkten konnte, handelte es sich bei dem Ermordeten um einen Drogenhändler, der in Verbindung zur kolumbianischen Drogenmafia stand. Weiterhin wurde über einen Zeugen berichtet, dessen Identität geheim gehalten wurde, da dieser wohl überaus wertvolle Informationen an die Polizei hatte geben können. Der Artikel schloss mit dem Satz: „Es ist davon auszugehen, dass dieser Zeuge besonders geschützt wird, da zu befürchten ist, dass die Mafia auf Rache sinnt."
Wie erschlagen ließ ich mich in das dicke Sofakissen hinter mir sinken.
„Denkst du, dass es sich bei diesem Zeugen um Fionn handelt?", fragte ich, worauf Seth mit einem Schulterzucken reagierte.
„Sag du es mir, Sienna. War der neunzehnte Februar der Tag, an dem du vergeblich auf Fionn gewartet hast?"
Das Beben in meiner Stimme war nicht zu überhören, als ich antwortete: „Ja, das war der Tag."
Tränen liefen über meine Wangen, während ich erneut auf den Artikel schaute.
„Aber..., was kann ich denn jetzt tun?"
Nun war es Seth, der seufzte. „Nicht viel, fürchte ich."
Plötzlich kam mir ein Gedanken. „Welches Polizeirevier ist dafür zuständig?", erkundigte ich mich.
„Ich gehe davon aus, dass das Revier, das sich in Hackney befindet, den Mord aufgenommen hat", meinte Seth.
Ich atmete tief durch, bevor ich weiter redete, denn ich hatte soeben einen Entschluss gefasst, welchen ich nun kundtat.
„Gut, dann werde ich morgen dort vorbeischauen."
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Hey meine Lieben, ich wollte euch gerne mit einem neuen Kapitel verwöhnen und hoffe, ihr hattet Spaß beim Lesen.
Was haltet ihr von Siennas Plan, im Polizeirevier in Hackney vorbeizuschauen?
Denkt ihr, das bringt etwas?
Und wie findet ihr es, dass sie sich so gut über die Schwangerschaft informiert?
Danke für eure Votes und die lieben Kommentare!
LG, Ambi xxx
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