17. Nightmare

DA an Anonym: „Ich habe ihn verloren."

Anonym an DA: „Bitte was? Wie konnte das passieren?"

DA an Anonym: „Er hat die Fähre nach Irland genommen."

Anonym an DA: „Na super! Beweg deinen Arsch und komm zurück, du Newbie."


Als ich am nächsten Morgen erwachte, wurde ich sofort von einem heftigen Brechreiz heimgesucht. Mit zusammengekniffenen Augen stolperte ich ins Bad und erleichterte mich über der Toilette. Insgesamt musste ich mich dreimal übergeben, dann kam mein Magen etwas zu Ruhe.

Gwenny, die noch immer bei mir wohnte, war bereits aufgestanden und zur Arbeit gegangen. Lächelnd betrachtete ich den kleinen Zettel, den sie auf dem Tisch in der Küche deponiert hatte.

„Hey, Süße, ich hoffe, dir geht es nicht allzu schlecht, wenn du aufwachst. Ich drücke dir alle Daumen für dein heutiges Vorhaben, du schaffst das! Und solltest du dich dazu entscheiden, nicht alleine hingehen zu wollen, ruf mich bitte an, dann läute ich den Feierabend eher ein. Bitte schreib mir, was du nachher essen möchtest, ich werde für unseren Einkauf sorgen. Alles Liebe, Gwenny."

Meine beste Freundin war einfach ein Schatz. Schmunzelnd zückte ich mein Handy, um folgenden Text zu verfassen: „Liebe Gwenny, ich möchte gerne Thunfischsalat essen und als Nachtisch Vanillepudding. Ich hoffe, das ist jetzt nicht zu viel verlangt! Ich hab dich lieb und das mit Fionn schaffe ich schon alleine. Es ist vermutlich auch besser, wenn kein anderer dabei ist. Ich hab dich lieb, Sienna."

Seufzend stellte ich mich unter die Dusche, wusch meine Haare gründlich und seifte meinen Körper ein. Ich wollte ordentlich aussehen, wenn ich Fionn später gegenübertrat, um ihm zu sagen, dass er Vater wurde.

Es würde ein Schock für ihn sein, das wusste ich. Und ich konnte mir sehr gut vorstellen, dass er einen Vaterschaftstest verlangte. An seiner Stelle hätte ich das ganz sicher getan, obwohl die Kirche finanziell für das Kind aufkommen würde.

Dies war jedoch nicht der Grund, weshalb ich es ihn wissen lassen wollte. Er besaß einfach jedes Recht, darüber Bescheid zu wissen, dass seine Gene, gepaart mit meinen, irgendwann durch die Gegend marschieren würden. Vielleicht wollte er das Kind sogar sehen, obgleich ich mir nicht vorstellen konnte, dass er sich jemals als dessen Vater zu erkennen geben würde.

Bald fand die Priesterweihe statt und katholische Priester hatten bekanntlich keine Kinder. Es wäre absurd, so etwas von ihm zu verlangen und ich war nicht so naiv zu glauben, dass er solch einem Vorhaben zustimmte. Doch ich wollte, dass er unser Kind jederzeit sehen und besuchen konnte, wann immer es ihm beliebte.

Nachdem ich meine Haare geföhnt, und mich angezogen hatte, ließ ich mich auf dem Sofa im Wohnzimmer nieder, um in der Broschüre über Schwangerschaften zu lesen. Ich wollte einfach gerüstet sein, was die kommenden Tage, Wochen und Monate betraf.

Ein Kind auszutragen war eine völlig neue, und auch absurde Situation für mich. Trotzdem wollte ich das Beste daraus machen. Dem Kind sollte es an nichts mangeln, schon gar nicht an irgendwelchen Nährstoffen.

Schon jetzt war abzusehen, dass ich meine Ernährung ein wenig umstellen musste und sogar zusätzliche Dinge, wie Mineralien zu mir nehmen musste, um eine ausreichende Versorgung für das Baby und auch für mich, zu gewähren. Jeden Tag gab mein Körper mir ein bisschen mehr zu verstehen, dass wir jetzt zu zweit waren. Und es lag nicht nur am Essen, welches ich vermehrt ab zwölf Uhr mittags zu mir nahm, sondern auch an meinem ausgesprochen heftigen Schlafkonsum, den ich jeden Tag benötigte. Wie sollte das nur werden, wenn ich wieder zur Arbeit ging?

Im Moment war jedoch daran nicht zu denken. Zuerst musste die Sache mit Fionn geklärt werden, die mir verständlicherweise unglaublich zu schaffen machte. Wie erklärte man einem angehenden katholischen Priester am besten, dass er Vater wurde?

Einfach mit der Tür ins Haus fallen war nicht unbedingt mein Ding, andererseits wollte ich auch nicht um den heißen Brei herumreden. Vielleicht sollte ich Fionn einfach den Mutterpass in die Hand drücken und seine Reaktion abwarten.

Seufzend griff ich nach dem Handy, welches neben mir auf dem Sofa lag, um eine Nachricht an Gwenny zu schicken.

„Vergiss den Vanillepudding, ich möchte lieber eine frische Mango."

Fünf Sekunden später kam die Antwort.

„Geht klar, sonst noch etwas?"

„Nein, das war es vorerst."

„Wie fühlst du dich? Wann willst du überhaupt losfahren?", textete Gwenny erneut.

„So gegen drei. Es dauert ja eine Weile, bis ich mit der Bahn in Harrow angekommen bin. Bis dahin wird er hoffentlich zu Hause sein."

„Und wenn nicht?"

„Dann warte ich so lange, bis er auftaucht."

„So kenne ich dich. Kopf hoch, meine Süße, du schaffst das!"

„Danke für die Aufmunterung! xxx"

An dieser Stelle endete unsere schriftliche Konversation, da sich ein Gespräch ankündigte. Mit einem Lächeln im Gesicht blickte ich auf Harveys Namen und nahm den Anruf sofort entgegen.

„Hey, Harvey, wie geht es dir?"

„Mir geht es hervorragend, Schnuckelchen. Und was macht die werdende Mutter?"

„Ich bin ganz ok", erwiderte ich, um dann zögernd zu fragen: „Hat Seth sich wieder etwas beruhigt?"

„Ach, vergiss' doch die alte Pappnase und ja, hat er. Ich habe ihm nämlich angedroht, dass ich, wenn er sich nicht wieder mit dir verträgt, in den Küchenstreik trete", verkündete Harvey mit stolzer Stimme.

„Das ist allerdings eine schreckliche Drohung", entgegnete ich lachend. „Aber eigentlich sollte er es tun, weil ich seine Schwester bin und nicht, weil er ansonsten mit Tiefkühlpizza überleben müsste."

„Keine Sorge, Schnuckelchen, er liebt dich nach wie vor. Er war nur, wie soll ich es am besten formulieren? Ein wenig schockiert, trifft es glaube ich, am ehesten."

„Das war ich auch, Harvey", gab ich ehrlich zu. „Denn ich wollte kein Kind, also zumindest nicht jetzt und schon gar nicht mit einem Mann, den ich niemals haben werde."

Kaum hatte ich diesen Satz ausgesprochen, fühlte ich den dicken Kloß in meinem Hals, der die nächsten Tränen ankündigte, die Sekunden später über meine Wangen liefen. Es war so ungerecht.

Ich hatte mich in einen Mann verliebt, von dem ich nicht einmal wusste, wie er aussah und den ich niemals würde heiraten können. Wir durften nicht einmal zusammen leben, oder Hand in Hand durch die Straßen gehen, mit unserem Kind, das in einem Black Room entstanden war. Ironie des Schicksals nannte man das wohl, aber ich war bereit mich dieser zu stellen.

Nachdem ich das Gespräch mit Harvey beendet hatte, der sich noch erkundigte, wann ich nachher los wollte, aß ich einen Apfel, sowie Rühreier mit Tomaten und Lauchzwiebeln. Fortan wollte ich jedem Essen Obst und Gemüse beifügen, da dies einen wichtigen Einfluss auf die Entwicklung des Babys nahm. Den Kaffee ersetzte ich durch Kakao und den Alkohol ließ ich ganz sein. Da ich nicht rauchte, brauchte ich mich in dieser Hinsicht auch nicht einzuschränken. Somit bekam ich zumindest diese Dinge recht schnell in den Griff.

Gegen halb drei begab ich mich ins Badezimmer, um ein wenig Schminke aufzutragen. Ich sah ansonsten leichenblass aus und wollte nicht, dass Fionn mich so zu Gesicht bekam. Im Black Room hatte er mir häufig zu verstehen gegeben, dass ich hübsch sei, soweit seine Hände dies zu beurteilen vermochten.

Seine Hände. Sie konnten so zärtlich und ebenso energisch sein. Wie oft hatte ich sie gespürt, mich danach gesehnt, in seinen Armen zu liegen und von seiner Wärme umfangen zu werden.

Für einen kurzen Moment schloss ich meine Augen und bildete mir ein, den Geruch seines Aftershaves wahrnehmen zu können. Es roch so frisch, so herb und männlich und umhüllte mich trotzdem mit einer sanften, liebevollen Note. Es war wie er, den Mann, in den ich mich verliebt hatte.

Als ich in meine blaue Jeans schlüpfte, die am Bund etwas abstand, fragte ich mich, wie lange dies wohl noch so sein würde. Irgendwann durfte ich diese Schwangerschaftshosen kaufen und weite Oberteile tragen, die mir eigentlich zuwider waren. Ich war immer stolz auf meine gute Figur gewesen, für welche ich so einiges tat, um sie in Form zu halten. Bald würde ich mit einer Wampe durch die Gegend laufen, so unförmig wie ein Fass. Aber dies ließ sich durch die Schwangerschaft leider nicht vermeiden.

Während ich ein schwarzes Shirt überstreifte, fiel mir ein, dass auch dieses bald nicht mehr passen würde. In der Broschüre wurde wunderbar dargestellt, wie der weibliche Körper sich veränderte. Der Busen wuchs anfangs zwar unmerklich, jedoch stetig heran. Ich musste mich also auf Einiges gefasst machen, was meine Körperfülle anging.

Gegen fünf vor drei verließ ich meine Wohnung und lief mit schnellen Schritten zur U-Bahn. Da ich heute Schuhe mit flachen Absätzen trug, kam ich zügig voran. Mit der Jubilee Line konnte ich bis Baker Street fahren und musste dort in die Metropolitan Line wechseln, die direkt bis Harrow fuhr.

Von der dortigen Station waren es ungefähr noch fünf Minuten Fußmarsch, den ich mit links zurücklegte. Insgesamt war ich eine Stunde unterwegs, ehe ich vor dem Haus eintraf, in welchem Fionn wohnte.

Das Gebäude wirkte gemütlich und ein bisschen verträumt, etwas, was mir sehr gut gefiel. Ich konnte mir vorstellen, dass er gern hier lebte. Der Blickfang des winzigen Vorgartens bestand aus einer wunderschönen Palme, umgeben von einem kleinen Blumenbeet. Da zu dieser Jahreszeit außer Krokussen noch nichts blühte, musste man sich wohl überraschen lassen, was später zum Vorschein kommen würde.

Mein Herz begann in jenem Augenblick zu rasen, als ich das kleine, schmiedeeiseren Tor öffnete, um dann die drei Stufen bis zur Haustür hinaufzusteigen. Das Zittern meiner Finger brachte ich kaum unter Kontrolle, doch irgendwie gelang es mir, die Klingel zu betätigen. Hoffentlich war Fionn zu Hause.

Die immense Trockenheit in meinem Mund führte dazu, dass ich zuerst nichts sagen konnte, als eine ältere Dame die Tür öffnete.

„Ja, bitte, was kann ich für Sie tun?", erkundigte sie sich freundlich.

Ich schluckte, holte tief Luft und brachte dann ein: „Ist Fionn zu Hause?", hervor.

Ein Lächeln war die Antwort. Doch ihr nächster Satz bewirkte, dass ich erneut Herzrasen bekam.

„Tut mir leid, er ist heute Morgen nach Irland gefahren. Kann ich ihm etwas ausrichten?"

„Oh ja, ich bin schwanger und möchte gerne wissen, wie er als angehender katholischer Priester dazu steht, dass er nun bald Vater wird. Außerdem hätte ich gerne gewusst, wie er aussieht. Sie haben nicht zufällig ein Foto zur Hand?"

Ich sprach diese wahnwitzigen Gedanken nicht aus, sondern hustete kurz, um dann zu sagen: „Das ist schade, ich müsste etwas Persönliches mit ihm besprechen. Wann kommt er denn wieder?"

„Am Donnerstag, also in zwei Tagen, gegen Nachmittag."

Warum nur wurde ich dermaßen bestraft? Jetzt, da ich all meinen Mut zusammengekratzt hatte, glänzte Fionn durch Abwesenheit und ich durfte alles in zwei Tagen noch einmal durchziehen.

„Okay, ich schaue ich am Donnerstag wieder vorbei", erwiderte ich mit einem kleinen Lächeln. „Dankeschön für Ihre Mühe."

„Es war keine Mühe, die Tür zu öffnen." Die Dame blickte mich weiterhin freundlich an, was mir irgendwie Mut machte. Wenn Fionn sich mit solch netten Menschen umgab, würde er mir hoffentlich auch freundlich entgegenkommen. Mit Sicherheit war er so, wie er sich im Black Room gegeben hatte: Ein liebevoller, aufmerksamer Zeitgenosse, der jedoch auch temperamentvoll und heißblütig werden konnte.

Als ich Gwenny später davon berichtete, nahm sie mich sofort in den Arm.

„Du tust mir so leid, jetzt musst du das alles nochmal durchstehen", sagte sie.

„Ach, was, somit habe ich nochmals zwei Tage gewonnen, in denen ich mir vielleicht besser zurechtlegen kann, wie ich es ihm beibringe."

Diese zwei Tage wurden zu einer regelrechten Fahrt durch die Hölle. Ich konnte mich auf absolut gar nichts konzentrieren und war heilfroh, krankgeschrieben zu sein. Meine Frauenärztin hielt dies für sinnvoll, so lange ich mich so schlecht fühlte und zudem immer noch leicht abnahm.

Schließlich überstand ich die Hölle doch, ohne durchzudrehen. Dafür fühlte ich mich an diesem Donnerstag jedoch unsagbar schlecht. Die morgendliche Übelkeit machte mir schwer zu schaffen und es dauerte bis zwölf Uhr mittags, bis ich endlich in die Gänge kam. Auch heute machte ich mich ein wenig zurecht, denn Fionn sollte nicht schockiert sein, wenn er mich zum ersten Mal erblickte. In dieser Hinsicht würden wir beide heute eine Premiere erleben und ich war schon mächtig gespannt, wie er wohl aussah.

Um Punkt vier stand ich erneut vor Fionns Haus, mit pochendem Herzen und der Gewissheit, dass ich ihn auf jeden Fall sehen und sprechen würde. Doch zu meiner Verwunderung war es wieder die nette Dame, welche die Tür öffnete.

„Hallo, ich bin nochmal hergekommen. Ist Fionn noch nicht zurück?"

Ihr sorgenvoller Blick bescherte mir eine Gänsehaut und ihr nächster Satz, ließ mich beinahe taumeln und umfallen.

„Fionn ist im Krankenhaus. Er hatte auf der Rückfahrt einen Autounfall."

Ich hatte das Gefühl, mich jeden Moment übergeben zu müssen. Die Angst, dass er schlimme Verletzungen davongetragen haben konnte, machte sich in mir breit.

„Bitte..., bitte sagen Sie mir, wie es ihm geht", stammelte ich mit Tränen in den Augen.

„Ach, Kindchen, machen Sie sich keine Sorgen. Es geht ihm soweit gut. Ich habe ihn vorhin schon besucht. Sein Kopf hat wohl eine Platzwunde abbekommen und er hat eine leichte Gehirnerschütterung, aber der Rest scheint heil zu sein. Die Ärzte behalten ihn nur zur Beobachtung da."

Mir fiel ein Stein vom Herzen, als ich die Worte verinnerlichte. Fionn war nichts Schlimmes geschehen. Er war am Leben und alles würde in Ordnung kommen. Aber ich wollte ihn sehen, nein, ich musste ihn sehen. Mein Herz verlangte regelrecht danach.

„Kann ich ihn besuchen? Würden Sie mir sagen, in welchem Krankenhaus er liegt?", erkundigte ich mich mit zitternder Stimme, worauf die Dame nickte.

„Er ist im Churchill Hospital in Oxford untergebracht. Wissen Sie, wie Sie am besten dorthin gelangen?"

„Vermutlich mit der Oxford Tube", erwiderte ich, worauf sie zustimmend nickte.

Seth hatte in Oxford studiert, daher blieb diese Strecke noch immer in meinem Gedächtnis haften. Es würde über eine Stunde Fahrt auf mich zukommen, doch um Fionn zu sehen, war mir kein Weg zu weit.

Ich verabschiedete mich umgehend und lief zur U-Bahn Station zurück. Mit einer immensen Aufregung im Bauch saß ich in der Bahn. Zahllose Gedanken schossen durch meinen Kopf. Er hätte tot sein können, womit unser Kind seinen Vater niemals zu Gesicht bekommen hätte. Dankbarkeit stieg in mir auf, weil es anders gekommen war und plötzlich fiel mir Fionns Satz ein: „Vielleicht hat Gott einen anderen Plan für dich."

Auf jeden Fall gehörte es nicht zu Gottes Plan, Fionn sterben zu lassen, das war Fakt. Aber wozu dann dieser Unfall, wenn alles einen tieferen Sinn haben sollte, so wie Fionn es glaubte?

Ich kam nicht dazu, den Gedanken zu Ende zu führen, da der Zug gerade Oxford erreichte und ich nun aussteigen musste. Von der Bahnstation aus nahm ich ein Taxi, welches mich direkt vor dem Krankenhaus absetzte. Die ältere Dame hatte die Station, sowie die Zimmernummer auf einem kleinen Zettel vermerkt, bevor ich losgezogen war und somit brauchte ich mich nicht durchzufragen.

Mit dem Aufzug gelangte ich in den ersten Stock, trat in den steril wirkenden Gang und suchte nach Zimmer Nummer einhundertsiebzehn. Als ich vor der weißen Tür stand, holte ich kurz Luft.

„Jetzt oder nie, Sienna", sprach ich mir Mut zu.

Sanft klopfte ich an die Tür, um diese anschließend zaghaft zu öffnen. Durch den Spalt konnte ich sehen, dass nur ein Bett im Zimmer stand. In diesem lag ein junger Mann, der seine Augen geschlossen hielt. Vermutlich schlief er, was mir jedoch die Gelegenheit gab, ihn eingehend zu betrachten. Leise und mit klopfendem Herzen schlich ich mich zum Bett, an dessen Ende eine Namensschild angebracht war: Ryan.

Es handelte sich tatsächlich um Fionn, der friedlich zu schlafen schien. Das Erste, was mir ins Auge sprang war das große Pflaster, welches auf seiner Stirn klebte. Dies betrachtete ich jedoch nur für einen kurzen Moment, bevor ich meinen Blick über sein Gesicht wandern ließ.

Mein Atem setzte für einen Augenblick aus, denn Fionn war wunderschön. Dieses Adjektiv für das Aussehen eines Mannes zu benutzen kam eigentlich einem Frevel gleich, dennoch fiel mir in seinem Fall nichts anderes ein. Er war kein Schönling, sondern einfach nur perfekt. Selbst das wundervolle Grübchen an seinem ausgeprägten Kinn fügte sich in sein Gesicht, als ob es genau dorthin gehörte. Es musste so sein.

Seine schmalen, zartrosa Lippen bewirkten, dass mein Mund sich zu einem kleinen Lächeln verzog. Ich wusste wie sanft sie küssten, aber auch wie heiß es mir dadurch werden konnte.

Von seinem Körper war nichts zu sehen, denn dieser wurde durch die Decke verborgen, lediglich die Arme schauten hervor. Fionn hing an einem Tropf, ich vermutete stark, dass man ihm gerade ein Schmerzmittel verabreichte, welches auch die Müdigkeit hervorrief. So besaß ich jedoch noch weiter Gelegenheit, ihn eingehend zu betrachten.

Jede Linie seines Gesichts nahm ich in mir auf, ebenso die Form seiner Augenbrauen, sowie seiner Nase. Der Haaransatz stach braun hervor, doch die restlichen Haare waren blond. Das sah gar nicht mal schlecht aus, denn dieses Blond wirkte hervorragend an ihm; es schmeichelte seinen Gesichtszügen.

Noch immer stand ich regungslos im Raum, versuchte so leise wie möglich zu atmen, um Fionn nicht zu wecken. Ich genoss einfach nur den wundervollen Anblick jenes Mannes, mit dem ich etliche Male den schönsten Sex aller Zeiten gehabt hatte, bevor ich mich in ihn verliebte.

Langsam tastete ich nach meinem Handy, welches sich in der Jackentasche befand, holte es hervor und öffnete die Kamerabedienung. Nur ein einziges Bild von ihm, das war alles, was ich wollte. Er würde es nicht merken, doch ich hatte wenigstens ein Andenken, falls er mich nicht wieder sehen wollte und die Abwicklung bezüglich der Schwangerschaft der katholischen Kirche überließ.

Als ich den Auslöser betätigte und ein „Klick" zu hören waren, begann Fionn sich zu bewegen. Er hustete kurz und ich erkannte, dass er mühevoll versuchte, seine Augen zu öffnen. Dies gelang ihm jedoch beim ersten Versuch nicht.

„Fionn?" Inzwischen hatte ich mich dem Bett genähert, um kurz seine Hand zu streicheln. Sie fühlte sich warm an, so wie sie in meinen Erinnerungen existierte.

„Fionn, wie geht es dir?"

„Bist du das, Baby?"

Der Klang seiner rauen, verschlafenen Stimme jagte sofort eine Gänsehaut über meinen Rücken.

„Ja, ich bin's, Sienna."

Augenblicklich bildete sich ein kleines Lächeln auf seinem Gesicht, was ihn noch viel schöner erscheinen ließ. Es brachte mein Herz zum Schmelzen.

„Ich hab deine Stimme erkannt", murmelte er. „Und..., ich würde dich so gerne sehen.., aber ich bin so scheiß müde..."

Sanft fuhren meine Finger über seine rechte Hand, was Fionn dazu motivierte, die Augen zu öffnen. Ich sah, wie er kämpfte und schließlich gewann.

„Du bist wunderschön, Baby", wisperte er matt. „Viel schöner, als ich es mir je vorstellen konnte."

Wie hypnotisiert schaute ich in seine blauen Augen, die zwar müde wirkten, doch deren Ausdruck mich gelinde gesagt, einfach umhauten. So sexy und so traumhaft schön, wie ein tiefer Ozean, in den man hineintauchen wollte.

Sein Anblick machte mich erneut sprachlos. Und während wir uns anschauten, fasste ich einen Entschluss. Ich wollte ihm jetzt, zu diesem Zeitpunkt nichts über meine Schwangerschaft erzählen. Er sollte erst genesen, bevor er erfuhr, dass er Vater wurde. Diese Zeitspanne würde ich es auch noch aushalten können, denn seine Gesundheit ging im Moment vor.

„Hast du Schmerzen?", flüsterte ich leise.

„Nein." Fionn schloss langsam seine Augenlider. „Aber ich bin so.... müde..., ich glaube, das liegt am... Schmerzmittel."

Wieder streichelten meine Finger über seine Hand, was ihm erneut ein Lächeln entlockte. Ich bemerkte, dass er versuchte zu sprechen, doch es schien ihm sichtlich schwer zu fallen. Deshalb beugte ich mich über ihn, um seine Wort besser verstehen zu können.

„Baby..., ich wünschte, du könntest immer bei mir sein."

Bevor ich darauf antworten konnte, wurde die Tür geöffnet und die barsche Stimme einer Krankenschwester ertönte in meinen Ohren. „Was machen Sie denn hier? Die Besuchszeit ist längst um! Der Patient muss sich erholen!"

„Fionn, ich muss gehen, aber ich komme morgen wieder", flüsterte ich ihm zu, wobei ich mir nicht sicher war, ob er es noch hörte, oder ob er bereits wieder schlief.

Anschließend erhob ich mich, warf der Krankenschwester einen entschuldigenden Blick zu und zog dann von dannen.

Als ich auf dem Gehweg, vor dem Krankenhaus stand, atmete ich erst einmal tief durch. Meine Beine fühlten sich noch immer wackelig an, doch dieser Tag war der beste seit langer Zeit. Ich hatte Fionn gesehen, richtig gesehen und er war einfach der Hammer.

Unser Baby würde das schönste Kind der Welt werden, wenn es nach ihm kam. Hoffentlich erbte es nicht meine roten Haare, sondern seine dunklen. Aber zur Not konnten wir diese blond färben. Was dachte ich da bitte für seltsame Dinge? Im Geiste sah ich uns zu dritt über die Straße laufen, das Kind, Fionn und mich.

Jetzt, da er ein Gesicht hatte, würden auch die Träume eine andere Gestalt annehmen. Doch uns war es nicht vergönnt, eine Familie zu sein, sondern nur Fremde, die sich vielleicht einmal im Jahr begegneten, oder jeden Sonntag in der Kirche, falls ich diese Variante vorziehen wollte.

Einem inneren Drang folgend, legte ich beide Hände auf den flachen Bauch. Ich würde gut auf mein Baby aufpassen und ihm alles bieten, was in meiner Macht stand – mit oder ohne Fionn.

Gerade als ich in die Oxford Tube stieg, meldete sich mein Handy.

„Sienna, wo steckst du denn?", vernahm ich Gwennys besorgte Stimme.

„Ich bin auf dem Weg nach Hause und ich habe dir einiges zu berichten", entgegnete ich.

„Ok, wann in etwa kann ich mit dir rechnen?"

„In einer Stunde und dreißig Minuten."

„Was?! Wo um Himmels Willen bist du?"

„In der Oxford Tube, den Rest erzähle ich dir später."

Meine beste Freundin staunte nicht schlecht, als ich ihr nach meiner Ankunft berichtete, was sich heute zugetragen hatte. Und natürlich zeigte ich ihr das Foto, welches ich aufgenommen hatte.

„Fionn sieht so toll aus!", schwärmte ich, worauf Gwenny zuerst grinste, um dann zu sagen: „Er sieht super aus, das muss ich zugeben, aber er ist ein angehender Priester, Sienna, vergiss das nicht. Du wirst ihn niemals haben können, zumindest nicht so, wie du es willst."

Dann nahm sie mich in den Arm und flüsterte mir ins Ohr: „Ich weiß, dass du total verliebt bist, aber..."

Mein lautes Seufzen unterbrach ihre Rede. „Ich weiß, Gwenny, aber er ist trotzdem ein toller Mann. Morgen werde ich ihn wieder besuchen und sobald es ihm besser geht, erfährt er von der Schwangerschaft."

„Das ist eine gute Entscheidung, denn er sollte erst gesund werden. Gut, das der Unfall so glimpflich ausgegangen ist."

„Das kannst du laut sagen."

Da es schon ziemlich spät war, verzichtete ich darauf, Seth und Harvey anzurufen, um die beiden über die Ereignisse des heutigen Tages zu informieren. Das würde ich morgen tun.

Nah einer relativ friedlichen Nacht konnte ich es am nächsten Tag kaum erwarten, das Krankenhaus aufzusuchen. Doch ich wollte mit nicht mit der Tube dorthin fahren, sondern mir Harveys Wagen, einen alten Mercedes, ausleihen. Zu diesem Zweck telefonierte ich gegen elf Uhr vormittags mit ihm, als die morgendliche Übelkeit sich langsam legte.

„Hey, Harvey, wie geht es dir?", begrüßte ich den Lebensgefährten meines Bruders.

„Mir geht es super, Sienna. Und dir? Hast du schon Neuigkeiten?"

„Ja, die habe ich."

Ohne Umschweife erzählte ich, was sich am gestrigen Tag alles zugetragen hatte und beendete meine Ausführungen mit folgendem Satz: „Und deswegen wollte ich dich fragen, ob du mir deinen Wagen leihen kannst, Harvey. Ich möchte nicht noch einmal mit der Tube nach Oxford fahren."

„Das kann ich verstehen, Kindchen. Komm ruhig vorbei, ich stehe sowieso gerade in der Küche, um Torten zu backen."

„Ok, dann mache ich mich jetzt gleich auf den Weg."

Alles klappte an diesem Tag wie am Schnürchen. Die U-Bahn fuhr ein, als ich die Station betrat und Harvey empfing mich mit ausgebreiteten Armen. Seth war nicht zuhause, also gab es auch niemanden, der mir die Laune verderben konnte.

Bevor ich irgendetwas sagte, kramte ich das Handy aus meiner Handtasche und zeigte Harvey das Foto, welches ich gestern von Fionn aufgenommen hatte.

„Holy Shit! Der ist ja echt süß!", entfuhr es Harvey, was mich zu einem fetten Grinsen animierte.

„Ziemlich heiß für einen Priester, oder?"

„Allerdings", kam es von meinem Gesprächspartner, der noch immer auf das Bild starrte.

„Krieg dich wieder ein, Harvey und gib mir bitte den Autoschlüssel", ermahnte ich ihn, worauf er schelmisch grinste.

„Hier, Zuckerpuppe, fahr bitte vorsichtig, nicht, dass du auch noch einen Unfall baust und wie Fionn im Krankenhaus landest."

„Hm, das wäre nur lustig, wenn wir im gleichen Krankenhaus liegen würden", kicherte ich und nahm gleichzeitig den Schlüssel in Empfang.

Da ich Harveys Wagen schon öfter ausgeliehen hatte, gab es auch keine Probleme, denn ich war mit dem Fahrzeug bestens vertraut. Umsichtig reihte ich mich in den Verkehr ein, stellte das Radio an und fuhr in Richtung Oxford. Bald würde ich wieder bei Fionn sein.

Mein Herz schlug schneller, als ich daran dachte, wie hübsch er aussah und wie liebevoll er gestern geklungen hatte. Warum nur musste er ausgerechnet den Beruf eines Priesters wählen? Die Welt war wirklich merkwürdig und ungerecht. Zum ersten Mal seit langer Zeit verliebte ich mich wieder, durfte jedoch nicht mit diesem Mann zusammen sein.

„Wenn das dein Plan für mich ist, dann weiß ich nicht, was du dir dabei gedacht hast und wozu er gut sein soll", murmelte ich vor mich hin.

Offensichtlich sprach ich gerade mit Gott. Fionn würde vermutlich darüber lachen, oder es auch gut finden, da ich mich ja so vehement gegen seinen Glauben wehrte.

Fionn. Gleich würde ich bei ihm sein.

Meine Atmung beschleunigte, als ich den Wagen eineinhalb Stunden später auf dem Parkplatz vor dem Krankenhaus abstellte. Heute konnte ich länger bei ihm bleiben, als gestern. Natürlich hoffte ich auch, dass Fionn etwas wacher und gesprächiger sein würde. Es wäre schon, sich mit ihm unterhalten zu können. Nach wie vor beabsichtigte ich nichts von meiner Schwangerschaft zu erzählen, dies sollte er erst erfahren, nachdem er das Krankenhaus verlassen hatte.

Mit einem Lächeln auf den Lippen betrat ich das Gebäude und fuhr mit dem Aufzug in den ersten Stock. Dort angekommen, eilte ich fast schon über den Gang, um so schnell wie möglich zu Zimmer einhundertsiebzehn zu gelangen. Als ich die Tür öffnete und in den Raum schaute, setzte mein Herzschlag beinahe aus.

Das Bett war abgedeckt und gähnte vor Leere. Fionns Namensschild fehlte und überhaupt wirkte der Raum, als hätte gestern niemand dort gelegen. Vielleicht hatte man ihn auf eine andere Station, der in ein anderes Zimmer verfrachtet. Um das herauszufinden, marschierte ich kurzerhand zur diensthabenden Krankenschwester, welche ich sogleich ansprach.

„Entschuldigung, können Sie mir bitte sagen, wo Mr Ryan liegt? Gestern war er noch auf Zimmer einhundertsiebzehn aber das ist jetzt leer."

Während sie im Computer nachschaute, warf ich einen Blick auf mein Handy. Harvey hatte mir geschrieben, dass Gwenny und ich heute zum Abendessen vorbeischauen sollten. Da ich sowieso den Wagen abliefern musste, konnte ich mich durchaus mit dem Gedanken anfreunden, obwohl ich wegen Seth noch immer Magendrücken bekam. Hoffentlich hatte er sich inzwischen wirklich abgeregt.

„Tut mir leid, hier liegt kein Mr Ryan", riss mich die Stimme der Krankenschwester aus meinen Gedanken.

„Vielleicht auf einer anderen Station?"

„Nein, wir haben im kompletten Krankenhaus niemanden mit diesem Namen. Auch gestern wurde kein Mr Ryan eingeliefert."

„Bitte was?" Ich spürte, wie meine Beine schwächer wurden. „Das muss ein Irrtum sein, ich habe ihn doch gestern hier besucht", stammelte ich verzweifelt. „Sein Name ist Fionn Ryan."

„Vielleicht sind Sie im falschen Krankenhaus."

„Nein! Hier ist das Churchill Hospital in Oxford! Ich war gestern hier! Fragen Sie doch Ihre Kollegin, die Dienst hatte, die wird Ihnen bestätigen können, dass er hier lag und ich ihn besucht habe!"

Die Schwester schüttelte den Kopf. „Es bestehen keinerlei Hinweise, dass ein Patient mit dem Namen Fionn Ryan hier jemals behandelt wurde."

In diesem Augenblick hatte ich das Gefühl, dass mir jemand den Boden unter den Füßen wegzog.

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Hey ihr Lieben, ein neues Kapitel, in dem allerhand passiert ist und das mit einem Mega Cliffhanger endet.

Was mag da nur passiert sein?

Wie fandet ihr die erste Begegnung zwischen Sienna und Fionn?

Ich hoffe, ihr hattet Spaß beim Lesen und ich bedanke mich für all die Kommentare und Votes.

LG, Ambi xxx

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