15. Shrift
„Bitte was?!" Gwenny starrte mich fassungslos an, und als ich nickte lehnte sie sich auf dem Sofa zurück.
„Bist du dir sicher, Sienna?"
„Ja, ich habe gerade, bevor du aufgetaucht bist, einen Test gemacht. Er ist eindeutig positiv."
Nach diesen Worten erhob ich mich, um ins Bad zu gehen, wo mir der Schwangerschaftstest auf der Ablage des Waschbeckens entgegenleuchtete. Eindeutiger ging es wirklich nicht. Dies musste auch Gwenny zugeben, der ich das Teil eine Minute später in die Hand drückte.
„Oh mein Gott! Und jetzt? Ich meine, du weißt, wer der Vater ist, oder?"
„Ja, Fionn. Ich hatte mit keinem anderen Sex."
„Wenn es ja nicht so tragisch wäre, würde ich es für einen Witz halten. Du bist schwanger von einem angehenden katholischen Priester. Das kann echt nicht wahr sein."
Demonstrativ kreuzte ich die Arme vor meiner Brust und sagte: „Du hast vergessen zu erwähnen, dass er seit fast drei Wochen verschwunden ist und ich keine Ahnung habe, wie oder wo ich ihn suchen soll."
Ich wusste selbst nicht, woher ich in diesem Augenblick meine Gelassenheit nahm. Eigentlich hätte ich ein zitterndes Nervenbündel sein müssen, doch Gwennys Anwesenheit gab mir Mut und Zuversicht. Endlich konnte ich meine Sorgen mit jemandem teilen, und trotz dass sie selbst knietief im größten Schlammassel aller Zeiten steckte, versuchte sie mich zu trösten.
„Sienna, das findest du ganz sicher heraus. In solch einem Fall muss der Swinger Club doch die Daten herausrücken, oder nicht?"
Seufzend erwiderte ich: „Das werde ich gleich im Vertrag nachlesen, gut, dass du mich daran erinnert hast."
„Dafür sind beste Freundinnen da."
Wir umarmten uns kurz, bevor ich sagte: „Fühl dich wie zuhause und räum endlich deinen Koffer ins Schlafzimmer. Sonst denke ich, du gehst jeden Moment wieder weg."
„Das würde ich niemals tun."
Nachdem Gwenny sich einen bequemen Jogginganzug übergestreift hatte, nahm sie erneut ihren Platz auf dem Sofa ein. Inzwischen hatte ich zwei Tassen, sowie eine Kanne Tee auf dem Tisch platziert, aus welcher ich sogleich ausschenkte.
„Möchtest du etwas essen?", erkundigte ich mich bei meiner besten Freundin, worauf sie nickte.
„Aber ich kann mir selber was holen, Sienna, du musst mich nicht bedienen", ließ sie mich wissen.
Als ich mein Ok gab, verschwand Gwenny in der Küche. Ich hörte sie rumoren und rufen: „Was möchtest du denn?"
„Gar nichts!", rief ich zurück.
Gwenny streckte ihren Kopf durch die Tür. „Und warum nicht? Du musst etwas essen, das Baby braucht Nährstoffe!"
„Ich bin schwanger und ich muss jeden Morgen kotzen, sobald ich meinem Magen etwas Festes zuführe", klärte ich sie auf.
„Das ist ja echt übel."
„Ja, ist es."
Mit einem Sandwich, welches mit Schinken und Käse belegt war, betrat Gwenny wieder das Wohnzimmer.
„Sag mal, wie ist das eigentlich passiert?", wollte sie wissen und deutete auf meinen bis jetzt noch flachen Bauch.
„Du weißt ja, dass ich die Pille nicht vertrage", begann ich.
„Ja, du bekommst immer hohen Blutdruck davon."
„Genau und deswegen mussten Steve und Brandon auch Kondome nehmen. Im Swinger Club ist das sowieso üblich, wir haben immer welche benutzt, aber ich glaube... Also ich habe den Verdacht, dass bei unserem Treffen, als wir den Sekt geschenkt bekamen, etwas schief gelaufen ist. Ich meine, wir waren beide ziemlich angeheitert und irgendwie denke ich, dass das Kondom einen Riss gehabt haben könnte. Und wir haben es nicht bemerkt. Man sieht ja in der Dunkelheit nichts und nüchtern waren wir auch nicht mehr."
„Fuck! Das ist natürlich blöd", kam es prompt von meiner besten Freundin.
„Das kannst du laut sagen", seufzte ich.
„Was denkst du, wie er reagieren wird?"
Verzweifelt strich ich die Haare aus meinem Gesicht. „Ich muss ihn erstmal finden und dann... Ich hab keine Ahnung. Vermutlich wird er einen Vaterschaftstest wollen, was ich ihm nicht verübeln könnte."
„Kommt nicht die Kirche in solchen Fällen für das Kind auf?", meinte Gwenny.
„Keine Ahnung, soweit war ich mit meinen Überlegungen noch nicht."
Kaum hatte ich das ausgesprochen, begann meine Freundin im Internet zu stöbern.
„Du hast Glück, denn hier steht, dass die katholische Kirche für drei uneheliche Kinder pro Priester aufkommt."
„Dann wollen wir hoffen, dass er nicht schon irgendwo drei Kinder herumlaufen hat", erwiderte ich sarkastisch, was Gwenny zu einem Lachen animierte.
„Ich liebe deinen Humor, Sienna."
„Wenn ich den nicht hätte, könnte ich mich gleich begraben lassen", lautete meine Aussage.
Obwohl ich mich so cool gab, war mir ziemlich mulmig zumute. Wie sollte das alles enden? Schwanger von einem katholischen Priester zu sein, war nicht der Wunschtraum meines Lebens. Überhaupt wollte ich niemals ein Kind, zumindest nicht in absehbarer Zeit.
Alles lief komplett aus dem Ruder, sowohl bei Gwenny, als auch bei mir. Seufzend betrachtete ich ihren Ringfinger, welcher irgendwie nackt wirkte, seit der mit Diamanten besetzte Klunker fehlte, den Tony, der schwanzgesteuerte Schleimer, ihr zur Verlobung geschenkt hatte. Während ich mit einer Hand über meinen Bauch strich, liefen plötzlich Tränen über meine Wangen.
„Was soll ich nur tun, Gwenny?", schluchzte ich leise. „Ich hab..., keine Ahnung, wo ich anfangen soll... und wie alles weitergeht."
Liebevoll nahm meine beste Freundin mich in ihre Arme, streichelte über meinen Rücken und wisperte mir ins Ohr: „Egal, wie du dich entscheidest, ich bin immer für dich da."
„Ich werde das Kind nicht wegmachen lassen, falls du darauf anspielen solltest", antwortete ich schwach. „Es kann nichts dafür und es hat ein Recht darauf zu leben."
„Natürlich hat es das und ich wollte eigentlich nur damit sagen, dass ich dir in jeder Situation mit Rat und Tat zu Seite stehe."
„Das ist lieb von dir", murmelte ich. „Und ich verspreche dir das auch. Das, was du erlebt hast, ist schließlich auch kein Pappenstiel."
Gwenny bewies mir, aus welchem Holz sie geschnitzt war, als sie antwortete: „Ich werde darüber hinwegkommen. Wie heißt es doch so schön? Besser ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende."
Fünf Minuten später brüteten wir zu zweit über dem Vertrag des Swinger Clubs für den Black Room. Zu meinem Entsetzen musste ich feststellen, dass dieser eine Klausel beinhaltete, aus welcher klipp und klar hervorging, dass die Weitergabe persönlicher Daten in keinem Fall erfolgte, auch nicht im Falle einer Schwangerschaft. Jeder war selbst verantwortlich für sein Tun.
„Na super." Meine Laune sackte auf den Nullpunkt und ich hätte schon wieder weinen können. Das mussten die blöden Hormone sein, die bei Schwangeren bekanntlich verrücktspielten. Hinzu kam die Tatsache, dass ich im Moment in einer Sackgasse landete.
Ich fühlte mich wie in einem schwarzen Raum, wusste nicht, wo oben und unten war, geschweige denn, dass ich den Ausgang fand. Eine völlig verfahrene Situation tat sich vor mir auf. Wie sollte ich Fionn jemals finden, wenn der Swinger Club keine Auskünfte erteilte?
Unglaublich froh darüber, dass meine beste Freundin nun hier war, fiel es mir ein bisschen leichter, das Wochenende zu überstehen. Wir kochten zusammen (ich aß nicht mehr vor zwölf Uhr mittags), schauten uns diverse Filme an, lachten und weinten gemeinsam über unser Schicksal.
Gwenny hatte sich noch nicht dazu durchringen zu können, ihre Eltern anzurufen, um von dem Desaster, welches ihr widerfahren war, zu berichten. Ebenso hatte ich mich auch keinem anderen Menschen anvertraut. Wem auch? Seth hätte mich zum Teufel gejagt und mir den Schwestertitel offiziell aberkannt. Irgendwann musste er jedoch von meiner Schwangerschaft erfahren, jedoch wollte ich ihm verheimlichen, unter welchen Umständen dies passiert war.
Am Montag holte uns Gwennys Wecker aus dem Tiefschlaf, da sie sich so früh wie möglich bei ihrem Arbeitgeber melden wollte, um kurzfristig frei zu nehmen. Sie brauchte nicht einmal eine Geschichte zu erfinden, denn die Bank gestand ihr ohne weiteres einen Urlaubstag zu. Nach dem Gespräch bereitete Gwenny mich nun auf den nächsten Schritt vor, was das Thema Schwangerschaft anging.
„Du solltest unbedingt deine Frauenärztin anrufen, Sienna. Schließlich kann der Test sich irren."
„Das glaube ich zwar nicht, aber du hast Recht", erwiderte ich und griff sofort zum Telefon, welches auf dem Nachttisch lag.
Unangenehme Sachen hinauszuschieben, war noch nie mein Ding gewesen. Das Glück befand sich auf meiner Seite, da jemand seinen Termin kurzfristig für heute Nachmittag abgesagt hatte. Somit brauchte ich nicht tagelang auf das amtliche Ergebnis zu warten, sondern musste lediglich einige Stunden überbrücken.
„Ich werde dich natürlich begleiten", sagte Gwenny sofort.
Mir fiel ein Stein vom Herzen, denn mit der besten Freundin an meiner Seite fühlte sich die Bewältigung der Probleme etwas einfacher an.
„Was wollen wir heute Mittag essen?", erkundigte sich Gwenny.
„Thunfischsalat", antwortete ich wie aus der Pistole geschossen, denn ich bekam gerade richtigen Heißhunger drauf.
„Gut, dann sollten wir nachher einkaufen gehen."
Gwenny kümmerte sich wirklich rührend um mich, obwohl es ihr selbst nicht gut ging. Ich sah es jedes Mal, wenn ich in ihre Augen blickte. Oftmals wirkte sie geistesabwesend, mit einem unsagbar traurigen Gesichtsausdruck, und doch versuchte sie immer wieder, mich aufzurichten. Vor allem als wir die Praxis der Frauenärztin betraten, konnte ich auf sie zählen. Meine Beine schlotterten und in meinem Magen breitete sich ein flaues Gefühl aus. Während wir im Wartebereich saßen, streichelte Gwenny ständig über meine Hand. Obwohl der Test, welchen ich zuhause durchgeführt hatte, positiv ausgefallen war, steigerte sich meine Aufregung ins Unermessliche, als ich aufgerufen wurde.
Meine Ärztin begrüßte mich freundlich, bevor sie lächelnd sagte: „Wir haben ihren Urin untersucht, Sienna. Das Ergebnis ist eindeutig positiv."
Ich hatte nichts anderes erwartet und trotzdem fühlte es sich nochmals an wie ein Schlag ins Gesicht. Dann erkundigte sie sich, wann ich meine letzte Periode hatte und bat mich anschließend zur Liege, um die Ultraschalluntersuchung durchzuführen. Gwenny hielt auch jetzt meine Hand, während ich mit klopfendem Herzen auf den Monitor blickte, auf dem für mich jedoch fast nichts zu erkennen war. Doch die Ärztin schien meine Ansicht nicht zu teilen.
„Sieh mal an, da haben wir es", meinte sie lächelnd. „Fünf Millimeter groß, so, wie es sich für die sechste Woche gehört."
„Bin ich schon in der sechsten Woche?", fragte ich erstaunt, denn dann würde meine Vermutung nicht so ganz hinhauen.
„Ja, wir rechnen den Zeitpunkt ab der letzten Periode, nach ihrer Rechnung müssten Sie natürlich zwei Wochen abziehen, denn der Eisprung findet ja später statt."
Noch immer ein wenig benommen, erhob ich mich von der Liege. Dann kam meine Vermutung wohl doch hin.
„Wir werden jetzt den Mutterpass ausstellen, den dürfen Sie gleich mitnehmen, Sienna, und Sie sollten diesen auch immer bei sich tragen. Sie werden sich müde und abgeschlagen fühlen, das ist aber gerade während der ersten drei Monate normal. Ist Ihnen morgens übel?"
Als ich nickte, erwiderte sie: „Auch das vergeht meistens nach der zwölften Woche, sollte es jedoch so schlimm werden, dass Sie drastisch abnehmen, müssen wir etwas dagegen unternehmen."
„Ich habe bisher ein Kilo abgenommen", erwiderte ich, worauf die Ärztin antwortete: „Ein Kilo ist keineswegs bedenklich, sollten es aber drei oder vier werden, melden Sie sich bitte. Ansonsten sehen wir uns in vier Wochen wieder, es sei denn, Sie hätten noch irgendwelche Fragen."
Ihr Blick wirkte beinahe schon erwartungsvoll, was mich schlucken ließ. Welche Fragen erwartete sie denn jetzt von mir?
„Nein, ich glaube, mir fällt im Moment nichts ein", stammelte ich unbeholfen, was der Ärztin ein Lächeln entlockte.
„Ich wette, die Fragen kommen, sobald Sie wieder zuhause sind. Oh, und bevor ich es vergesse, Sie dürfen durchaus Sex haben, das schadet dem Baby nicht. Es sei denn, es käme zu Blutungen während der Schwangerschaft. Aber diese sind relativ selten."
Die Flut von Informationen prasselte nur so auf mich ein und als ich den Mutterpass in die Hand gedrückt bekam, wusste ich, dass meine Schwangerschaft nun offiziell bestätigt war. Alles kam mir vor, wie ein schlechter Film. Ich besaß keinerlei Anhaltspunkte, wie und wo ich nach Fionn suchen sollte. Schließlich konnte ich nicht alle Kirchen in London abklappern, zudem würde man mir dort bestimmt keine Auskünfte über angehende Priester erteilen.
Frustriert kehrte ich mit Gwenny in meine Wohnung zurück. Sie hat sich entschlossen, noch einige Tage zu bleiben, da wir uns gegenseitig ein bisschen aufbauten, wann immer es nötig wurde.
Während ich die Broschüren über Schwangerschaften durchlas, welche die Ärztin mir freundlicherweise mitgegeben hatte, bereitete Gwenny für jeden ein Sandwich zu. Sie war der Ansicht, ich sollte mich derweil ausruhen, wofür ich ihr wirklich dankbar war. Die Anstrengung des Tages spürte ich nun deutlich.
Das Baby entzog mir bereits jetzt sämtliche Energiereserven, obwohl es noch so winzig war. Klein wie ein Reiskorn, vereinte es jedoch die Gene zweier Menschen in sich: Fionns und meine. Es machte mich verrückt, nicht zu wissen, wie ich ihn jemals finden sollte.
„Hier, Sienna, Schinken, Käse und Tomaten, wie du es wolltest."
Dankbar nahm ich das Sandwich entgegen, welches meine Freundin mir reichte.
„Das ist lieb von dir, Gwenny."
Hungrig biss ich davon ab, während Gwenny mit ihrem Handy herumspielte.
„Tony hört nicht auf, mich mit seinen Entschuldigungen zuzumüllen", stieß sie bissig hervor. „Die kann er sich sparen, der Arsch!"
„Dann blockiere ihn doch", schlug ich vor.
„Ich habe keine Ahnung, wie man das macht, aber ich würde es gerne tun", kam es sofort von Gwenny.
„Seth hat Ahnung davon, vielleicht sollten wir ihn mal besuchen", erklärte ich und verdrückte einen weiteren Bissen des Sandwichs, bevor ich einen lauten Seufzer ausstieß. „Ich wünschte, ich würde irgendwie an die Daten des Swinger Clubs herankommen. Die haben nämlich alles gespeichert, den Namen, die Adresse, und die Telefonnummer."
Kaum hatte ich dies ausgesprochen, schaute Gwenny zu mir, deren Blick mir genau zu verstehen gab, was auch ich dachte.
„Vergiss es! Ich frage Seth nicht! Der dreht mir den Hals um, wenn er erfährt, was passiert ist."
„Aber er ist deine einzige Chance, Sienna. Wenn Seth sich nicht Zugang zum Computersystem des Swinger Clubs verschaffen kann, wer dann sonst?"
Ja, wer sonst? Ich war so gut wie aufgeschmissen, es sei denn, ich beichtete meinem großen Bruder alles, was einer Hinrichtung gleich kam. Im selben Moment wusste ich, dass ich dies für Fionn und für das Baby auf mich nehmen wollte. Fionn hatte jedes Recht darauf zu erfahren, dass ich ein Kind von ihm erwartete und auch das Baby besaß jegliches Recht, zu wissen, wer sein oder ihr Vater war. Seth war in diesem Moment meine einzige Chance, und eine, die ich nutzen musste, auch wenn dies mit Sicherheit schlimme Konsequenzen nach sich zog.
„Gwenny?"
„Hm?"
„Würdest du mich zu Seth und Harvey begleiten?"
„Da fragst du noch?! Oh Gott, Sienna, ich sagte, ich stehe dir immer zur Seite und das mache ich auch in diesem Fall."
Ich konnte mich glücklich schätzen, eine beste Freundin wie Gwenny zu haben.
Zehn Minuten später befanden wir uns auf dem Weg nach Canada Water, nachdem ich unseren Besuch telefonisch angekündigt hatte. Die Aufregung ergriff immer schlimmer von mir Besitz, je näher wir dem Haus kamen.
„Ich glaube, mir wird schlecht" murmelte ich.
„Heb dir das für morgen Früh auf", meinte Gwenny prompt und schleifte mich in Richtung Haustür. „Du wirst jetzt nicht kneifen, meine Süße, hast du gehört? Ein Baby ist kein Weltuntergang, das wird auch Seth einsehen müssen."
„Ja, aber das Wie wird ihm nicht schmecken."
Als wir im Aufzug standen, hatte ich das Gefühl, mich übergeben zu müssen und als wir schließlich die Wohnung betraten, kam Harvey angelaufen und begrüßte mich mit folgenden Worten: „Du siehst echt Scheiße aus, Sienna. Was hast du gemacht?"
Schnell winkte ich ab, zog meinen Mantel aus, um dann zu fragen: „Wo ist Seth?"
„Wo wohl? Vor seinem Laptop."
„Das trifft sich gut."
Mit zitternden Beinen lief ich in Richtung Arbeitszimmer, in welchem mein Bruder gerade auf der Tastatur des Laptops herumtippte, als wollte er einen Schreibwettbewerb gewinnen. Er nahm jedoch sofort meine Anwesenheit wahr und drehte sich zu mir.
„Hey, Schwesterherz, schön, dass du mal vorbeischaust. Du hast dich in letzter Zeit ziemlich rar gemacht", begrüßte er mich grinsend.
Wie üblich steckte ein Lolli in seinem Mund. Es war eine Angewohnheit von Seth, mit einem Lutscher, meistens Brombeergeschmack, zu arbeiten. Angeblich sei dies konzentrationsfördernd für ihn.
„Ich war beschäftigt", antwortete ich, während ich einen Stuhl heranzog, um direkt neben Seth sitzen zu können. „Und ich habe Gwenny mitgebracht. Sie braucht deine Hilfe."
Gwenny rollte ihre Augen, kramte ihr Handy hervor und sagte: „Kannst du einen Anrufer in meiner Liste blockieren? Sienna hat gesagt, es ginge."
„Natürlich, aber wer geht dir denn so auf die Eier?"
„Mein Ex-Verlobter."
Es herrschte einen Augenblick Stille im Raum und Harvey, der gerade ein Tablett mit Kuchen hereintrug, schaute sich erstaunt um. „Was ist passiert?"
„Tony und ich haben uns getrennt. Er hat mich betrogen", erklärte Gwenny mit einer Nüchternheit in ihrer Stimme, die mich neidisch machte.
In diesem Augenblick wünschte ich mir, ebenso abgeklärt sein zu können, was Fionn anging, aber das war nahezu unmöglich. Dabei wusste ich immer noch nicht, ob dies an meine Hormonen lag, oder ob ich wirklich so tiefe Gefühle für Fionn aufgebaut hatte, wie mein Herz es mich spüren ließ.
Fest stand nur eines: Er war mir nicht egal und genau deshalb musste ich die Kreuzigung auf mich nehmen, welche durch Seth persönlich erfolgen würde, sobald er die Wahrheit erfuhr. Einstweilen beschäftigte er sich noch mit Gwennys Handy, was jedoch weniger als eine Minute Zeit in Anspruch nahm.
„Danke, und ich glaube, Sienna hat auch noch ein Anliegen", ließ Gwenny nun verlauten, als sie das Handy wieder wegsteckte. Ich war froh, dass sie diese Einleitung brachte.
Sofort richteten sich Seths Augen auf mich. „Was kann ich für dich tun?"
Mir wurde plötzlich speiübel und meine Stimme begann zu beben.
„Seth, du musst mir einen Gefallen tun. Ich..., ich muss jemanden finden, dessen Nachnamen und Adresse mir nicht bekannt ist. Ich weiß aber, wo diese Daten hinterlegt sind."
Mit einem erstaunten Blick musterte Seth mein Gesicht. „Höre ich da etwa heraus, dass ich mich irgendwo einhacken muss?", fragte er.
Als ich nickte, begann er zu seufzen. „Sienna, du weißt, dass das strafbar ist."
„Ich würde dich nicht darum bitten, wenn es nicht so verdammt wichtig wäre!", entfuhr es mir ungehalten.
In aller Seelenruhe schlug Seth seine Beine übereinander, bevor er weitersprach.
„Du musst mir schon sagen, um was es geht, wenn ich dir helfen soll. Denn ich werde ganz sicher meinen Kopf nicht für eine Lappalie riskieren."
Tränen liefen aus meinen Augen, als ich schluchzte: „Es ist keine Lappalie, es ist weit davon entfernt."
Kurze Zeit später spürte ich, wie Harvey über meinen Rücken streichelte.
„Was immer es ist, Kind, sag es uns. Wir sind für dich da."
Durch den Tränenschleier blickte ich zu Gwenny, die mir aufmunternd entgegen nickte. Also holte ich den Mutterpass aus der Handtasche hervor, um diesen dann neben dem Laptop zu platzieren. Wie zu erwarten, nahm Seths Gesicht einen überraschten Ausdruck an.
„Du bist schwanger?"
„Ja."
„Und du kennst nur den Vornamen von diesem Kerl? Es war also ein One Night Stand bei dem du dich hast schwängern lassen?"
Sein Tonfall war alles andere als nett und bewirkte, dass ich schon wieder zu heulen anfing.
„Nein, so ist es nicht. Wir..., wir haben uns öfter getroffen..."
Seth stieß ein tiefes Schnaufen aus. „Das glaube ich jetzt einfach nicht!"
Bevor er jedoch weiterreden konnte, mischte Gwenny sich ein.
„Seth, hör zu, Sienna hat sich in einem Swinger Club mit diesem Typen getroffen. Es war immer der gleiche Mann und der gleiche Club. Er heißt The Secret, du kannst die Homepage ganz leicht finden."
„Bitte was?! Meine Schwester prostituiert sich in einem Swinger Club und lässt sich dabei auch noch schwängern! Ich hätte nie gedacht, dass du so tief sinken würdest, Sienna!"
Jedes seiner Worte wirkte wie ein Peitschenhieb auf mich. Es tat unendlich weh, so zu behandelt werden, aber von Seth konnte ich nichts anderes erwarten. Er war und blieb ein Spießer, doch trotzdem meine einzige Chance, jemals an Fionn heranzukommen.
„Ich habe mich nicht prostituiert", wisperte ich leise. „Denn wir mussten beide Geld für den Black Room bezahlen."
Mir war durchaus bewusst, dass Seth keine Ahnung hatte, um was es sich bei diesem Black Room handelte, da er jedoch des Lesens mächtig war, würde er dies wohl ohne meine Hilfe mühelos herausfinden. Zitternd wie Espenlaub saß ich auf dem Stuhl, meine Augen auf den Bildschirm des Laptops geheftet, als Seth sich die Homepage zu Gemüte führte.
„Das glaube ich einfach nicht", zischte er. „Du hast mit einem Typen gevögelt, den du nicht mal sehen konntest?"
„Oh Gott, hoffentlich wird es kein hässliches Kind."
Es war das erste Mal, dass Harvey sich zu diesem Thema äußerte. Bisher hatte er nämlich die ganze Zeit geschwiegen. Umso heftiger schockierte mich seine Aussage, dass das Baby vielleicht nicht hübsch werden könnte.
Das, was ich hatte in der Dunkelheit ertasten können, ließ zwar nicht darauf schließen, sicher sein durfte ich mir jedoch nicht. Immerhin hatte ich Fionn noch nie zu Gesicht bekommen und wer wusste schon, ob meine Vermutung, dass er gut aussah, wirklich stimmte.
Im Moment sollte dies jedoch meine kleinste Sorge sein, denn ich musste alles daran setzen, dass Seth mir seine Hilfe zuteilwerden ließ, was im Augenblick noch gar nicht so sicher zu sein schien. Ängstlich beobachtete ich sein Gesicht, welches einen beinahe versteinerten Ausdruck angenommen hatte, je länger er auf dieser Homepage herumschnüffelte. Sein nächster Kommentar trug auch nicht dazu bei, dass ich mich besser fühlte.
„Meine kleine Schwester ist also zu einer Hure mutiert", stieß er hervor. „Wie hatte ich es nur übersehen können, dass du dermaßen aus der Art schlägst?"
Er hob seine Stimme, bevor er die nächsten Worte aussprach, die mir erneut einen Stich ins Herz versetzten. „Deine Freundschaften mit gewissen Vorzügen waren ja schon das Letzte, aber dies hier schlägt wirklich dem Fass den Boden aus! Wer weiß, mit welchem asozialen Arsch du da gevögelt hast!"
Tränen stürzten aus meinen Augen, als ich wütend hervorstieß: „Fionn ist kein asoziales Arschloch! Er ist ein angehender katholischer Priester!"
Das war der Moment, in dem mein Bruder völlig ausrastete. Er zeigte mit dem ausgestreckten Arm zur Tür und brüllte: „Raus aus meiner Wohnung!"
Instinktiv legte ich meine Hände auf den Bauch, wie eine angehende Mutter es tat, die ihr ungeborenes Kind schützen wollte. Alles brach in mir zusammen, als die Tränen unaufhaltsam aus meinen Augen strömten. Doch es war Harvey, der plötzlich Partei für mich ergriff.
„Moment, Seth! Dies ist auch meine Wohnung! Deine Schwester hat zwar Scheiß gebaut, aber das arme Würmchen, das sie gerade austrägt, kann am allerwenigsten dafür. Und wenn sie das Kind verlieren sollte, weil du sie so anbrüllst, werde ich dir das nie verzeihen, hast du das verstanden?!"
Bevor Seth etwas erwidern konnte, meldete sich Gwenny zu Wort.
„Außerdem war es meine Schuld, dass Sienna dorthin gegangen ist. Ich hatte darüber gelesen und sie dazu angestiftet. Wenn du also jemanden anschreist, dann mich und nicht sie."
Nach diesen Worten nahm Harvey mich behutsam am Arm und sagte: „Komm, Zuckerpuppe, wir gehen mal kurz raus aus dem Zimmer, damit du dich beruhigen kannst."
Widerspruchlos ließ ich mich aus dem Raum führen, blieb jedoch vor der Tür stehen, um zu hören, was Seth noch von sich gab. Begriffe wie „zügelloses Verhalten" und „sexgesteuertes Frauenzimmer" waren zu vernehmen. Im Gegenzug dazu Gwennys Stimme, die alles Menschenmögliche versuchte, um ihn zu beruhigen.
„Keine Absicht" und „sie braucht deine Hilfe", sowie „ist alles meine Schuld", konnte ich heraushören.
Leise schluchzend strich ich eine Haarsträhne aus meinem Gesicht, während Harvey beruhigend meinen Rücken streichelte.
„Alles wird gut, Süße. Seth kriegt das schon hin."
Kurze Zeit später trat Gwenny aus dem Raum. „Seth möchte wissen, wann du dich zum ersten Mal mit Fionn im Black Room getroffen hast", sagte sie.
„Das war am elften Dezember", antwortete ich stockend.
Niemals würde ich dieses Datum vergessen.
„Ok, ich sag's deinem Bruder und komme dann zu euch."
Stille kehrte ein, als wir zu dritt auf dem eleganten Ledersofa im Wohnzimmer saßen und einfach nur warteten. Gwenny hatte mich in den Arm genommen, während Harvey unentwegt meine Hand streichelte. Noch immer zitterte ich am ganzen Leib, gleichzeitig wurde mein Mund von einer seltsamen Trockenheit befallen. Wieso musste das alles passieren? Warum wurde ich dermaßen bestraft?
„Nur ruhig, ich gebe ihm zehn Minuten, dann hat er es", murmelte Harvey leise in mein Ohr.
Ich wollte hoffen, dass er Recht behielt. Schritte ertönten plötzlich, dann sah ich eine Hand, die mir einen beschriebenen Zettel entgegenstreckte.
„Hier, die haben keine besonders gute Software, was Hacker angeht", brummte Seth.
„Danke", war alles, was ich hervorbrachte.
„Bitte, und es tut mir leid, dass ich dich so angefahren habe."
Seine Entschuldigung haute mich fast aus den Schuhen, denn diese hatte ich nicht erwartet. Meine Finger bebten, als ich den für mich so wertvollen Zettel in den Händen hielt und mit tränenverschwommenen Augen Seths Gekritzel ausmachte.
Der Name Fionn Ryan, sowie eine Adresse und Telefonnummer waren darauf vermerkt.
Ein einziger Gedanken durchzuckte meinen Kopf: Ich musste morgen dort vorbeischauen, um Fionn wissen zu lassen, was geschehen war.
________________
Hallo meine Lieben, hier kommt ein neues Kapitel für euch.
Ich hoffe, ihr hattet Spaß beim Lesen und freue mich auf eure Kommentare. Was denkt ihr, wird nun passieren?
Wird Fionn Sienna so einfach empfangen?
Wie fandet ihr das Verhalten von Seth?
Danke für eure Unterstützung!
LG, Ambi xxx
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top