12. Bullet

„40 Inches Schneefall in London."


Fionn


Das letzte Wochenende hatte meine Beziehung zu Sienna auf ein neues Level gebracht. Sie nistete sich langsam aber sicher in meinem Herzen ein. Diese Erkenntnis traf mich zwar nicht wie ein Blitz, aber sie ging auch nicht spurlos an mir vorüber.

Sich wieder zu verlieben war etwas, was ich vier Jahre lang erfolgreich vermieden hatte, aber nun war ich an dem Punkt angelangt, an dem ich es nicht mehr verleugnen konnte. Mein entscheidender Vorteil war jedoch, dass ich in naher Zukunft die Priesterweihe erhalten würde und somit aus dem Rennen war, was eine feste Beziehung anging.

Aus diesem Grund drängte ich meine Gefühle für Sienna nicht zurück, sondern ließ diese an die Oberfläche kommen. In wenigen Wochen legte ich mein Keuschheitsgelübde ab, doch ich würde es brechen so lange sich Sienna mit mir im Black Room treffen wollte. Das dies eines Tages zu Ende ging, stand völlig außer Frage. Sie war eine tolle Frau und irgendwann würde sie den Richtigen finden. Jemand, mit dem sie vielleicht sogar eine Ehe einging. Doch bis dahin sollte sie mir gehören.

Mit einem Grinsen auf den Lippen stand ich in der Schleuse, um mich meinen Klamotten zu entledigen. Gleich würden wir uns wieder in diesem schwarzen Raum treffen, der mir anfangs zwar ein bisschen Angst eingejagt hatte, nun aber so etwas wie eine zweite Heimat war. In Siennas Gesellschaft fühlte ich mich zuhause.

Kaum öffnete sich die Tür zum dunklen Paradies, tastete ich mit den Händen an der Wand entlang, während ich vorwärts ging.

„Sienna?"

„Ja, Fionn?"

Ihre Stimme löste augenblicklich einen angenehmen Schauer in meinem Körper aus.

„Bleib stehen, ich komme heute zu dir", hörte ich sie sagen.

Schmunzelnd und mit klopfendem Herzen wartete ich, bis ich endlich ihre Hand fühlen konnte, welche sich vertrauensvoll auf meine legte.

„Baby, da bist du ja, ich hab dich schon vermisst", raunte ich ihr ins Ohr und ließ meine Hände über ihren wundervollen Körper wandern.

„Ich dich auch."

Als sie sich mir entgegendrängte, spürte ich, wie sie es heute brauchte. Sanft, zärtlich, aber gleichzeitig leidenschaftlich und zügellos.

Vorsichtig umfasste ich ihr Gesicht mit meinen Händen, um einen Kuss auf ihre vollen Lippen zu platzieren, den Sienna ohne zu zögern erwiderte. Im gleichen Moment schoss unser Gespräch bezüglich der blinden Menschen durch meinen Kopf, das wir vor einiger Zeit geführt hatten.

Sienna dachte ernsthaft, man würde sich nicht verlieben können, wenn man den anderen nicht zu Gesicht bekam. Für mich stand dies jedoch völlig außer Frage, denn Blinde verliebten sich so, wie ich es in diesem Black Room getan hatte. Durch tasten, hören, fühlen und riechen.

Es war wundervoll, eine total neue und aufregende Erfahrung, der ich ausgesetzt wurde. Ich würde sie nie vergessen, obwohl ich Sienna eines Tages wieder aus der Dunkelheit zurück ins Licht wandern lassen musste.

Aber in jenen Stunden, die wir zusammen verbrachten, gab sie mir Hoffnung, Liebe, Leidenschaft, aber auch die Gewissheit, dass ich für immer alleine bleiben würde. Gott wollte es so. Nelly wurde auf grausame Art und Weise aus dem Leben gerissen, um mir bewusst zu machen, dass ich nicht für eine Beziehung geschaffen war.

Aber nun hatte ich Sienna, die mich die trostlose Einsamkeit, welche mich in regelmäßigen Abständen heimsuchte, immer mehr vergessen ließ. Ich lebte für diese Stunden an den Wochenenden und gerade heute wollte ich die Zeit richtig auskosten, zumal mir eine anstrengende Woche bevorstand.

Da die Priesterweihen immer näher rückten, wurden einige Vorbereitungen notwendig. Da diese neben dem Studium erledigt werden mussten, sah ich einigen stressreichen Tagen entgegen. Doch am heutigen Sonntagabend ließ ich diesen Ballast nicht an mich herankommen. Schließlich hielt ich gerade die wunderbarste Frau der Welt in meinen Armen, in die sie perfekt hineinpasste. So, als ob sie dafür gemacht sei.

„Geht es dir gut, Baby?", fragte ich, da Sienna noch kein weiteres Wort gesprochen hatte.

„Ja, wenn ich bei dir bin, tut es das immer", antwortete sie sogleich, mit ihrer Stimme, die wie Musik in meinem Ohren klang und sie sich in meinem Herzen festsetzte.

Ihre schlanken Arme umfassten meinen Körper und ihr Kopf lehnte an meiner Schulter.

„Möchtest du, dass ich dich zur Matratze bringe?", wisperte ich leise.

„Ja, das wäre schön", kam es zurück.

Eine Frau zu tragen, für die ich etwas empfand, fühlte sich großartig an. Vorsichtig schritt ich durch die Dunkelheit, setzte einen Fuß vor den anderen, bis ich den leichten Widerstand spürte, welcher den Beginn der Spielwiese ankündigte. Langsam sank ich auf die Knie, Sienna immer noch in meinen Armen haltend, die mir blind vertraute. Es machte mich glücklich, sie auf diese Art verwöhnen zu dürfen.

Mein Herz raste, als wir kurze Zeit später auf dem bequemen Untergrund lagen und uns küssten. Ihre Lippen und ihr Körper waren pure Versuchung, der ich niemals widerstehen konnte, so lange sie bereit war, sich mir hinzugeben.

Längst hatten wir unsere Unterwäsche abgelegt und spürten die erhitzte Haut des anderen. Sanft umfassten meine Lippen eine ihrer Brustwarzen und als ich meine Zunge einsetzte, stöhnte Sienna kurz auf. Ein wohliger Schauer durchfuhr mein Innerstes, als sie diesen Laut von sich gab. Es machte mich total an, ihr solche Töne entlocken zu können und zu spüren, wie ihr Körper darauf reagierte. Mein Knie zwischen ihren Schenkeln ließ mich wissen, dass sie für alles bereit war.

„Fionn", stöhnte sie leise, während meine Hände weiter nach unten wanderten.

„Ja, Baby?"

„Lass mich nicht warten. Bitte."

Das letzte Wort kam nur noch als ein heiseres Keuchen hervor, welches mir die Gewissheit verschaffte, dass keine Zeit mehr zu verlieren war. Gleich würde Sienna mir gehören. Der unvergleichliche Rhythmus, in welchem wir beide versanken, kaum, dass ich in sie eingedrungen war, ließ mich fast zerbersten. Diese Frau brachte das Beste aus mir hervor und ich war immer wieder bereit, es ich zu geben.

Obwohl eine gewisse Vertrautheit zwischen uns herrschte, fühlte es sich trotzdem jedes Mal aufregend an, wenn der Punkt der Erlösung nahte.

„Sienna", keuchte ich leise, worauf ein letztes Aufbäumen ihres Körpers erfolgte, bevor sie sich an mich klammerte und ich spürte, wie ihre Energie sich buchstäblich um mich herum entlud.

Völlig ausgepumpt und noch immer heftig atmend lagen wir kurze Zeit später unter der Decke, welche ich über uns geworfen hatte. Diese lag stets rechts neben der Kiste, ich brauchte nur meinen Arm auszustrecken und danach zu greifen.

Ich genoss es immer, nach dem Sex auf diese Weise mit Sienna zusammen zu sein, denn das Kuscheln löste solch eine große Vertrautheit zwischen uns aus, wie ich sie noch niemals hatte spüren dürfen. Es würde mir fehlen, sollte es einmal zu Ende gehen.

Mit geschlossenen Augen nahm ich den Duft ihres Haars auf, welches nach sommerlichen Blüten roch. Inzwischen hatte sie ihren Kopf auf meine Brust gebettet, die sie nur zu gerne als Kissen nutzte. Es ließ mich immerzu schmunzeln, denn es sagte aus, wie wohl sich Sienna in meiner Gegenwart fühlte.

„Fionn?"

„Ja?"

„Kannst du mir einen Tipp geben, was ich Harvey zum Geburtstag schenken soll?"

„Wer ist Harvey?"

„Der Lebensgefährte meines großen Bruders Seth."

„Dein Bruder ist schwul?"

„Ja, ist er und ich weiß auch, dass die katholische Kirche so etwas nicht gerne sieht."

„Also mir ist das egal, wir leben doch nicht mehr im Mittelalter", gab ich lässig zur Antwort, um dann zu fragen: „Hat Harvey irgendwelche Hobbies?"

„Kochen und backen, er ist Konditor von Beruf und zaubert Torten, von denen du nur träumen kannst. Aber ich habe ihm bereits zu Weihnachten ein irisches Kochbuch geschenkt, also fällt das aus."

Prompt musste ich lachen. „Wieso ausgerechnet ein Irisches?"

„Weil ich wusste, dass er so eines noch nicht in seine Sammlung hatte", entgegnete Sienna.

„Und ich dachte schon, du wolltest mich mal zum Essen einladen", scherzte ich, worauf sie mich kurz in die Seite zwickte.

Sanft glitten meine Finger durch ihr langes, weiches Haar, als ich sagte: „Vielleicht braucht er noch Handwerkszeug für die Küche."

„Hm, das ist eine gute Idee, ich werde Seth danach fragen."

„Tu das." Ich platzierte einen Kuss auf ihre Stirn und als Siennas Lippen über meinen Brustkorb wanderten, spürte ich erneut diese große Vertrautheit zwischen uns. Sie hatte sich in nur wenigen Wochen aufgebaut.

„Was machst du in den kommenden Tagen, Fionn? Erzähle mir ein bisschen was aus dem Leben eines angehenden Priesters", flüsterte sie leise.

„Es ist nicht so interessant, wie du vielleicht glaubst. Also morgen werde ich, wie übermorgen und überübermorgen auch, studieren gehen."

„Und danach?"

„Du meinst, wenn ich am Abend zuhause bin?"

„Ja."

„Da lerne ich für die letzten Prüfungen."

„Welche Fächer?"

„Hebräisch zum Beispiel."

„Du kannst Hebräisch lesen und schreiben?"

„Ja, als Priester wird so etwas verlangt", klärte ich sie auf.

„Dann bist du also richtig schlau."

„Nein, nur fleißig. Es ist mühevoll, es zu lernen, weil es eine sehr schwierige Sprache ist, die zudem noch verkehrt herum gelesen wird."

„Ach du lieber Gott, das hört sich kompliziert an."

„Eine Predigt zu schreiben ist auch nicht gerade leicht", seufzte ich und dachte daran, dass ich am Donnerstag noch eine solche ausarbeiten musste, um sie unserem Priester in der Kirche vorzulegen.

„Ich werde den halben Donnerstag damit beschäftigt sein, die Predigt zu erstellen", setzte ich noch hinzu.

„Ok, und wie sieht dein Freitag aus, bevor wir uns im Black Room treffen?", wollte Sienna wissen.

„An diesem Freitag habe ich sogar etwas Besonderes auf meinem Programm stehen", gab ich bereitwillig Auskunft. „Wir müssen alle zur Gewandanprobe antreten und außerdem für die Priesterweihe üben, damit nichts schief geht."

„Und wo findet das statt?"

„In einer Kirche natürlich. Aber erst am frühen Abend. Vorher besuche ich die Frühmesse, lerne und jogge vermutlich eine große Runde."

„Dann ist deine Zeit also gut ausgefüllt", stellte Sienna fest.

Vermutlich grinste sie gerade, zumindest hörte sich ihre Tonlage danach an.

„Und wie sieht dein Zeitplan aus, Sienna?", fragte ich in die Dunkelheit hinein.

„Ich arbeite jeden Tag bis um halb sieben, manchmal auch länger, nur freitags mache ich um sechs Uhr Schluss. Abends liege ich gerne in meiner Badewanne."

„Alleine?"

„Nein, mit einem Glas Sekt oder Wein."

Ihr Humor brachte mich wie so oft zum Lachen.

„Ich dachte schon mit Wotan", zog ich sie auf, was ihr nun ein Kichern entlockte.

„Der würde nicht hineinpassen, du schon."

„Falls das eine Einladung zum gemeinsamen Baden sein sollte, muss ich diese leider ablehnen", flüstert ich ihr ins Ohr.

„Ich weiß", kam es beinahe melancholisch zurück.

Sie sehnte sich genau wie ich nach einem Menschen zum Anlehnen, das konnte ich deutlich heraushören. Vielleicht entsprach das Gerede ihre Unabhängigkeit betreffend, doch nicht so ganz der Wahrheit.

„Sienna", flüsterte ich, weiter kam ich nicht, denn ihre Lippen legten sich sofort auf meine. Augenblicklich versanken wir in einem leidenschaftlichen Kuss, der jedoch durch das Summen unterbrochen wurde, welches das Ende unserer Stunde ankündigte.

Seufzend lösten wir uns voneinander, ich schlug die Decke zurück, und hörte, wie Sienna sich bewegte.

„Was wolltest du denn sagen, Fionn?", wisperte sie sanft.

Ich tastete nach ihrer Hand, die ich nach zwei Versuchen zu fassen bekam.

„Ich wünschte unsere Ewigkeit würde nie vergehen", sagte ich leise.

Der zärtliche Druck ihrer Finger ließ mich spüren, dass sie es wohl in diesem Moment ebenso sah. „Sie wird andauern, bis in alle Ewigkeit, Fionn."

„Das hoffe ich."

Zum Abschied küsste hauchte ich einen Kuss auf ihre Lippen.

„Bis Freitag, Sienna."

„Bis Freitag, Fionn."

Die nächsten Tage gestaltete sich alles andere als entspannt. Neben dem anstrengenden Studium musste ich viermal wöchentlich in der Kirche meinen Dienst verrichten. Zwischendurch arbeitete ich an meiner Predigt, die ich jedoch erst vor einer Gemeinde vortragen durfte, nachdem die Priesterweihe vollzogen war. Insgesamt schrieb ich das Manuskript am Donnerstagabend viermal um. Schließlich sollte es für den morgigen Tag perfekt sein, denn unser Priester verstand in dieser Hinsicht keinen Spaß.

Den Titel des schlimmsten Tages der Woche konnte der Freitag ohne Probleme für sich beanspruchen. Ich durfte die Frühmesse beim Priesterseminar vorbereiten, was das Aufstehen mitten in der Nacht unerlässlich machte, da ich vorher noch joggen wollte.

Mein Elan hielt sich in Grenzen, als der Wecker um halb fünf ankündigte, dass die Nacht für mich nun vorbei sei. Gähnend reckte ich mich im Bett, stand jedoch relativ schnell auf und streifte die Laufklamotten über. Zum Glück regnete es nicht, aber die Kälte fühlte sich unangenehm an und kroch bis in meine Glieder.

Dies besserte sich erst, nachdem ich einige Zeit mit dem Joggen verbracht hatte. Langsam bildeten sich sogar kleine Schweißperlen auf meiner Stirn. Wann hatte ich zum letzten Mal derart geschwitzt? Die Antwort darauf lag klar auf der Hand: Vergangenen Sonntag im Black Room.

Mit einem Grinsen auf den Lippen wanderten meine Gedanken sofort zu Sienna. Nachher würde ich sie endlich wieder treffen und ihr das geben, was sie verdiente. Pure Leidenschaft, wohldosiert mit einem Schuss Liebe, denn sie sollte nicht spüren, wie viel sie mir wirklich bedeutete. Das würde unsere lockere Beziehung, die wir im Swinger Club auslebten, nämlich kompliziert werden lassen.

Sie war eine wundervolle Frau, die jeglichen Respekt verdiente. Ich verurteilte sie auch keineswegs für ihre Einstellung, einen Swinger Club aufzusuchen, denn ich war nicht besser als sie, was diese Sache anging. Wenn man es genau betrachtete, beging ich die schlimmere Sünde, was uns beide jedoch keine Gewissensbisse verursachte – zumindest nicht während der Ausführung. Und da ich jeden Samstag beichtete, wurde meine Seele immer wieder von dieser Last befreit.

Nach einer Stunde joggen traf ich wieder zuhause ein. Das Haar klebte an meinem Kopf und ich war vollständig durchgeschwitzt. Bevor ich mich der Kleidung entledigte, trank ich einen halben Liter Wasser, um den Flüssigkeitsverlust auszugleichen. Anschließend sprang ich unter die Dusche und genoss den warmen Wasserstrahl.

Nach wie vor geisterte Sienna durch meinen Kopf, selbst als ich das Frühstück zubereitete konnte ich meine Gedanken nicht abschalten. Heute war mir nach Rührei und Speck zumute, was vermutlich an der anstrengenden Joggingrunde lag. Dazu trank ich schwarzen Tee, mit Zitrone versetzt.

Ob Sienna das wohl auch mögen würde? Leider kam ich nie in den Genuss, zusammen mit ihr zu frühstücken, oder andere, alltägliche Dinge zu tun. Unsere Treffen blieben für alle Ewigkeit auf den Black Room beschränkt. Und ich hoffte von ganzem Herzen, dass diese Ewigkeit auch wirklich niemals ein Ende fand, obwohl es utopisch anmutete, so zu denken.

Irgendwann würde sie einen Typen außerhalb des Black Room treffen, in den sie sich verliebte. Einen, der sie ordentlich flach legte, so wie ich es im Moment tun durfte. Einen, den sie heiratete und mit dem sie Kinder haben würde. All das wollte ich früher mit Nelly tun, doch Gott sah es anders vor. Und ich fügte mich seinen Wünschen, auch wenn es hart war. Aber im Laufe der Zeit hatte ich gelernt, damit umzugehen.

Nelly besaß noch immer ein kleines Stück meines Herzens, das würde sich niemals ändern, doch ich hatte mittlerweile auch Platz für andere Dinge. Durch die zahlreichen Zweigespräche mit Gott lernte ich, dass der Glaube unendlich sein konnte, wenn man es nur zuließ. Manchmal jedoch stieß ich an Grenzen, so wie gerade mit Sienna.

Ich hatte Gefühle für sie, das musste ich anerkennen. Obwohl ich wusste, dass ich sie eines Tages wieder verlieren würde, ließ ich es zu, dass sie einen Teil meines Herzens einnahm. Sie eines Tages loszulassen würde qualvolle Schmerzen in meiner Seele verursachen, doch ich würde es überleben. Und bis dahin genoss ich jede Sekunde mit ihr.

Mit einem Seufzen sah ich mich kurz in der Küche um und begann den Tisch zu decken. Nachher würde Trudy vorbeischauen, um das Haus zu putzen. Ich hatte die nette, ältere Dame quasi von meinem Patenonkel geerbt, denn sie war früher hier schon tätig gewesen. Als mein Patenonkel starb, sah ich keine Veranlassung, Trudy zu kündigen, denn ich war nicht unbedingt scharf darauf, das Haus jede Woche auf Hochglanz zu bringen. Nach wie vor besaß Trudy einen Schlüssel, denn ich konnte ihr wirklich vertrauen. Sie würde eher noch Geld dazulegen, als etwas mitgehen zu lassen.

Nachdem ich das Frühstück beendet hatte, machte ich mich auf den Weg zum Priesterseminar, um pünktlich die Vorbereitungen für die Frühmesse abschließen zu können. Es war das letzte Mal, dass ich dies erledigen durfte, denn vor meiner Weihe zum Priester kam ich nicht mehr an die Reihe, da wir diese Aufgabe immer im Wechsel verrichteten. Mittlerweile stellten diese Dinge für mich eine Routineangelegenheit dar, so oft hatte ich sie schon hinter mich gebracht.

Thomas hatte das alles noch vor sich und ich hoffte, dass er seine Nervosität irgendwann in den Griff bekam. Ständig Messwein vor der Kirche zu trinken war schließlich auch nicht das Wahre. Zum Glück besaß ich ein stärkeres Nervenkostüm als unser Frischling und zudem noch Erfahrung mit Frauen. Dinge, die er erst noch lernen musste, es sei denn, er wollte zu den dreißig Prozent gehören, die wirklich nach dem Keuschheitsgelübde lebten; etwas, was ich mir für mich persönlich niemals vorstellen konnte. Vielleicht wenn ich achtzig war und keinen mehr hoch bekam, aber keinesfalls jetzt.

Die Frühmesse war wie immer gut besucht, viel besser als die sonntägliche in der Kirchengemeinde, welcher ich als Akolyth zugeteilt worden war, was jedoch nicht verwunderte, da es sich hier um Theologiestudenten handelte. Der größte Teil der Studierenden lebte in einer Einrichtung, in deren Nähe die Messe zelebriert wurde. Lediglich diejenigen, die demnächst die Priesterweihe empfangen würden, wohnten außerhalb, in den eigenen vier Wänden.

Da ich alles zur vollsten Zufriedenheit erledigte, kamen keine Klagen, sondern ein Lob von unserem Priester, der die Messe abhielt.

„Fionn, du hast deine Sache sehr gut gemacht. Wir werden dich hier vermissen, aber die Kirchengemeinde, der du als Priester dienen wirst, kann sich glücklich schätzen", meinte er abschließend, was mich zu einem Lächeln animierte.

Nachdem ich das liturgische Gewand ausgezogen und mich von allen verabschiedet hatte, suchte ich zunächst die Bibliothek auf, bevor ich auf direktem Weg nach Hause fuhr, wo Trudy bereits mit dem Staubsauger zugange war. Diesen stellte sie allerdings kurzzeitig aus, als sie mich erblickte.

„Hey, Trudy, geht es dir gut?", rief ich ihr zu und hängte meine Jacke an der Garderobe auf.

„Ja, und dir, Fionn?"

„Alles Bestens."

„Wann ist es denn soweit?"

Ich wusste genau, was sie damit meinte und antwortete schmunzelnd: „Nächsten Monat, am neunzehnten März, um genau zu sein."

Trudy strahlte über das ganze Gesicht.

„Dein Onkel wäre stolz auf dich, Fionn."

„Ich weiß."

Als Trudy den Staubsauger wieder in Betrieb nahm, suchte ich das Obergeschoss auf, in welchem sich mein Arbeitszimmer befand und vertiefte mich dort in meine Bücher. Hebräisch war eine furchtbare Sprache, doch ich musste sie beherrschen und deswegen lernte ich, was das Zeug hielt. Da Trudy sich immer von oben nach unten durcharbeitete, wusste ich, dass sie mich heute nicht mehr stören würde. Sie verabschiedete sich lediglich von mir, nachdem sie ihre Arbeit beendet hatte und wünschte mir ein schönes Wochenende.

„Danke, das werde ich haben", antwortete ich, sprach jedoch den weiteren Gedanken nicht aus. „Im Swinger Club mit einer Frau."

Konzentriert lernte ich bis zum späten Nachmittag und überflog nochmals die Predigt, welche ich heute zur Probe vortragen musste. Allen anderen blühte das gleiche Schicksal, somit war ich nicht der Einzige, der sich blamieren konnte.

Nach dem Genuss von Trudys Eintopf, den sie freitags immer mitbrachte (dies war noch eine Tradition aus der Zeit als mein Patenonkel noch lebte), und der wirklich köstlich schmeckte, machte ich mich erneut auf den Weg, um meinen Pflichten nachzukommen.

Am frühen Abend begannen nämlich die Gewandprobe, sowie die Übungszeremonie der Priesterweihe, in einer Kirche, im Stadtteil Waltham Forrest. Wenn ich es geschickt anstellte und einen auf überarbeitet machte, würde Sienna nachher sicher von alleine auf den Gedanken kommen, einen Blowjob auszuführen, den ich wirklich dringend benötigte, um entspannen zu können.

In mich hineingrinsend stieg ich in den Bentley und reihte mich im Verkehr ein. Ich benötigte fast vierzig Minuten bis nach Waltham Forrest und war froh, dass ich einen Parkplatz fand, der nicht allzu weit von der Kirche entfernt lag, zu welcher mich meine Schritte nun führten.

Binnen zehn Minuten waren alle vollzählig erschienen, womit das Spektakel beginnen konnte. Zunächst probierten wir die Gewänder an und als jeder ein passendes gefunden hatte, durften wir unser Predigten vortragen. Da ich gleich als Dritter an der Reihe war, der seine Sache wohl recht gut machte, wurde es anschließend ziemlich langweilig für mich. Insgesamt musste ich mir noch vierzehn Predigten anhören, wobei manche zum Teil völlig ungenügend waren. Dies stellte auch unser Priester fest, der den jeweiligen Studenten den entsprechenden Rüffel erteilte.

„Wir machen jetzt eine Pause von zehn Minuten", ließ der Priester uns nach der zehnten Predigt wissen, was ein erleichtertes Aufatmen meinerseits bewirkte.

Endlich konnte ich draußen eine Zigarette rauchen und da ich nicht der Einzige war, der diesem Laster frönte, liefen wir zu viert aus der Kirche und zündeten sofort die Glimmstängel an, kaum dass wir uns außerhalb des Gebäudes befanden.

„Ich dachte schon, wir machen nie eine Pause und mein Nikotinspiegel lässt mich ins Koma fallen", stöhnte ich, worauf die anderen drei lachten.

„Das ging mir genauso", meinte Jack, den alle nur den heiligen Jakob nannten, natürlich um ihn zu ärgern. Auch Theologiestudenten konnten gemein sein.

Nach dem Genuss einer Zigarette gingen meine drei Mitstreiter zurück in die Kirche. Ich jedoch blieb noch draußen, um kurz nach dem Bentley zu schauen, da die Straße, in welcher ich geparkt hatte, bereits zum Stadtteil Hackney gehörte, der bekanntlich nicht zur besten Gegend Londons zählte.

Mit dem Priestergewand bekleidet, eilte ich über den Asphalt, um mein Auto Gott sei Dank unversehrt vorzufinden. Bevor ich den Rückweg antrat, zündete ich mir noch eine Zigarette an, doch was dann geschah, hätte ich mir in den kühnsten Träumen nicht vorgestellt.

Laute Stimmen durchbrachen die Dunkelheit, als ich einen tiefen Zug von der Zigarette nahm. Es hörte sich an wie ein Streit, der zu eskalieren drohte, denn aus den Worten wurden Schreie, deren Geräuschpegel immer weiter anschwoll.

Mein Herz pochte schneller, als ich aufsah und die Zigarette achtlos auf die Straße schnickte, während ich mich vorsichtig den beiden Männern näherte. Diese standen in einer dunklen Einfahrt, die jedoch zur Hälfte durch die Beleuchtung einer Straßenlaterne erhellt wurde.

Als ich mich weiter heranpirschte, konnte ich das Gesicht eines schwarzhaarigen Mannes, mit leicht gebräuntem Teint, deutlich ausmachen. Quer über der rechten Wange verlief eine dicke Narbe, welche sich fast bis zum Kinn hinzog. Dunkelbraune, eiskalte Augen blitzen im Schimmer der Laterne auf. Diese Augen waren bereit zu morden, das erkannte dies deutlich.

Ebenso verstand ich die Worte, die scharf und unbarmherzig ausgestoßen wurden. Sie jagten einen Schauer über meinen Rücken, als ich darauf achtete, nicht über die herumliegenden Müllsäcke zu stolpern, während die Stimmen immer lauter wurden. Sekunden später blitzte eine Pistole im Schein der Laterne auf, Schüsse ertönten und ich ging zu Boden.

Zwei Schüsse, die alles veränderten.

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