48. Missing

♪ Rainbow in the dark – Dio


Louis

Alle Augen waren auf mich gerichtet. Jeder erwartete eine Erklärung, die ich jedoch zum jetzigen Zeitpunkt nicht geben konnte, weil mir das Hintergrundmaterial fehlte.

„Hört zu", sagte ich, bevor die anderen zu sprechen beginnen konnten. „Ich werde zunächst mit Mark telefonieren und dann sehen wir weiter."

Stille herrschte ihm Raum, als ich erneut nach meinem Handy griff, um unseren Verbündeten in Süd Kalifornien zu kontaktieren. Sein Hotel, das San Guiliano, diente als Dreh- und Angelpunkt für alle unsere Netzwerkmitarbeiter und Anuun hätte dort bereits vor drei Tagen aufkreuzen sollen.

Als das Freizeichen ertönte, nahm er auch schon den Anruf entgegen. Da ich mein Handy in den Lautsprechermodus gestellt hatte, konnten alle mithören, auch Niall und Sienna. Ich hielt es für wichtig, sie nicht außen vor zu lassen, denn immerhin ging es um ihre Leben und um ihre Sicherheit.

„Hallo Mark, ich bin's. Alistair hat mich gerade angerufen. Sag mir bitte genau, was passiert ist."

„Hallo Louis, die Sache verhält sich folgendermaßen", begann er, „Anuun sollte vor drei Tagen hier sein. Er wurde zuletzt in El Paso, Texas gesehen. Dort arbeitete er mit Alfredo zusammen. Die beiden waren auf einer heißen Spur, die jedoch in zwei mögliche Richtungen verlief. Sie trennten sich und während Alfredo hierher zurückkehrte, fehlt von Anuun jede Spur."

„Das ist ungewöhnlich. Und er hat sich bei keinem von euch zwischendurch gemeldet?"

„Nein, leider nicht. Alfredo sagte, dass er in Richtung New Mexico unterwegs gewesen wäre, um anschließend nach Süd Kalifornien zu kommen. Wir wollten uns alle im Hotel treffen und die Lage bzw. die neuesten Erkenntnisse besprechen."

Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Normalerweise war auf Anuun immer Verlass. Er zählte seit Anbeginn zu unserem Netzwerk und seine Loyalität war unbestritten. Alistair kannte ihn seit Jahrzehnten und hielt große Stücke auf ihn, genau wie ich.

„Das klingt alles sehr merkwürdig, Mark", stellte ich fest.

„Ja, und wir wissen nicht, woran wir sind, denn er meldet sich nicht, egal auf welchem Weg wir versuchen, ihn zu erreichen. Er geht weder ans Telefon, noch liest er seine Whatsapp Nachrichten oder beantwortet die E-Mails. Es scheint, als sei er vom Erdborden verschluckt."

Für einen Moment schloss ich meine Augen, atmete tief durch und sagte dann: „Es gibt genau zwei Möglichkeiten, warum ein Netzwerkmitarbeiter nicht mehr auffindbar ist und diese kennst du so gut wie ich."

„Allerdings", erwiderte Mark, dessen Stimme ziemlich belegt klang. „Entweder er hat die Seiten gewechselt oder er ist tot."

„Um ehrlich zu sein, wünsche ich mir beides nicht", seufzte ich, um mich anschließend mit den Worten „Wer zuerst etwas herausfindet meldet sich", verabschiedete.

Das Schweigen im Raum verbreitete eine bedrückende Atmosphäre. Niemand wollte wahrhaben, was wir gerade gehört hatten und doch entsprach es der Realität.

Liam räusperte sich kurz, bevor er als Erster zu sprechen begann.

„Im Klartext hieße das, wir sind am Arsch, wenn Anuun übergelaufen sein sollte."

Leicht schüttelte ich meinen Kopf. „Ich denke nicht, dass er dies getan hat. Denn wenn dem so wäre, würde die Mafia schon längst hier sein. Drei Tage sind eine verdammt lange Zeit, welche die Burschen auf jeden Fall genutzt hätten."

Der Reihe nach blickte ich in die Gesichter meiner Freunde. Liam wurde still und dachte nach, Eleanor wirkte fassungslos und Briana schluckte leicht. Sienna war leichenblass, aber ausgerechnet Niall richtete die nahezu logische Frage an mich.

„Dann denkst du also, dass sie Anuun umgebracht haben?"

Erneut herrschte Stille im Raum und wieder musste ich antworten.

„Es gibt noch eine dritte Möglichkeit, aber die ist genauso beschissen. Sie haben ihn gefangengenommen, verhören ihn und bringen ihn später um."

Diese Aussage verfehlte ihre Wirkung nicht, denn Sienna begann urplötzlich zu weinen. Sie tat mir so unglaublich leid, doch ich dachte ebenso an Aki, Anuuns Tochter. Irgendjemand musste es ihr sagen und dieser Jemand war ich.

„Hört zu, ich werde jetzt schnell zu Aki fahren, um ihre diese schlechte Nachricht zu überbringen. Liam und Eleanor, ich haltet euch auf alle Fälle bereits, falls Neuigkeiten per E-Mail eintreffen sollten. Niall und Sienna, macht euch nicht zu viele Sorgen, denn wie gesagt, ich glaube nicht, dass er uns verraten hat."

Mein letzter Blick ging zu Briana. „Bitte checke im Internet die Gegend, in der Anuun sich zuletzt herumgetrieben hat. Nach Flughäfen, Bahnhöfen aber auch Besonderheiten."

„Ok, werde ich machen", versprach sie.

Briana war ein Ass, was diese Dinge anging und ich konnte mich hundertprozentig auf sie verlassen. Zum Glück schliefen die Kinder schon, sodass sie frei arbeiten konnte.

„Bis später", verabschiedete ich mich, bevor ich mit schnellen Schritten aus dem Haus lief und quasi im Vorbeigehen Boots und Parka anzog.

Mir grauste davor, Aki solch eine Nachricht zu überbringen. Auch wenn sie wusste, wie gefährlich der Job ihres Vaters war, so würde sie sein plötzliches Verschwinden trotzdem sehr hart treffen. Die beiden hatten ein super Verhältnis, ich konnte es oft genug selbst beobachten, wie liebevoll sie miteinander umgingen.

Ohne Zeit zu verlieren, stieg ich auf eines der Quads und machte mich auf direktem Weg zu Akis kleinem Haus, welches in Barrow, nicht weit entfernt von ihrer Arbeitsstätte stand.

Als ich das Quad auf dem Parkplatz, neben ihrem Wagen abstellte, sah ich, dass noch Licht brannte. Schnell stieg ich von meinem fahrbaren Untersatz, lief zur Tür und betätigte die Klingel. Nach kurzer Zeit öffnete Aki die Pforten. Ihr Blick, als sie mich sah, wirkte mehr als nur erstaunt.

„Louis? Was machst du denn hier? Wir hatten doch heute kein Date, oder?"

Nervös kratzte ich mich am Hinterkopf.

„Ähm, nein. Darf ich trotzdem reinkommen?"

Sie grinste, drückte mir einen Kuss auf die Wange und trat zur Seite, damit ich an ihr vorbeigehen konnte. Bevor ich das Wohnzimmer betrat, zog ich die Boots und den Parka aus.

„Hm, das sieht danach aus, als ob du länger bleiben möchtest. Soll ich uns einen Tee kochen?", fragte sie schmunzelnd.

„Ja- nein – ich weiß nicht", antwortete ich zerstreut, sodass sie ihre schwarzen Augenbrauen ein wenig in die Höhe zog.

„Ist irgendetwas passiert?"

Als ich nickte, spürte ich ihren Blick auf mir, der forschend über mein Gesicht glitt.

Noch niemals war mir etwas so schwergefallen, denn ich mochte sowohl Aki, als auch Anuun.

„Setz dich erstmal", erwiderte ich ausweichend und drängte sie zu der gemütlichen Couch, die gegenüber dem Kamin stand.

Als ich ihre Hand nahm, spürte ich die warme Welle in mir, die mich stets erfasste, wenn ich Aki berührte. Seit Monaten gingen wir miteinander aus oder trafen uns bei ihr zuhause. Jedoch sperrte sich etwas in mir, sie als Bettgeschichte zu missbrauchen. Eines Tages würde ich aus Barrow weggehen und Aki würde bleiben. Es gab keine gemeinsame Zukunft für uns beide. Doch ich wollte ihr ein guter Freund sein, jemand, der in einer dunklen Stunde für sie da war. Und genau diese Zeit war jetzt gekommen.

„Aki, es tut mir leid, aber dein Vater wird seit Tagen vermisst."

Nun hatte ich es ausgesprochen. Wie zu erwarten, schluckte sie, während ihre hübschen Augen sich mit Tränen füllten. Diese benetzten ihre Wangen und tropften letztendlich auf meine Hand.

„Ich habe immer gewusst, dass das eines Tages passieren wird", flüsterte sie. „Er wird nicht mehr zurückkommen, das fühle ich."

„Aki, vielleicht lebt er noch."

„Gib dir keine Mühe, Louis. Wenn die Mafia ihn in ihre Fänge bekommt, töten sie ihn."

Obwohl sie so gefasst klang, spürte ich, wie sehr ihr diese Nachricht zusetzte. Auch ich hatte wenig Hoffnung, dass wir Anuun jemals wieder lebend sehen würden. Alleine der Gedanke daran, brach mir das Herz. Wir waren enge Freunde geworden, die sich blind verstanden, in jeder Beziehung.

„Louis?"

Bevor ich ihr antworten konnte, meldete sich mein Handy. Es war Liam, der versuchte, mich zu erreichen.

„Was gibt es?", meldete ich mich knapp.

„Wir haben gerade eine Meldung hereinbekommen. In der Gegend um El Paso wurde eine männliche Leiche gefunden. Alter und Aussehen könnte stimmen, was Anuun angeht."

Liams Stimme klang belegt.

„Ok", stieß ich aus, Aki nicht aus den Augen lassend.

„Er hatte keine Papiere bei sich, deswegen wäre es hilfreich, wenn jemand hinfliegt, um ihn zu identifizieren."

Ich hatte es geahnt. Schmerzhaft zogen sich meine Eingeweide zusammen, als ich daran dachte, was ich Aki nun antun musste. Dieser Gang würde der schwerste ihres Lebens werden.

„Ich werde mich darum kümmern, Liam", antwortete ich, „ist das Zeug per Mail gekommen? Wenn ja, leite es an mich weiter."

„Das habe ich bereits."

Nachdem ich das Gespräch beendet hatte, schaute ich in Akis braune Augen. Obwohl Tränen darin standen, wirkte sie auf eine merkwürdige Art und Weise gefasst, beinahe sogar schon stolz. Eine Gabe, welche nur die Inuit besaßen und die ich sehr bewunderte.

„Aki, man hat eine Leiche gefunden, unweit des Ortes, an dem dein Vater zum letzten Mal gesehen wurde. Der Mann trug keine Papiere bei sich, jemand muss ihn identifizieren."

Ich sagte es geradeheraus, denn jetzt noch um den heißen Brei reden, brachte absolut nichts.

Sie nickte nur, wischte sich kurz die Tränen aus den Augen, um dann zu murmeln: „Ich rufe jetzt meinen Bruder an. Er soll ebenfalls dorthin kommen."

Schnell öffnete ich meine E-Mails, damit ich alles sofort parat hatte.

Das Gespräch zwischen Aki und ihrem Bruder Desna dauerte nur wenige Minuten und es verdeutlichte, wie eng auch die Geschwister miteinander waren.

„Louis, wann fliegen wir?", fragte sie zwischendurch.

„Am liebsten sofort, ich muss aber erst jemanden auftreiben, der uns nach Anchorage bringt. Von dort aus geht es direkt nach El Paso. Ich werde einen Privatjet ordern."

„Kann Desna mit uns fliegen?"

„Natürlich."

Wir hatten die Freigabe von Alistair bekommen, Privatjets zu nutzen, wenn Dinge, die nicht aufgeschoben werden konnten, auftraten. Dies nutzte ich nun zu unserem Vorteil.

„Ich kümmere mich gleich um jemanden, der uns nach Anchorage fliegt", ließ ich Aki wissen.

Inzwischen hatte ich überall in Barrow hervorragende und vor allem nützliche Kontakte geknüpft, sodass es mir keiner Schwierigkeiten bereitete, einen Piloten aufzutreiben, der sich sofort dazu bereit erklärte, uns nach Anchorage zu befördern. Natürlich mit einem Wasserflugzeug, wie es für Alaska nicht unüblich war.

Ich wartete, bis Aki reisefertig war und nahm sie dann kurz mit zu uns, um meinen Dienstausweis mitzunehmen.

Anschließend fuhr Eleanor uns zum Flughafen. Während der kurzen Fahrt sprachen wir kein Wort, jeder von uns war in seine Gedanken versunken. Erst als wir ausstiegen, umarmte sie zuerst mich und dann Aki.

„Passt gut auf euch beide auf", gab sie uns mit auf den Weg.

„Das werden wir."

Ohne darüber nachzudenken, fasste ich nach Akis Hand und zog sie mit mir. Unser Pilot, ein stämmiger Inuit mit dem Namen Chu, der übersetzt Bieber bedeutete, und den ich bei einer Kneipentour mit Anuun kennengelernt hatte, wartete bereits auf uns. Auch Aki kannte den Mann, schließlich wohnte er in Barrow.

Chu stellte keine Fragen, sondern führte uns zu seinem Flugzeug, welches umgehend startete. Normalerweise beeindruckten mich die Polarlichter immer, doch am heutigen Abend gingen sie in meinen trüben Gedanken unter. Noch niemals hatte ich mich so schlecht gefühlt und doch musste ich einen kühlen Kopf bewahren, egal, wie die Sache ausging.

In Anchorage angekommen, setzte sich Aki mit ihrem Bruder in Verbindung, der sich wenige Minuten später zu uns gesellte. Nach einer kurzen Begrüßung marschierten wir in Richtung des Privatjets, der bereits für uns bereit stand. Somit verzögerte sich unsere Reise nicht unnötig. Ich verspürte weder Durst noch Hunger, selbst mein Schlafbedürfnis wurde erfolgreich durch meine mentale Anspannung unterdrückt. Schnell belegten wir die Plätze in dem komfortablen Transportmittel, dessen inneres Ambiente sich deutlich angenehmer als das des Wasserflugzeugs gestaltete. Auch die Geräuschkulisse war um ein Vielfaches erträglicher, doch heute war mir selbst das egal.

Anuun lag vermutlich tot auf einem Tisch der Gerichtsmedizin in El Paso, dennoch keimte ein kleines Fünkchen Hoffnung in mir auf. Vielleicht wendete sich doch noch alles zum Guten. In erster Linie wünschte ich mir dies für Aki, in zweiter Linie für unser Netzwerk. Anuun zählte zu den wichtigsten Mitarbeitern, wenn er nicht mehr da sein würde, bedeutete dies, eine große Lücke in unserem Gebilde.

Innerlich seufzend drehte ich den Kopf kurz zur Seite, um nach Aki zu schauen. Sie schien eingeschlafen zu sein, denn ihre Augen waren geschlossen und ihre Atemzüge gleichmäßig. Jedenfalls deutete ihr Brustkorb, der sich hob und senkte, dies an. Auch Desna wirkte müde. Er hatte eine Zwölf-Stunden-Schicht im Krankenhaus hinter sich und wollte gerade schlafen gehen, als Aki ihn erreichte. Für beide war dies ein Horrortag schlechthin. Mit dieser Ungewissheit klarzukommen, ob der eigene Vater nun der Mafia zum Opfer gefallen war oder nicht, gehörte wohl zu den schlimmsten Dingen, die ein Mensch nur durchmachen konnte.

Nachher würden wir hoffentlich mehr wissen. Wenn es sich nicht um Anuun handelte, lebte die Ungewissheit weiter. Und wenn er es war, dann würde die Trauer ewig in uns leben.

Ein kurzes Rütteln ließ mich wach werden. Demnach musste ich eingeschlafen sein, denn die Morgensonne knallte in das kleine Fenster des Privatjets, der auf einem Rollfeld stand. Wir waren wohl soeben in El Paso gelandet.

Auch Aki uns Desna räkelten sich in ihren Sitzen, scheinbar hatten wir alle drei die Landung verschlafen.

Nachdem wir uns abgeschnallt hatten, ließen wie die dicken Kleidungstücke im Flugzeug zurück. Der Jet würde uns nämlich wieder direkt nach Anchorage fliegen, sobald wir hier alles erledigt hatten.

Als ich über den Gangway nach draußen schritt, schlug mir ein Schwall warmer Luft entgegen. 28 Grad im Schatten hatte der Pilot vorhergesagt und diese würden wir heute Mittag ohne Probleme erreichen. Solche Temperaturen war ich nicht mehr gewöhnt, weswegen ich mich etwas unwohl fühlte. Da es Aki und Desna jedoch ähnlich erging, schnauften wir alle drei synchron.

Zum Glück stiegen wir in ein Taxi, dessen Klimaanlage hervorragende Arbeit leistete. Unser Ziel, das gerichtsmedizinische Institut, erreichten wir nach einer halben Stunde Fahrt. Währenddessen sprachen weder Aki, noch Desna ein Wort. Sie griff nur hin und wieder nach meiner Hand, welche ich sanft drückte, um sie wissen zu lassen, dass ich für sie da war.

Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch stieg ich aus dem Taxi. Drei Stufen führten zu dem Gebäude, in welchem sich die Gerichtsmedizin befand. Diese erklomm ich mit Aki an der Hand, Desna folgte uns auf den Fersen. Direkt am Eingang mussten wir uns ausweisen, was jedoch kein Problem darstellte, da man uns bereits angemeldet hatte.

Nachdem ich meinen Dienstausweis vorgezeigt hatte, ging alles relativ schnell. Man führte uns unmittelbar zu den Räumen, in denen die Obduktionen stattfanden. Sofort stieg der Geruch der Desinfektionsmittel in meine empfindliche Nase. Er war mir noch immer in Erinnerung geblieben, denn während meiner Ausbildung hatte ich solche zur Genüge besucht. Ich war abgehärtet, was diese Dinge betraf und doch bekam ich in dem Moment, als wir den kühlen Raum betraten, weiche Knie. Eine düstere Vorahnung erfüllte meine Seele.

Nach wie vor befand sich Akis Hand in meiner und sie ließ diese auch nicht los, als der Diensthabende Mediziner auf uns zukam.

„Sie sind die Angehörigen?"

Als Aki und Desna nickten, erwiderte ich: „Ich bin ein Freund und gleichzeitig Polizeibeamter."

„Ok." Er nickte. „Dann lassen Sie es uns angehen."

Der Moment, als der Arzt das weiße Tuch von dem Gesicht des leblosen Körpers zog, ging ein Stromschlag durch meine Eingeweide. Das Unfassbare war geschehen.

Anuun war tot.

Sein Gesicht sah leichenblass, doch unversehrt aus. Seine Augen waren geschlossen und in jenem Moment wünschte ich mir, diese würden mich noch einmal anschauen.

Sein herzliches Lachen tauchte vor meinem inneren Auge auf. Ich sah, wie er auf seinem Motorschlitten saß, gleichzeitig befand ich mich in einer Kneipe mit ihm. Er baute Schneemännern mit den Kindern und trank Tee in unserer großen Küche.

All diese Erinnerungen tauchten binnen Sekunden in meinem Kopf auf und verschwanden ebenso schnell wieder, denn Akis lautes Schluchzen holte mich abrupt in die brutale Realität zurück.

Desna hatte seine Arme um ihren Körper geschlungen, auch er weinte. Es war grauenvoll mit anzusehen, wie sehr die beiden trauerten und doch gehörte ich irgendwie dazu. Blind streckte Aki ihre Hand nach mir aus, zog mich zu sich, als ich diese ergriff und flüsterte mit rauer Stimme: „Warum er, Louis? Warum?"

Die Antwort darauf würden wir niemals finden, warum ein guter Mensch wie Anuun sterben musste.

Ich wollte schreien, doch kein Laut kam über meine Lippen. Der Verlust eines guten Freundes tat unendlich weh. Er war nicht nur ein Kollege gewesen, Anuun war so viel mehr.

Langsam zog ich Aki in eine Umarmung, als sie sich von Desna löste. Er schien gefasster zu sein als sie, denn er richtete eine Frage an den Arzt.

„Durch was ist er gestorben?" Das Zittern seiner Stimme war dabei nicht zu überhören, jedoch vollkommen verständlich.

„Durch einen Schuss ins Herz."

Normalerweise hätte ich mir das Einschussloch angeschaut, doch unter diesen Umständen sah ich davon ab. Etwas in mir wehrte sich dagegen, die klaffende Wunde im Herzen meines Freundes zu betrachten. Tränen rollten über meine Wangen, sie stoppten nicht und es war mir herzlich egal, was der Gerichtsmediziner von mir dachte. Ich trauerte um meinen Freund, den ich niemals wiedersehen würde. In jenem Augenblick wünschte ich mir, Niall wäre hier. Auch wenn es schlimm war, würde er tröstende Worte finden. Der Gedanke daran, dass er Anuun beerdigen musste, ließ erneut die Übelkeit in mir hochsteigen.

Was war nur passiert?

„Er wird, wenn wir die Untersuchungen vollständig abgeschlossen haben, umgehend nach Hause transportiert werden", erklärte der Arzt.

Noch immer hielt ich Aki in meinen Armen. Sie zitterte am ganzen Körper, ihr Gesicht war tränenverschmiert.

„Er ist jetzt bei Mama", flüsterte sie leise.

Sanft streichelte ich über ihr glänzendes Haar, mehr konnte ich in diesem Moment nicht tun. Sie wirkte so zerbrechlich und doch so stark.

Einige Minuten gab man uns noch, um die erste Trauer und Fassungslosigkeit zu überwinden, dann mussten Aki und auch Desna ein Formular unterschreiben. Anschließend verabschiedeten wir uns, um die Heimreise anzutreten.

Wie betäubt saßen wir alle drei in dem Privatjet, der uns nach Anchorage brachte. Jedes Wort wäre fehl am Platz gewesen, jede Frage unsinnig.

Obwohl mein Herz durch die Trauer erfüllt wurde, musste es irgendwie weitergehen. Es war notwendig, die nächsten Schritte einzuleiten, nämlich Alistair und meine Freunde in Barrow zu informieren. Zu diesem Zweck holte ich das Handy hervor, dessen Display immer wieder vor meinen Augen verschwamm. Der Tränenschleier lichtete sich nur mühsam.

Zum Glück hatten wir Internet an Bord, sodass ich eine E-Mail verfassen konnte, die an unser Team ging. Alles Weitere würde Alistair nun in die Wege leiten.

Noch immer konnte ich nicht fassen, was geschehen war. Alles kam mir so unwirklich vor. Das wir hier in diesem Privatjet saßen, Aki, Desna und ich – und vor wenigen Stunden Abschied von einem Menschen nehmen mussten, den wir liebten.

Liam antwortete sofort auf meine Mail, seine Reaktion war durch Entsetzen, Trauer und Fassungslosigkeit geprägt. Alistairs Antwort fiel nur sehr knapp aus, doch ich wusste, dass auch er trauerte, dies jedoch erst später zum Ausdruck bringen würde.

Als der Jet in Anchorage landete, begann ich zu frösteln. Je näher wir Barrow kamen, desto schlimmer würde es werden. Nun hieß es Abschied nehmen von Desna, der versprach, so schnell wie möglich nach Barrow zu kommen, dort, wo nun alles anders sein würde.

Schon als wir dort eintrafen, kam mir alles kalt und leer vor. Nie wieder würde Anuun hier mit seinem Motorschlitten oder mit den Huskys durch die Gegend fahren. Der Gedanke, dass wir das den Kindern beibringen mussten, ließ mein Herz erneut schwer werden.

Fest hielt ich Akis Hand umklammert, als wir aus dem kleinen Flughafengebäude traten. Ich hatte mir nicht einmal die Mühe gemacht, Briana anzurufen, damit sie uns abholen konnte. Es schien alles so egal zu sein und irgendwie wollte ich auch gar nicht nach Hause. Aki jetzt alleine zu lassen ging mir gewaltig gegen den Strich. Und sie schien das zum Glück zu begreifen.

„Louis?"

„Ja?"

„Dürfte ich dich um einen Gefallen bitten?"

„Um jeden, den du willst."

„Dann bleibe heute Nacht bei mir, ich möchte nicht alleine sein."

Als ich nickte, drückte sie meine Hand ganz fest.

Wir liefen zu ihrem Haus, Barrow wirkte zu dieser Zeit wie ausgestorben. Die dichten Schneeflocken tanzten vor unseren Gesichtern und in jeder Flocke sah ich Anuuns Gesicht. Er lachte, so wie beim letzten Mal, als ich ihn lebend sah und er mir zum Abschied fröhlich zuwinkte. Genauso wollte ich ihn in Erinnerung behalten.

Wie in Trance folgte ich Akis in ihr kleines Haus, wo ich sofort den Kamin in Gang setzte, damit es warm wurde. Anschließend rief ich Liam an, um ihm zu sagen, dass ich in dieser Nacht bei Aki bleiben würde. Natürlich hatte ich ihn aus dem Tiefschlaf gerissen, doch dieses Mal verzieh er mir ohne mit der Wimper zu zucken. Schließlich handelte es sich um eine Ausnahmesituation.

Zwischen Aki und mir brauchte es keine Worte, wir verstanden uns fast blind. Es dauerte nur wenige Minuten, bis wir eng aneinander gekuschelt in ihrem Bett lagen. Sie hatte aufgehört zu zittern und auch ich wurde langsam ruhiger. Ein sanfter Kuss war alles, was in dieser Nacht zwischen uns passierte. Und das war auch gut so.

Der nächste Tag brachte unsere Trauer zurück, doch auch den Kampfgeist. Anuun sollte nicht umsonst gestorben sein.

„Weißt du, Louis, mein Vater hat immer zu mir gesagt, wenn ich in Ausübung meines Dienstes sterben sollte, dann habe ich auf jeden Fall für die richtige Seite gekämpft. Und das wird irgendwann belohnt", erzählte sie, als wir jeder mit einer großen Tasse Kaffee auf dem Sofa saßen.

„Und er hatte recht damit", erwiderte ich.

„Was werdet ihr jetzt tun, Louis?" Ihr sorgenvoller Blick ging zu mir.

„Das muss ich erst mit unserem Boss besprechen. Vermutlich wartet er schon auf meinen Anruf."

Seufzend checkte ich mein Handy, um überrascht festzustellen, dass ich fünfzehn Anrufe von Niall und zwanzig von Liam erhalten hatte. Da sich dieses jedoch seit gestern Nacht im lautlosen Modus befand, was ich mit Liam abgestimmt hatte, gingen diese natürlich unter.

„Ich glaube, ich muss nach Hause, Aki. Ich schaue später wieder vorbei."

Da ich keinen fahrbaren Untersatz zur Hand hatte, stellte sie mir ihr Auto zur Verfügung, was ich dankend annahm.

Wir verabschiedeten uns mit einem langen Kuss, den ich einige Minuten im Gedächtnis behielt, um die gestrigen Ereignisse kurzzeitig zu verdrängen. Als ich jedoch an unserem Haus ankam, wusste ich, dass es kein Entrinnen gab.

Die anderen warteten sicher schon auf mich, was die zahlreichen Anrufe bewiesen.

Dass diese jedoch einen ganz anderen Grund besaßen, erfuhr ich just in dem Moment, als ich die Küchentür aufstieß.

„Louis, Gott sei Dank, dass du da bist!", schleuderte Niall mir entgegen, dessen Stimme irgendwie gehetzt wirkte.

Offensichtlich bekam ich eine neue Hiobsbotschaft serviert.

Jedes einzelneNackenhaar stellte sich auf, als Niall den nächsten Satz aussprach.

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Es tut mir leid, dass ich euch vermutlich gerade schockiert und zum Trauern gebracht habe. Aber es war von Anfang an geplant, dass Anuun etwas zustößt, wie schlimm und in welcher Form dies geschehen sollte, habe ich mir allerdings bis zum Schluss offengehalten. Durch ein Gespräch mit einer befreundeten Autorin wurde mir bewusst, dass sterben die einzige Lösung war, um die ernsthaftigkeit dieser Story zu verdeutlichen. Das hier ist die Black-Reihe und nicht jeder Cliffhanger geht gut aus. Die meisten sind bisher glimpflich ausgegangen, doch nun war es Zeit, das Zeichen zu setzen. Viel zu lange habe ich euch in Sicherheit gewiegt, aber nun ist alles anders.

Ich hoffe, ihr verzeiht mir das, denn auch ein Autor muss sich manchmal überwinden, eine seiner Figuren, die er mochte und die auch die Leser mochten, gehen zu lassen.

Da das Kapitel mit einem Cliffhanger endet, hoffe ich, dass ihr nun gespannt seid, wie es weitergeht. Das nächste Update kommt am Samstag.

Danke für die vielen Kommentare, Votes und Reads und generell für euren tollen Support zu dieser Story.

LG, Ambi xxx

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