37. Leave
♪ Seperate Ways - Journey
Sienna
Nach dem Gespräch mit Alistair suchten wir beide die Hotelbar auf, in der Eleanor bereits saß und sich einen Cocktail schmecken ließ.
„Der ist alkoholfrei", erklärte sie, als sie Alistairs erstaunten Blick auffing.
Sofort verzog sich sein Gesicht zu einem Grinsen.
„Meine El, immer pflichtbewusst, das Mädchen. Aber ich verrate dir eines. Nachher darfst du trinken, aber jetzt sollten wir uns erstmal die Stadt anschauen. Ich meine, wenn wir schon in Anchorage sind, dann muss man das auch ausnutzen. Egal, wie widrig die Gründe sind, die uns hierher geführt haben, wir dürfen nicht vergessen zu leben."
Mit diesem Satz sprach Alistair mir aus der Seele. Er hätte es nicht besser formulieren können, denn ich wollte wieder leben und nicht innerlich dahinvegetieren.
Anchorage war mit seinen 291.000 Einwohnern die größte Stadt Alaskas, doch im Vergleich zu London wirkte das winzig. Trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen, besaß sie einen außergewöhnlichen Charme, wie ich diesen in einem Bundesstaat, dessen Winter einem die Nase abfrieren ließen, niemals vermutet hätte.
Wie immer zeigte sich Alistair auch hier gut vorbereitet. Er versorgte uns mit Informationen aus der Vergangenheit, während wir durch die Stadt liefen.
„Anchorage wurde im Jahre 1915 als Hauptquartier der Alaska Railroad gegründet. Habt ihr das gewusst?"
Als wir beide die Köpfe schüttelten, fuhr er mit seiner Rede fort.
„Am 27. März 1964 verursachte ein schweres Erdbeben Todesfälle und großen Sachschaden. Es fand an einem Karfreitag statt und gilt als die heftigste seismische Aktivität, die je in den USA gemessen worden ist. Leider fielen diesem Erdbeben einige der wenigen historischen Gebäude der Stadt zum Opfer."
„Das ist schade", sagte ich ein wenig betroffen.
„Ja, wirklich", kam es auch von El, deren Blick nun zu einem Gebäude ging, welches sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite befand.
„Schaut mal, das sieht super aus!" Sie wies mit ihrem ausgestreckten Arm darauf hin.
Lächelnd nahm Alistair dies als Aufforderung, erneut den Fremdenführer zu spielen.
„Dies meine Damen, ist das bedeutendste Bauwerk der Stadt, das 1924 von Frank Lloyd Wright errichtete Cityhospital. Akis Bruder arbeitet übrigens dort."
Ich konnte mich daran erinnern, dass Anuuns Tochter uns gegenüber einmal erwähnt hatte, dass ihr älterer Bruder in Anchorage, in einem Krankenhaus tätig war.
„Es sieht beeindruckend aus", gab ich ehrlich zu.
Wir wanderten weiter, die Straße entlang. Mit jedem Meter, den ich vorwärts ging, wurde meine Atmung tiefer, freier und lockerer. Der Knoten in meiner Brust löste sich langsam auf und ich begann sogar zu lachen, als wir einem Pantomimen begegneten, der auf der Straße stand, um ein wenig Kleingeld einzunehmen. Ich fand es bewundernswert, wie sehr diese Menschen sich und ihren Körper unter Kontrolle hatten.
Sofort kramte ich in meiner Geldbörse nach einem Dollarschein und warf diesen in den Hut, der vor dem Typ auf dem Boden lag. Daraufhin verbeugte sich der Mensch, bevor er wieder seine starre Haltung einnahm.
„Hoffentlich friert er sich nicht den Hintern ab", kicherte El, nachdem wir uns einige Schritte entfernt hatten.
Prompt musste ich lachen. „Das glaube ich nicht, er ist diese Temperaturen bestimmt gewöhnt. Außerdem ist es hier viel wärmer als ich Barrow."
Das stimmte wirklich und es erstaunte mich selbst, mit welchen Minusgraden mein Körper mittlerweile zurechtkam. Fast empfand ich es schon als warm in Anchorage, obwohl hier um die drei Grad Minus herrschten.
Alistair führte uns schließlich in das Anchorage Museum, in welchem wir allerlei über die Kultur, Geschichte und Entwicklung der frühen Siedler in Alaska lernten. Interessiert begutachteten wir alles und lasen auch die Informationstafeln, die aufgestellt waren, um den Besuchern einen Überblick zu verschaffen.
Zum Schluss des Tages landeten wir in der Anchorage 5th Avenue Mall, einem großen Einkaufszentrum, das alles verkaufte, was das Herz begehrte.
El erstand wunderschöne Unterwäsche und als Alistair sich neckisch erkundigte, wem sie diese denn vorzuführen gedachte, antwortete sie lächelnd: „Man muss diese Dinge nicht immer für jemand anderen kaufen. Das ist ausschließlich für mich. Es tut meinem Ego gut, wenn ich sowas trage."
Damit machte sie mir bewusst, wie wenig ich in der letzten Zeit für mich getan hatte.
„Weißt du, eigentlich hast du ja recht", stimmte ich zu, um Sekunden später in das Geschäft zu marschieren.
Schließlich besaßen wir Zeit im Überfluss und niemand, der uns hetzte.
Es dauerte gar nicht lange, da entschied ich mich für ein knallrotes Negligé. Als ich es an der Kasse bezahlte, dachte ich wehmütig an Niall. Sicher hätte es ihm gefallen, doch er würde es nicht mehr zu Gesicht bekommen. Höchstens, wenn ich es in den Koffer packte, um endgültig aus Barrow zu verschwinden.
Da wir bereits ein üppiges Mittagessen zu uns genommen hatten, beschlossen wir, im Shopping Center unser Abendessen einzunehmen. Ich gönnte mir einen Salat mit Thunfisch, während Eleanor die Variante mit Hühnchen bevorzugte. Alistair hielt sich lieber an Pizza, die unglaublich lecker roch.
Auch hier bezahlte er das Essen, sowie unsere Getränke.
Mit dem Taxi ging es dann zurück in das Hotel, wo wir zunächst unsere Zimmer aufsuchten, um die Einkäufe abzulegen und uns ein wenig frisch zu machen. El überließ mir die Dusche zuerst und ich beeilte mich, damit sie noch genügend Zeit hatte, um sich herzurichten. Um Punkt neun hatten wir nämlich eine Verabredung mit Alistair in der Hotelbar. Und dieses Mal ging es mit echten Cocktails zur Sache.
Spendabel wie er war, lud er uns natürlich ein, was ich durchaus zu schätzen wusste.
Nach einem kurzen Blick in die Karte traf ich meine Wahl. Tequila Sunrise hieß mein Favorit, trug er doch den Namen des Gestirns in sich, das ich so sehr vermisste, die Sonne. El hingegen nahm den Pina Colada und Alistair entschied sich für einen Mojito. Im Gegensatz zu uns trank er wirklich nur einen, dann wechselte er zu Cola mit Eis.
So einen Abend wie diesen hatte ich dringend gebraucht und auch sehr vermisst. Einfach abschalten, die Seele baumeln lassen und etwas anderes sehen, als immer nur das ewige Eis und die 4000 Seelen in Barrow. Neue Straßen, ein wenig Kultur, eine hübsche Shopping Mall und neue Gesichter – das machte diesen Tag interessant.
Die bewundernden Blicke des einen oder anderen attraktiven Mannes verirrten sich in meine Richtung, während ich an meinem Cocktail nippte. Sie hoben mein Selbstwertgefühl, doch sie gaben mir nicht das, was ich mir eigentlich wünschte: Ein Kind von dem Mann, den ich über alles liebte.
Und ich würde dieses auch nicht mehr bekommen. Niall blieb stur und auch ich sah mich außerstande nachzugeben. Unser Schicksal wurde somit besiegelt.
Es war weit nach Mitternacht, als wir endlich in den Betten lagen. Entgegen aller Erwartungen versank ich augenblicklich in einen tiefen Schlaf, was vermutlich dem Genuss des Alkohols zuzuschreiben war.
Der nächste Morgen brachte dann ein klein wenig Ernüchterung in jeglicher Beziehung. Heute musste ich nach Barrow zurück.
Alistair hatte mir zu verstehen gegeben, dass es einige Tage dauern würde, bis ich meine Reise nach Europa antreten konnte und somit blieb mir nichts anderes übrig, als mein Dasein in der Eiswüste zu fristen. Zumindest so lange, bis er grünes Licht für meinen Umzug gab.
Mit einer väterlichen Geste, in Form einer Umarmung, verabschiedete er sich am Flughafen von mir.
„Halt die Ohren steif, Sienna. Ich melde mich bei meinen Mitarbeitern, sobald es losgeht."
Noch immer hatte ich mit El nicht über den Grund unseres Zerwürfnisses gesprochen. Ich beschloss, dass es nun an der Zeit war, ihr reinen Wein einzuschenken. Alistair würde dies über kurz oder lang sowieso tun, denn seine Mitarbeiter wurden stets über alle wichtigen Dinge informiert.
Da es bis zum Abflug noch ein wenig Zeit zu überbrücken galt, setzten wir uns in ein Café im Flughafen.
„Also", begann ich, „du fragst dich sicher, was los ist."
„Nun ja, Alistair hat mich darüber informiert, dass du aus dem Zeugenschutzprogramm aussteigen möchtest. Den Grund hat er mir allerdings nicht verraten, nur, dass was ich schon wusste. Also, dass es Differenzen zwischen Niall und dir gibt."
Diesen Satz nahm ich zum Anlass, um auszupacken.
El hörte nur zu und stellte keine Zwischenfragen. Insgesamt nahm sie es ruhig auf, doch an ihrem Blick konnte ich erkennen, dass sie es zutiefst bedauerte.
„Ich mag dich, Sienna und ich mag auch Niall. Aber ich und auch die anderen, müssen deine Entscheidung akzeptieren. Wir werden dich bei deiner Abreise unterstützen, genauso wie wir Niall helfen werden, diesen Schlag zu überwinden. Es wird nicht einfach für euch werden, für alle drei nicht."
Kieran schlich sich in meine Gedanken. Wie unendlich schwer würde es mir fallen, ihm erklären zu müssen, was nun geschehen würde. Wie unser neues Leben aussah und dass er seinen Vater nicht mehr täglich um sich hatte. Es tat weh, seiner zarten Seele so etwas zuzumuten, doch ich konnte nicht anders. Ich würde vor die Hunde gehen, wenn ich das Spiel noch länger durchzog.
Doch bevor ich meinen Sohn alles erklärte, stand ein Gespräch mit Niall an. Und davor grauste mir nicht minder.
Innerlich bereitete ich mich darauf vor, doch der Flug ging für meinen Geschmack viel zu schnell vorüber.
Meine Gedanken rasten, als wir zu Louis ins Auto stiegen, der uns in Barrow abholte. Seinem Gesicht nach zu urteilen, wusste er bereits was Sache war. Wie immer verhielt er sich höflich und korrekt mir gegenüber und er erkundigte sich sogar, wie es uns in Anchorage gefallen hätte. Ich überließ El das Reden, die ihn sogleich über unsere Unternehmungen aufklärte.
Sie verstummte jedoch schlagartig, als wir in die Hofeinfahrt einbogen. Dort stand Niall zusammen mit Kieran. Es brach mir fast das Herz, die beiden zu sehen. Mein Magen machte eine hundertachtzig Grad Wendung, als ich aus dem Wagen stieg und Niall mich anschaute. Das Blau seiner Augen ließ mich noch immer darin versinken.
„Mami!", Kieran kam auf mich zu gerannt und ich fing ihn auf, um Küsse auf seine Wangen zu verteilen.
„Na, mein Schatz, geht es dir gut?"
„Ja! Wir haben gerade die Huskys gefüttert!"
Kieran liebte diese Tiere, doch bald würde er auch von ihnen Abschied nehmen müssen. Aber nicht nur sie blieben zurück, auch Freddie, sein bester Freund. Es war traurig, dass er dies in jungen Jahren nun schon zum zweiten Mal erfahren musste.
Niall folgte uns ins Haus und als er mich erneut anschaute, gab ich ihm mit Handzeichen zu verstehen, dass ich mit ihm reden wollte. Wir ließen Kieran bei Briana und Freddie in der Küche und zogen uns in Nialls Büro zurück.
„Also", sagte er nur, während sein Bick fragend über mein Gesicht huschte.
Meine Stimme zitterte, als ich das Urteil aussprach. „Ich werde Barrow verlassen und aus dem Zeugenschutzprogramm aussteigen."
Seine Gesichtszüge veränderten sich nicht, doch die Traurigkeit, die seine Augen widerspiegelte, ließ sich nicht verbergen.
„Ist das dein letztes Wort?"
„Ja, das ist es."
Schnell drehte ich mich um, damit er meine Tränen nicht sah.
„Und Kieran?"
„Ich möchte ihn gerne mitnehmen, wenn du nichts dagegen hast."
„Wieso sollte ich? Bei dir ist er in Sicherheit und vielleicht ist es besser so."
Seine Stimme zitterte ebenso wie meine, doch er machte keinerlei Anstalten, Schwäche zu zeigen. Niall würde vor niemandem auf die Knie gehen und schon gar nicht vor mir. Lieber biss er sich die Zunge ab, als mich von meinem Vorhaben abzubringen.
Ich schluckte hart, bevor ich den nächsten Satz aussprach.
„Wir müssen es ihm irgendwie beibringen."
„Das sollten wir."
Nach diesen Worten verließ er das Zimmer. Einfach so, als sie nichts Besonderes passiert. Für mich hatte das den Anschein, dass er versuchte, jegliche Gefühle in sich abzutöten. Was für ein Leben war das bitte? Alle Hoffnung verschwand und er vegetierte nur noch dahin.
Es tat mir weh, den Mann, den ich noch immer liebte, so zu sehen. Doch ich konnte ihm nicht helfen. Er hatte sich aufgegeben und genau daran zerbrach unsere Liebe.
Seufzend packte ich meine Reisetasche aus, während ich überlegte, wie ich es Kieran am besten beibringen sollte.
Nach weiteren zehn Minuten, die ich auf dem Bett sitzend verbrachte, stand ich endlich auf. Jetzt würde ich es angehen, denn je eher unser Sohn es erfuhr, desto besser würde es für ihn sein.
Nach kurzer Suche fand ich ihn in Freddies Zimmer, wo die beiden spielten.
„Darf ich euch mal stören?", fragte ich leise.
„Ja, klar", meinte Freddie.
Langsam setzte ich mich auf den Boden, zwischen die beiden Jungs. Vielleicht war es einfacher, wenn Freddie es ebenfalls mitbekam. Immerhin kannte er sich mit der Thematik, dass Vater und Mutter nicht zusammenlebten, aus.
„Kieran, ich möchte dir gerne etwas erzählen", begann ich vorsichtig.
„Was denn?" Seine großen, blauen Augen, die Nialls so sehr glichen, schauten aufmerksam zu mir.
Er schien zu spüren, dass die Sache wichtig war.
„Ich möchte gerne mit dir in ein anderes Land ziehen, Kieran."
Verwundert schaute er mich an.
„Zuerst werde ich gehen und dann kommst du nach."
„Und Papi?"
Diese Frage hatte kommen müssen. Es fiel mir unsagbar schwer darauf zu antworten.
„Papi kann leider nicht mitkommen. Er muss noch hier bleiben."
„Aber warum denn nicht? Ich will, dass er mitkommt!"
„Kieran, das geht leider nicht. Aber er wird sich so oft er kann, mit dir treffen."
Weinerlich erklang die Stimme unseres Sohnes in meinen Ohren.
„Aber ich will, dass er sofort mitkommt!"
Als die ersten Tränen über seine Wangen liefen, nahm ich ihn in meine Arme.
„Es tut mir so leid, mein Schatz. Ich wünschte, ich könnte es ändern", flüsterte ich und streichelte über seinen Rücken.
Sein herzzerreißendes Schluchzen bohrte sich schmerzhaft in meine Seele. Niemals hatte ich ihm das antun wollen und doch geschah es nun. Er würde innerliche Narben davontragen, die nur langsam verheilten. Seine Welt würde anders werden, genau wie meine. Und für den Moment hörte sich diese sogar auf zu drehen.
Kieran und ich – ein Teil von Niall würde immer bei mir sein und mich an unsere einstige Liebe erinnern.
Eine kleine Hand tastete sich plötzlich vor. Freddie stand genau neben uns und schaute zu Kieran.
„Weißt du", sagte er, „meine Eltern wohnen auch nicht zusammen, wenn wir in London sind. Aber es ist cool, weil ich immer mal zu Mum oder Dad gehen kann. Und ich kriege von beiden immer Geschenke, wenn ich Geburtstag habe. Außerdem kocht meine Mum immer mein Lieblingsessen und Dad spielt mit mir, was ich will. Deine Eltern machen das bestimmt auch!"
Für den Augenblick schien das Kieran zu beruhigen, jedenfalls hörten seine Tränen auf zu fließen.
„Wann ziehen wir denn um, Mami?", fragte er.
„Ich in einigen Tagen und du darfst dann vier Wochen später nachkommen. Während diesen vier Wochen kannst du ganz viel Zeit mit deinem Vater verbringen, ok?"
Er schien kurz zu überlegen, bevor er ein „Okeeey", herausquetschte.
Den ersten Sturm hatten wir somit überstanden, aber der nächste würde folgen, das wusste ich.
Die nächsten Tage vergingen eher schleppend, obwohl es für mich noch einiges zu tun gab. Unter anderem informierte ich Aki über meinen bevorstehenden Umzug. Wie zu erwarten reagierte sie traurig darüber, dass sie zukünftig auf meine Arbeitskraft verzichten musste.
Auch Anuun wollte nicht so recht begreifen, was geschah, ganz zu schweigen von Briana, mit der ich mittlerweile ein Herz und eine Seele geworden war. In einer ruhigen Minute erklärte ihr ihr alles – und sie verstand mich vollkommen.
„Weißt du, Sienna", lauteten ihre Worte, „es gibt nichts, was ich mir mehr wünschen würde, als noch einmal ein Kind von einem Mann zu bekommen, den ich liebe und der mich ebenso liebt. Ein größeres Geschenk gibt es nicht auf Erden und das mit der Mafia ist Bullshit. Es kann überall und jederzeit etwas passieren, davor ist niemand gefeit."
Damit sprach sie mir aus der Seele.
Es tat gut zu wissen, dass ich nicht Einzige war, die so dachte. Manchmal plagten mich nämlich Selbstzweifel bezüglich meiner Entscheidung.
An einem Donnerstagmorgen meldete sich Alistair bei Louis. Dieser forderte mich auf, ihn in sein Büro zu begleiten, damit wir ungestört eine Skype Unterhaltung führen konnten.
„Nun Sienna, ich kann dir sagen, dass es am Samstag für dich zunächst nach Anchorage gehen wird. Von dort aus fliegst du weiter nach Minneapolis, wo wir uns treffen. Ich hole dich quasi ab und begleite dich bis nach Südengland. Zwischenstopp ist natürlich in London, aber dort halten wir uns nicht lange auf."
Innerlich zitterte ich so sehr, doch äußerlich blieb ich ruhig.
„Gut, dann werde ich das Nötigste zusammenpacken", erwiderte ich.
„Tu das und wir sehen uns dann am Samstag in Minneapolis", verabschiedete er sich von mir.
Während der nächsten Stunden bestand meine Beschäftigung darin, die Kleidungsstücke auszusortieren. Ich nahm wirklich nur das mit, was ich in England benötigte. Dort waren die Winter nur halb so kalt wie hier. Alles passte in einen Koffer, den Rest sollten El und Briana entweder unter sich aufteilen, oder an Bedürftige weitergeben.
Probleme bereiteten mir allerdings die beiden Bilder von Thomas Fabry. Ich wollte sie unbedingt mitnehmen, doch so, wie es aussah, würde der Transfer der beiden Gemälde nach England sowieso später stattfinden müssen. In dieser Hinsicht verließ ich mich voll und ganz auf Alistair. Bisher hatte er stets alles zu unserer Zufriedenheit erledigt.
Da ich seit Tagen im Gästezimmer nächtigte, bekam ich von Nialls Aktivitäten nicht sehr viel mit. Wir sahen uns zwar beim Frühstück und Abendessen, doch das war auch alles. Nach wie vor redeten wir nicht miteinander und es war Louis, der mich darüber informierte, dass Niall wohl mit Kieran über den anstehenden Umzug gesprochen hatte. Auch klärte er mich darüber auf, dass Niall unseren Sohn hin und wieder sehen wollte. Dafür hatte ich das allergrößte Verständnis und Alistair würde ganz sicher eine Lösung einfallen, um diesem Wunsch nachzukommen.
Unsere Leben würde nun in unterschiedliche Richtungen verlaufen. Was blieb, war Kieran, ein kleiner Mensch, hervorgegangen aus uns beiden, aus unserer Liebe. Und dafür war ich unendlich dankbar.
Ehe ich mich versah, brach der Samstag an. Dunkelheit umfing mich, als ich aus dem Fenster blickte, weil der Wecker mich dazu aufforderte den Schlaf zu beenden. Ohne zu zögern erhob ich mich aus dem Bett und suchte das Gäste Bad auf, um zu duschen. Ein letztes Mal genoss ich die heimelige Wärme des Specksteinofens, die jede Zentralheizung locker ausstach. Nicht alles in Barrow war schlecht, das musste ich mir eingestehen.
Selbst die Hunde würden mir fehlen, ich hatte mich inzwischen total mit ihnen angefreundet, denn ich mochte das Wesen der Huskys. Sie waren unbestechlich, ausdauernd und liebenswürdig. Niemals würden sie einem Menschen etwas zuleide tun – es sei denn, dieser verfolgte böse Absichten. Somit gab es einiges, was mir in guter Erinnerung bleiben würde.
Die Zeit verrann und die Abreise rückte näher.
Direkt nach dem Frühstück brach Niall mit seinem blauen Motorschlitten auf. Bevor er sich für die Fahrt zu den kleinen Siedlungen rüstete, die er am heutigen Tag besuchen wollte, nahm er mich kurz zur Seite.
„Ich wünsche dir viel Glück", sagte er leise, seine Augen auf den Boden gerichtet.
„Danke, das wünsche ich dir auch", erwiderte ich ebenso leise.
Mein Blick fiel auf seinen Ehering, den er noch immer trug, genau wie ich den meinen. Irgendwie konnte ich mich nicht dazu durchringen, diesen auszuziehen. Vielleicht würde ich es tun, wenn ich in England eintraf und mein neues Leben begann.
„Sienna."
Meinen Namen aus seinem Mund zu hören, klang so vertraut, es verursachte noch immer eine Gänsehaut, die über meinen Körper zog.
„Ja, Niall?"
„Ich-, ich wünschte, wir hätten noch eine Chance."
„Das wünschte ich auch", murmelte ich, während sich die ersten Tränen in meinen Augen sammelten.
Nur am Rande bekam ich mit, wie Niall seinen Parka, Schal, Mütze, Handschuhe und die Boots anzog. Kurz bevor er die Tür öffnete, um nach draußen zu gehen, vernahm ich sein Wispern.
„Ich liebe dich, das werde ich immer tun."
Für eine Sekunde drehte er sich in meine Richtung und ich hätte schwören können, Tränen in seinen Augen zu sehen. Mein Herzschlag setzte beinahe aus, so weh tat es, ihn gehen zu lassen. Dabei war ich es, die eigentlich ging und ihn zurückließ.
Mit letzter Kraft schleppte ich mich zurück in die Küche, wo ich die letzten beiden Stunden in Barrow verbrachte. Louis, Briana, Eleanor, Kieran und Freddie leisteten mir dabei Gesellschaft. Die beiden Jungs malten, während Briana ein Vesperpaket für mich zusammenstellte.
Eigentlich ging ich davon aus, dass sie mich zum Flughafen bringen würde, doch es war Louis, der sich gegen elf Uhr erhob.
„Es wird Zeit, Sienna, wir müssen los."
Schnell umarmte ich zuerst El und dann Briana, die mir alles Gute wünschten. Dann kam Freddie an die Reihe und zum Schluss mein Sohn.
Als ich mich von Kieran verabschiedete, bildeten sich Tränen in meinen Augen. Vier Wochen würde ich ihn nicht sehen, höchstens über eine Videokamera und dann immer nur für eine begrenzte Zeitspanne. Aber daran führte kein Weg vorbei, die Entscheidung war gefallen.
„Sei schön brav zu Papi, ok? Ich hab dich lieb mein kleiner Schatz."
Sanft küsste ich seine Wangen und hörte ihn murmeln: „Ich hab dich auch lieb, Mami."
So richtig realisierte er es noch nicht. Ihm würde erst viel später bewusst werden, wie lange vier Wochen sein konnten und ich hoffte inbrünstig, dass er damit klar kam.
Ein letztes Mal stapfte ich durch den Schnee bis zum Auto, in welches Louis gerade meinen Koffer einlud. Ich sprang auf den Beifahrersitz, er hupte kurz, damit die Huskys aus dem Weg gingen und fuhr dann los.
Wir waren etwa fünfhundert Meter weit gekommen, als ich das Brummen eines Motorschlittens vernahm. Im rechten Außenspiegel konnte ich ein rotes Etwas erkennen, das sich mit ziemlich hoher Geschwindigkeit unserem Wagen näherte.
Eleanor raste wie der Teufel hinter uns her, überholte uns schließlich und zwang Louis zu einer Vollbremsung, indem sie ihm quer vor das Auto fuhr, welches buchstäblich in letzter Sekunde zum Stehen kam.
„Verdammt, El, bist du komplett verrückt geworden?!", schrie er wütend durch das geöffnete Seitenfenster.
Ihre Worte drangen nicht bis zu mir durch, wohl aber zu Louis, der sofort aus dem Wagen sprang, El fast vom Motorschlitten zerrte, um sich dann selbst auf diesen zu setzen. Nach einer filmreifen Wendung im Schnee fuhr mit halsbrecherischem Tempo zurück zu unserem Haus.
Wie vom Donner gerührt saß ich da und wusste nicht, was ich tun sollte. Erst als Eleanor ins Auto kletterte, meine Hände nahm und leise auf mich einredete, begriff ich, was gerade geschehen war.
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Cliffhanger! Was mag da wohl passiert sein? Habt ihr irgendeine Idee?
Ihr habt mich mit euren Kommentare zum letzten Kapitel unglaublich motiviert! Vielen lieben Dank dafür! Ihr glaubt gar nicht, wie wichtig das für mich ist, denn ihr als Leser habt die Macht - das ist wirklich so.
Das nächste Update wird am Mittwoch kommen.
LG, Ambi xxx
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