25. Memory


♪ In my veins – Andrew Belle


Seth

Konzentriert arbeitete ich am Laptop des großen Meisters, Alistair Kirkland. Seit er mich quasi dazu verpflichtet hatte, der Mafia auf diesem Wege auf die Schliche zu kommen, tat ich fast nichts anderes mehr.

Da mein eigenes Geschäft quasi von alleine lief und ich zudem meine Kunden von überall und jederzeit betreuen konnte, taten sich dadurch auch keine Nachteile für mich auf.

Mir wurde eine Schweigepflicht auferlegt, die ich selbstverständlich einhielt, zudem gelangte ich in Alistairs Begleitung auch jederzeit ohne Probleme in das Polizeipräsidium.

Außer dem Klappern der Tastatur war an diesem Morgen kein einziges Geräusch im Büro zu vernehmen. Kein Wunder, denn ich befand mich im Moment alleine dort. Harry besorgte gerade Kaffee und Alistair war wie so oft kurz außer Haus. Er verriet nie wohin er ging oder was er tat, aber die Vermutung, dass er auch außerhalb Informationen einholte, lag einfach nahe.

Sämtliche Hinweise, die ich dem System der Mafia bisher hatte entlocken können, verrieten jedoch nicht, wie man an Sophia Smiths Namen gelangt war, was darauf schließen ließ, dass dies über Umwegen geschehen sein musste.

Vielleicht Mittelsmänner, die sich im Hintergrund hielten und Zugriff zu den sensiblen Daten der Mitarbeiter besaßen. Aber dies war schier unmöglich, da meine Überprüfung ergeben hatte, dass niemand von außen das Computersystem der Polizei durchforstete.

Es war müßig darüber nachzudenken und doch es wurmte mich sehr, dass ich den Fehler nicht fand – den gedanklichen wohlbemerkt.

„So, da bin ich wieder."

Mit einem breiten Grinsen stellte Harry den Cappuccino auf meinem Schreibtisch ab.

„Danke, was kriegst du dafür?"

„Nichts, du bist eingeladen."

Ich mochte Harry von der ersten Sekunde an. Schon als ich ihn und Kieran durch einen dummen Zufall im Harrods traf. Er wirkte sehr sympathisch und vor allem auch fürsorglich dem Kleinen gegenüber. Und er kannte Sienna, sowie ihren Ehemann.

Tausend Fragen schwirrten in meinem Kopf umher, als ich ihn anschaute. Sie erschwerten mir das Denken, warteten förmlich darauf ausgesprochen zu werden und schließlich konnte ich nicht mehr anders.

„Harry, könnten wir uns bitte kurz unterhalten?"

„Ja, natürlich."

Der Lockenkopf nahm seinen Platz ein, streckte seinen Beine aus und nippte genießerisch an seinem Kaffee.

„Also, ich weiß nicht so recht, wo ich anfangen soll. Wann hast du meine Schwester zum letzten Mal gesehen?"

Seine Antwort folgte wie aus der Pistole geschossen.

„Das war Ostern, dieses Jahr."

Als ich nickte, holte er sein Handy hervor, scrollte auf dem Display herum und überreichte mir anschließend das Smartphone.

Meine Augen weiteten sich und mein Herz begann schneller zu schlagen. Ich blickte auf ein Foto, welches Sienna, Kieran und Niall zeigte. Sie strahlten und wirkten wie eine glückliche Familie. Es war wunderschön anzusehen.

Tränen bildeten sich in meinen Augen, als ich sanft mit einem Finger über das Bild glitt. Da war sie, meine kleine Schwester, zu einer wunderschönen Frau und Mutter herangewachsen, umsorgt durch einen liebevollen Ehemann. Denn so wirkte Niall auf mich.

Dann fiel mein Blick auf Kieran, meinen Neffen. Er sah seinem Vater sehr ähnlich, und doch war ich mir sicher, dass auch Siennas Gene sich durchgesetzt hatten, wenn auch auf andere Art und Weise.

„Ich wünschte, ich könnte ihn bald sehen", wisperte ich leise.

Anschließend gab ich Harry das Handy zurück und wischte mir die Tränen aus den Augen.

„Das wirst du, Seth. Alistair hat es dir versprochen und er hält seine Versprechen immer."

Ich atmete tief durch, bevor ich den nächsten Satz aussprach.

„Erzähl mir bitte von Kieran. Wie ist er so?"

Ein Lächeln bildete sich auf Harrys Gesicht, als er reden begann.

„Er ist fröhlich, unglaublich liebenswert, sehr neugierig um nicht zu sagen wissbegierig. Er liebt Tiere und malt gerne. Außerdem kann man ihn mit Schokopudding glücklich machen."

Prompt musste ich lachen.

„Den hat Sienna auch gerne gegessen, als sie klein war."

Schmunzelnd lehnte sich Harry in seinem Stuhl zurück.

„Ich glaube, die beiden haben mehr gemeinsam, als man auf den ersten Blick sieht."

Vielleicht traf das wirklich zu und um ehrlich zu sein, konnte ich es kaum erwarten, dies herauszufinden. Einstweilen musste ich mich jedoch in Geduld üben und mich auf meine Arbeit konzentrieren.

Als würde Harry meine Gedanken erraten, sagte er plötzlich: „Bist du schon weitergekommen, was Sophias Namen betrifft?"

„Nein."

Schnell erläuterte ich ihm, welche Dinge ich diesbezüglich überprüft hatte. Daraufhin dachte er angestrengt nach.

„Ich glaube, wir haben etwas Wichtiges übersehen", sinnierte er, „ich werde mir die Akte nochmal anschauen."

„Welche Akte?"

„Nialls Akte. Sie befand sich früher im Archiv, aber nachdem seine Identität aufgedeckt wurde, hat Alistair veranlasst, dass man sie dort herausholt."

„Und wo ist jetzt?"

„Hier, in unserem Büro."

Ein wenig umständlich fummelte Harry einen kleinen Schlüssel aus der obersten Schublade seines Schreibtisches heraus. Anschließend erhob er sich, um auf einen der Schränke zuzugehen, welchen er öffnete. Darin befand sich ein kleiner Tresor und zu diesem gehörte der Schlüssel.

Mit der Akte in seinen Händen, kehrte Harry zum Schreibtisch zurück.

„Mir ist etwas eingefallen."

Mit diesen Worten schlug er die Akte auf.

Das erste Blatt bestand aus einem Bericht, der vor einigen Jahren verfasst wurde. Dort war Nialls neuer Name vermerkt, welchen die Mafia seit einigen Wochen herausgefunden hatte: James Edwards.

„Siehst du, wer diesen Bericht geschrieben hat?", begann Harry und blickte zu mir.

Aufmerksam betrachtete ich das Dokument.

„Sophia Smith."

„Ja, Sophia Smith und ich weiß nicht, weshalb ich nicht schon eher darauf gekommen bin."

Er schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn.

„Inwiefern?", erkundigte ich mich neugierig.

„Dieser Bericht ging als Kopie an die Mafia. Der Typ, der hier arbeitete, sich bestechen ließ und dann ermordet wurde, hat ihn ausgehändigt. Sophias Name steht darauf, und deswegen ist dieser nun der Mafia bekannt."

„Das macht absolut Sinn und wir wissen jetzt, dass es keiner hier aus dem Haus war, der den Namen weitergeleitet hat", sagte ich erleichtert.

„Ich bin so ein Trottel, dass mir das nicht eher eingefallen ist."

„Es hätte den anderen genauso gut einfallen können", meinte ich leichthin. „Denn sie wussten um diese Begebenheit, oder nicht?"

„Ja, das stimmt."

Ohne zu zögern rief ich Alistair an, um ihm von unserer neuesten Entdeckung zu berichten. Er zeigte sich sichtlich erfreut und kündigte außerdem an, gleich im Büro zu sein.

Nur wenige Minuten später beehrte er uns mit seiner Anwesenheit.

„Es sind einerseits erfreuliche Nachrichten aber wir konnten bisher noch immer nicht herausfinden, wie man an den Namen des Mitarbeiters gelangen konnte, der den Verrat begangen hat", entgegnete er seufzend.

„Es gibt leider keinen einzigen Hinweis, dass die Mafia sich in das System des Polizeipräsidiums eingehackt hat, hier ist alles safe", teilte ich mit.

Der kleine, dicke Mann raufte sich die noch verbliebenen Haare auf seinem Kopf, während ich die nächste Möglichkeit erläuterte.

„Vielleicht über die Sozialversicherungsnummer. Damit kann man durchaus arbeiten. Aber es ist trotzdem unlogisch, denn da würde nur umgekehrt ein Schuh daraus werden."

„Eben. Irgendwie muss die Mafia an diese Information herangekommen sein."

Sein Gesicht wurde ernst.

„Und das bedeutet, dass es hier drinnen einen Spion gibt."

„Aber nicht in unserem Team, denn das würde keinen Sinn ergeben", ließ Harry sofort einfließen. „Wir alle wissen, wo Niall und Sienna sich aufhalten. Wir kannten jeden Schritt und wenn es einer von uns wäre, so hätte er Niall sofort am ersten Tag abmurksen können."

„Beruhige dich, Harry, es ist keiner aus unserem Team", erwiderte Alistair ruhig.

Er dachte angestrengt nach, das konnte ich erkennen.

„Auf jeden Fall haben wir nun herausgefunden, was es mit Sophias Enthüllung auf sich hat. Und sie braucht dringend einen neuen Nachnamen, sonst ist sie für unser Team zukünftig wertlos."

Alistairs Gedankengänge waren durchaus nachvollziehbar, ich hätte an seiner Stelle nicht anders gehandelt. Nur auf diese Art und Weise würde die Sicherheit für das Team und auch für die Klienten gewährleistet sein.

Schweren Herzens dachte ich an meine Schwester und ihren Mann. Wo immer sie sich aufhielten, hoffentlich geschah ihnen nichts. Ich für meinen Teil wollte alles dafür tun, Alistairs Truppe zu helfen, um auf diese Art und Weise das Leben der kleinen Familie zu schützen.

Es stimmte mich unendlich traurig, dass ich Sienna vermutlich niemals wiedersehen würde, doch ich fieberte der Begegnung mit Kieran entgegen. Mein Herz hing an diesem kleinen Jungen, obwohl ich ihn bisher nur ein einziges Mal eher unbewusst zu Gesicht bekommen hatte.

Und letztendlich kam dieser besondere Tag schneller als erwartet.

Als Harry uns am Freitag von dem tollen Zoobesuch mit Kieran und auch Alistairs Tochter vorschwärmte, spürte ich einen riesigen Kloß in meiner Kehle. Wie gerne wäre ich dabei gewesen, als der Kleine mit Tigerschminke im Gesicht herumlief.

Harry zeigte mir zwar die Bilder, doch diese konnten das reale Geschehnis niemals transferieren. Es blieb abstrakt.

„Er hat sich so gefreut und war ganz aus dem Häuschen", erzählte Harry glücklich.

Die Wärme, mit der er stets über Kieran sprach, verriet mir, wie sehr er meinen kleinen Neffen liebte.

Mit Sicherheit war er ein toller Patenonkel, jemand, den man sein Kind gerne anvertraute.

„Seth?"

Alistairs Stimme holte mich in die Realität zurück.

„Ja?"

„Was halten Sie davon, wenn wir uns am Sonntag alle gemeinsam auf einem Spielplatz treffen?"

Im ersten Moment dachte ich, er sei verrückt geworden, doch dann dämmerte es mir.

„Sie meinen-."

„Ja, ich möchte, dass Sie und Ihr Lebensgefährte, Kieran kennenlernen."

Alistairs Aussage trieb mir vor Freude Tränen in die Augen. Mein Herz pochte schneller, als ich meine Frage an ihn richtete: „Dürfen wir ihm ein Geschenk mitbringen?"

„Sicher", lächelte er. „Und wenn wir schon dabei sind, Miss Bail dürfte selbstverständlich auch mitkommen."

Traurig seufzte ich auf. „Leider befindet sich Gwenny zurzeit auf einer Auslandsreise. Sie ist mit ihrem Freund in den USA und kehrt erst in drei Wochen zurück."

„Schade, denn bis dahin sollte Kieran eigentlich schon längst in seiner neuen Heimat sein", erwiderte Alistair bedauernd. „Dann sind es also nur Sie und Harvey."

Als ich nickte, fuhr er mit seiner Rede fort.

„Wir treffen uns um drei Uhr nachmittags auf dem Spielplatz in der Nähe meines Hauses. Die Adresse werde ich Ihnen noch mitteilen."

Mehr als ein „Danke", brachte ich nicht mehr hervor. Zu viele Gedanken stürzen auf mich ein, zu viele Gefühle durchwanderten meine Seele. Kieran, am Sonntag würde ich ihn endlich sehen.

Wie zu erwarten, geriet Harvey total aus dem Häuschen, als ich ihm die freudige Nachricht überbrachte.

„Oh Gott, wie dürfen wirklich Siennas kleinen Jungen sehen? Ich freue mich so sehr!"

Harvey brach in Tränen aus und ich musste ihn beruhigen, obwohl mir selbst zum Heulen zumute war.

Niemals hätte ich gedacht, diesen besonderen Moment erleben zu dürfen und doch war es kein Traum, sondern pure Realität.

Es erübrigte sich zu erwähnen, dass Harvey seine Leidenschaft für das Backen auslebte und Muffins für Kieran herstellte. Wir packten diese in eine gut verschließbare Plastikbox, bevor wir uns am Sonntagnachmittag pünktlich auf den Weg machten. Ich war so aufgeregt wie schon lange nicht mehr und Harvey erging es nicht besser.

Da der Verkehr in London stets kurz vor dem Kollabieren stand, nahmen wir die U-Bahn, um zu unserem Ziel zu gelangen. Der Spielplatz lag in einem hübschen, kleinen Park, welcher von Kastanienbäumen umrandet wurde. Schon von weitem vernahmen wir die Rufe und das Lachen einiger Kinder.

Sanft streichelte Harvey meine Hand, als wir uns näherten. Ich erblickte Alistair, der auf einer der Bänke saß und eine Banane schälte.

Ohne Aufforderung nahm ich den Platz neben ihm ein. Harvey folgte meinem Beispiel und ließ sich zu meiner Linken nieder.

„Wo ist Kieran?", fragte ich irritiert.

Der kleine, dicke Mann streckte seinen Arm aus. „Da! Er sitzt auf einer Schaukel und Harry schubst ihn an."

Meine Augen wurden feucht, mein Blick verklärt und mein Herz pumpte das Blut schneller durch die Adern. Siennas Sohn – er war ganz nahe und doch so fern. Er kannte mich nicht, dabei wollte ich nichts lieber tun, als ihn in meinen Armen zu halten. Nur ein einziges Mal.

Minutenlang schauten wir dem Kleinen zu, wie er sich freute und jauchzte, jedes Mal, wenn Harry ihn anschubste. Dann kam der Augenblick, in dem Alistair ihn zu sich rief.

„Kieran, ich habe hier eine Banane für dich."

Harry stoppte die Schaukel und hob den Knirps kurz an, damit er mit seinen kurzen Beinchen auf der Erde landete. Sofort begann Kieran loszulaufen und als er Alistair erreicht hatte, kletterte er auf dessen Schoß, um nach der Banane zu greifen.

Als ich beobachtete, wie er sie aß, da sah ich Sienna vor mir. Vier Jahre alt, süß und niedlich. Das Blau ihrer Augen unterschied sich jedoch von seinen, es war dunkler. Kierans Iris leuchtete in einem hellen Blau, so klar wie der Himmel an einem Sommermorgen.

Mein Atem stockte, als er plötzlich zu mir schaute und verschmitzt lächelte.

„Hallo", sagte ich, „ich bin Seth, erinnerst du dich noch an mich?"

Angestrengt dachte er nach, lächelte erneut und schüttelte den Kopf, wobei sich sein kleines Gesicht mit einem Hauch dezenter Röte überzog.

„Wir haben Seth in dem großen Kaufhaus getroffen, in welchem wir deine Pullover besorgt haben", erklärte Harry, der inzwischen neben der Bank stand.

Jetzt kam Leben in den niedlichen Jungen. Begeistert klatschte er in seine kleinen Hände.

„Ja! Das war, als wir den Supermann Pullover dekauft haben!"

„Ganz genau", kam es von Harry.

Kieran betrachtete mich nun genauer.

„Hast du auch Kinder?", fragte er neugierig, so wie Sienna es immer tat, wenn sie etwas wissen wollte.

„Nein, leider nicht."

„Schade. Sonst hätte ich mit denen spielen können."

„Ja, das hättest du."

Seine drollige Art brachte mein Herz zum Schmelzen. Es quoll vor Freude beinahe über und als Kieran urplötzlich Anstalten machte, sich auf meinen Schoß zu setzen, bekam ich weiche Knie.

Alistair nahm kurz Blickkontakt mit Harvey auf, der nun die Muffins auspackte.

„Möchtest du einen Muffin, Kieran?", fragte ich.

„Au ja! Alistair darf ich einen haben?"

Es war süß, wie er nachfragte, nachdem er bereits geantwortet hatte. Alistair nickte zustimmend und so übergab Harvey eines der Gebäckstücke an Kieran. Er verspeiste das Teil mit Appetit und als ich seine klebrigen Finger betrachtete, die mit dem Zuckerguss in Berührung gekommen waren, holte ich ein Papiertaschentuch hervor, um diese vorsichtig zu säubern.

Ohne zu protestieren, ließ Kieran es geschehen. So, als sei es selbstverständlich für ihn, dass ich mich darum kümmerte.

„Du musst auch einen Muffin essen!", forderte er mich auf. „Und Alistair auch!"

„Und was ist mit uns?", beschwerte sich Harry und zeigte auf sich und Harvey.

„Ja, ihr müsst auch welche essen!", kam es sofort.

Das taten wir alle, zu Kierans Freude, der vergnügt quietschte.

Dann seufzte er kurz auf, lehnte den Kopf an meine Schulter und begann vor sich hinzusummen. Ein Kinderlied, soweit ich es heraushören konnte.

Atemlos verfolgte ich, wie er seinen Kopf plötzlich wieder zu mir drehte und zu lächeln begann.

Dieses Lächeln berührte mich so sehr, dass ich Mühe hatte, meine Tränen zurückzuhalten. Ich durfte nicht weinen, nicht in seiner Gegenwart, obwohl mir fast das Herz zerbrach.

Ich hielt Siennas kleinen Jungen in meinen Armen, meinen Neffen. Ein Teil von ihr war gerade bei mir. So nahe, wie ich sie seit Jahren nicht mehr gespürt hatte, so einzigartig, wie ich es mir nie hätte erträumen können. Ich hatte ihn praktisch nur in ihrem Bauch heranwachsen sehen, wie dieser immer dicker wurde, bis zu dem Tag, an dem sie plötzlich verschwand.

Es glich einem Gottesgeschenk, diesen kleinen Menschen berühren zu dürfen.

Vorsichtig streichelte ich mit meiner Hand über seinen Kopf, fühlte die weichen, dunklen Haare und lauschte seinem Atem, der ruhig und regelmäßig ging. So, als würde er gerade unser Beisammensein genießen; als würde er spüren, wie wichtig dieser Moment für mich, aber auch für ihn war.

Minuten vergingen und Kieran saß noch immer auf meinem Schoß. Seine kleine Hand wanderte zu meinem Gesicht und tastete sich zu meiner Wange. Ich begann zu lächeln und einem inneren Reflex folgend, hauchte ich ihm einen zarten Kuss auf die Stirn. Ganz sanft und zärtlich, so wie unsere Mutter es immer bei uns getan hatte, als wir klein waren.

„Das macht Mami auch immer! Und Papi auch!", kicherte er vergnügt.

Dann wandte er sich abrupt an Alistair.

„Wann darf ich zu Mami und Papi?"

„Bald, Kieran, sehr bald."

„Morgen?"

„Nein, morgen noch nicht", lautete Alistairs Antwort.

„Okeeyy."

Es hörte sich lustig an, dass er dieses Wort wie die Amerikaner aussprach, ansonsten jedoch einen eher britischen Slang besaß, der gelegentlich auch mit einem irischen vermischt wurde. Dass Niall Ire war, wusste ich und demnach konnte ich mir denken, dass Kieran dies von ihm hatte. Iren legten ihren Dialekt niemals ab, dafür war ihr Nationalstolz viel zu groß.

Gerne hätte ich Siennas Mann einmal kennengelernt und ihm dafür gedankt, dass er meine Schwester glücklich machte. Für dieses Glück hatte sie ihr einstiges Leben aufgegeben und ich hoffte, dass sie dies nie bereuen würde.

Die beiden waren mit einem unglaublichen Kind gesegnet. Ich liebte den Kleinen jetzt schon, obwohl ich ihn nur für eine kurze Zeitspanne bei mir hatte.

Jede Sekunde wurde kostbar, denn dass der Aufbruch bald nahte, konnte ich förmlich spüren. Doch vorher wollte ich ihm das Geschenk übergeben. Harvey und ich hatten auf Harrys Anraten hin, eine Mütze und passende Handschuhe mit Supermann Motiv gekauft. Kierans Freude kannte keine Grenzen, als er diese auspackte.

„Duck mal, Onkel Harry! Die passen zu meinem Pullover!", jauchzte er laut.

„Ja, das ist echt toll!", erwiderte Harry grinsend und zwinkerte mir verschwörerisch zu.

„Und wie sagt man, wenn man etwas geschenkt bekommen hat, Kieran?", meldete sich Alistair zu Wort.

Sofort drehte sich der Kleine in meine Richtung und nuschelte ein „Danke."

„Bitte, gern geschehen", erwiderte ich lächelnd.

„Ich glaube, Harry und du müsst gehen, es wird Zeit, dass du dich verabschiedest, Kieran", sprach Alistair zu meinem Neffen.

„Auf Wiedersehen, Kieran."

Ich wusste, dass es kein Wiedersehen geben würde.

Ein letztes Mal drückte ich ihn an mich, ein letztes Mal schenkte er mir sein süßes Lächeln und ein letztes Mal winkte ich ihm zu, als er mit Harry vom Spielplatz verschwand.

Dann brach ich in Tränen aus. Sie kamen so stark aus mir hervor wie nie zuvor. Mein kompletter Körper zitterte und bebte. Selbst Harvey, der ebenfalls leise weinte, gelang es nicht, mich zu beruhigen.

Wortlos reichte Alistair mir eine Packung Taschentücher, die ich beinahe restlos aufbrauchte.

„Danke, dass ich ihn sehen durfte."

Meine Stimme zitterte noch immer.

„Das war kein Problem."

Ich trocknete die letzten Tränen aus meinen Augen.

„Er ist wundervoll, so lieb und unschuldig. So, wie Sienna als kleines Kind immer war."

Ein wissendes Lächeln glitt über Alistairs Gesicht, als er sagte: „Ich habe Ihnen ja zu verstehen gegeben, dass er ebenso viel von Sienna hat, wie von Niall. Man sieht es nur auf den ersten Blick nicht, aber auf den zweiten."

„Das ist wohl wahr."

Nach einigen belanglosen Sätzen verabschiedeten wir uns voneinander. Harvey und ich erhoben uns von der Bank.

„Bis bald, Harvey, bis morgen, Seth."

„Bis morgen, Alistair."

Morgen begann ein neuer Tag, eine neue Herausforderung, um der Mafia auf die Schliche zu kommen. Ich würde alles daransetzen, dies zu tun.

Für Sienna, für Niall und für Kieran, dessen süßer Geruch noch immer in meiner Nase schwebte. Ich würde den kleinen Jungen, der mein Herz so sehr berührte, niemals wieder vergessen können.

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Ich glaube, auf dieses Kapitel haben schon einige gewartet.

Es war, aufgrund der zahlreichen Emotionen, sehr schwer zu schreiben, aber ich hoffe, dass ich es einigermaßen hingekriegt habe.

Danke für euren unglaublichen Support, die vielen Kommentare, Votes und Reads. Ihr seid meine Motivation!

Das nächste Update kommt vermutlich am Donnerstag.

LG, Ambi xxx


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