06. Barrow
♪ Cold as Ice - Foreigner
Louis
Ein heftiger Windstoß empfing mich, als ich gegen sieben in der Früh die Haustür öffnete, um meine morgendliche Kippe draußen zu rauchen. Da ich damit beschäftigt war, die Zigarette mit einem Sturmfeuerzeug anzuzünden, was Gott sei Dank funktionierte, achtete ich eher weniger auf meine Umgebung. Bereits nach zwei Schritten versank ich knietief in der weißen, pulvrigen Masse. Erst jetzt realisierte ich Brianas Zuruf, dass in der Nacht siebzig Zentimeter Neuschnee gefallen seien.
Zuerst wollte ich schimpfen, doch dann erinnerte ich mich daran, was man damit alles anstellen konnte. Schneemänner bauen, Schneeballschlachten veranstalten und – nun kam das Wichtigste – eine Probefahrt mit dem Schlittenhund Gespann zu wagen.
Seit Tagen lag ich Anuun damit in den Ohren, doch da bisher noch kein Niederschlag gefallen war, bekam ich lediglich ein Schulterzucken, sowie den Satz: „Wir müssen warten, bis genügend Schnee liegt", zu hören.
Gott sei Dank wurden meine Gebete dahingehend nun erhört.
Grinsend zog ich an meiner Zigarette und inhalierte den Rauch so tief, dass ich prompt einen Hustenanfall erlitt. Der erste Glimmstängel an Morgen war immer der Schlimmste. Ich musste die Lunge quasi erst freipusten. Schade, dass ich das Rauchen nicht einfach so sein lassen konnte wie das Vögeln. Natürlich fiel es mir nicht leicht darauf zu verzichten, aber ich hatte mich insoweit im Griff, dass ich ganz sicher nicht den nächsten Puff aufsuchen würde. Immerhin besaß ich zwei gesunde Hände und abgesehen davon wäre es mir nicht in den Sinn gekommen, Danielle zu betrügen.
Als ich die Zigarette zu Ende geraucht hatte, suchte ich nach dem Aschenbecher, welcher jedoch im Schnee versunken war. Warum hatte ich ihn gestern Abend nicht mit ins Haus genommen? Jetzt danach zu suchen, machte echt keinen Sinn und deshalb entsorgte ich die Kippe einfach in der weißen Pracht.
Nachdem ich mich einmal ausgestreckt hatte, kehrte ich wieder ins Haus zurück. Eine meckernde Briana kam mir entgegen gelaufen.
„Louis, kannst du nicht die Schuhe ausziehen? Du beschmutzt den Boden! Alles ist voller Schnee!"
Ihre Worte prallten an mir ab.
„Der taut auch wieder", erklärte ich grinsend.
Dann schaute ich mich nach meinem Sohn um. „Wo ist Freddie?"
„Im Bad, Händewaschen. Er kommt gleich."
„Gut, ich möchte nämlich einen Schneemann mit ihm bauen, nachdem wir gefrühstückt haben."
Ihr argwöhnischer Blick traf mich sofort.
„Wie kalt ist es denn?"
„Keine Ahnung, nicht kälter als während der letzten Tage. Also sollte der kleine Mann sich warm einpacken."
Kaum saß Freddie mit uns am Tisch, reichte ich ihm die Milch, damit er seine Smacks damit übergießen konnte.
„Vorsichtig, immer schön langsam", mahnte ich grinsend.
Ich konnte mich noch gut daran erinnern, als er dies zum ersten Mal versucht hatte. Es endete damit, dass sich auf dem Tisch eine riesige Milchpfütze befand. Doch nun war Freddie achtsamer geworden. Hochkonzentriert ließ er die weiße Flüssigkeit langsam in die kleine Schale laufen, bis seine Smacks komplett in Milch schwammen.
Lächelnd beobachtete ich meinen Sohn, wie er das Zeug in sich hineinschaufelte. Freddie hatte schon immer einen guten Appetit besessen und hier, in Barrow, wo er sich öfter an der frischen Luft aufhielt, als in London, aß er noch mehr. Doch das störte mich nicht, denn er wirkte keineswegs überproportioniert. Da er ständig in Bewegung war, bestand gar keine Chance, dass er dick werden würde.
„Wir bauen gleich einen Schneemann", klärte ich ihn auf, nachdem er seine Smacks verspeist und seinen Kakao getrunken hatte, den Briana jeden Morgen für ihn zubereitete.
„Super! Mami, kommst du auch mit?"
Zu Freddies Leidwesen schüttelte Briana mit dem Kopf. „Nein, mein Schatz, ich muss leider arbeiten."
In der Tat würde sie gleich vor dem Laptop sitzen, um mit unserem verbliebenen Team in London Kontakt aufzunehmen. Außerdem erstreckte sich ihre Arbeit hier vor Ort darauf, das Gebiet um Barrow zu sondieren. Sämtliche Zufahrtswege mussten in unserer Datei, welche einer Landkarte glich, gekennzeichnet sein und überwacht werden. Anuun war uns dabei eine große Hilfe, denn er kannte dieses Terrain wie seine Westentasche. Er war hier geboren und aufgewachsen.
Am heutigen Tag wartete ich besonders ungeduldig auf seine Ankunft, da er damit beginnen wollte, mich zum Musher auszubilden. Im Prinzip konnte jeder, der groß und kräftig genug war, ein Schlittenhundegespann lenken. Das Schwierige daran war, dass man sich das Vertrauen des Leithundes erwerben musste. Dieser setzte die Kommandos, welche man ihm zurief um, und gab sie an die restlichen Hunde weiter. Auf diese Art und Weise funktionierte das Gespann.
Schon vom ersten Tag an faszinierten mich die Huskys, welche mit uns zusammen auf dem riesigen Grundstück lebten. Sie schliefen in einer Art Scheune, die ein Bestandteil des u-förmigen Gebäudes bildete, in dem wir nun wohnten. Doch Hundegebell gehörte zu den Dingen, die man hier vergeblich erwartete. Diese Tiere bellten nicht, sie heulten wie Wölfe. Briana jagten die Töne Angst ein, ich hingegen fand es amüsant und bemerkenswert.
„Ein Husky lässt sich nicht dazu herab, zu bellen. Es sei denn, er möchte unbedingt spielen oder dich mit aller Gewalt auf etwas aufmerksam machen."
So lautete Anuuns Aussage, als ich ihn darauf ansprach.
Huskys zählten zu den Rudeltieren. Sie kuschelten sich beim Schlafen dicht zusammen, wie ich inzwischen herausgefunden hatte. Darum beneidete ich sie irgendwie, denn um ehrlich zu sein, fehlte mir Danielle sehr. Ich vermisste die Stunden, die wir zuhause auf dem Sofa verbbrachten, wenn wir beide frei hatten und unsere Zeit genossen. Selbst Freddie kuschelte öfter gemeinsam mit uns. Danielle war kein Fremdkörper für ihn, im Gegenteil. Die beiden kamen gut miteinander klar, was Brianna jedoch stets ein Dorn im Auge zu sein schien. Ich wusste nicht wieso, denn es lag nicht in Danielles Absicht, ihr Freddie wegzunehmen. Unser Sohn kam mit der Situation, dass es eine Frau gab, die seine Mutter war, und eine andere, mit der ich, sein Vater zusammen lebte, wesentlich besser klar als Briana.
Und jetzt war wieder alles anders. Wie wohnten gemeinsam unter einem Dach, aber waren nicht wirklich eine Familie. Insgeheim fragte ich mich, wie lange es noch dauerte, bis zwischen Briana und mir die Fetzen flogen. Ihr Ordnungsfimmel ging mir nämlich gewaltig auf den Keks. Ebenso ihr Gemecker bezüglich des Wetters.
Ich hingegen fand es toll hier. Nachdem ich zwei Tage gebraucht hatte, um mich mit den Temperaturen, die sich im Moment um den Gefrierpunkt schlichen, anzufreunden, unterlag ich jetzt der Versuchung, nackt im Schnee zu baden. Auch würde ich gerne mal in einem Iglu schlafen, das stellte ich mir spannend vor. Während ich in meine Gedanken versunken da stand, zupfte Freddie an meiner Hose.
„Dad, gehen wir jetzt raus?"
„Sofort, ich muss nur noch meine Jacke überziehen und du solltest das auch tun."
Nachdem wir uns angezogen hatten, liefen wir nach draußen und wie zu erwarten, ließ mein Sohn sich in den weichen Schnee plumpsen. Dabei jauchzte er wie verrückt. Grinsend schnappte ich ihn, setzte ihn auf meine Schultern und stapfte durch die weiße Pracht, bis wir den Platz erreichten, an dem der Schneemann gebaut werden sollte. Freddie und ich hatten unseren Spaß dabei. Als ich in meine Jackentasche griff und eine Möhre herausholte, welche ich dem Schneemann als Nase ansteckte, jubelte mein Sohn wie verrückt.
„Das sieht schön aus, Dad!"
Freudig tanzte er im Schnee, so lange bis Nanook, der Leitwolf, wie ich ihn insgeheim nannte, zu heulen begann. Die Huskys lagen draußen, nachdem ich sie heute Morgen gefüttert hatte und warteten ebenso wie ich, auf Anuuns Eintreffen. Nanooks Geheul kündigte die Ankunft des Mannes an, der zu unserem Netzwerk gehörte. Sofort stimmten die restlichen fünf Hunde mit ein und ehe ich mich versah, war das schönste Heulkonzert im Gange, das mir jemals zu Ohren gekommen war. Briana pinkelte sich bestimmt vor Angst in die Hose, obwohl sie drinnen saß.
„Hey, Louis!" Schwungvoll stieg Anuun von seinem Motorschlitten und wurde sofort durch die Hunde begrüßt. Allen voran Anana, eine wunderhübsche Hündin, mit weiß-grauem Fell, sowie einem braunen und einem blauen Auge. Auch Chu, Suka, Tikaani, Sakari und natürlich Nanook stoben durch den Schnee und sprangen an Anuun hoch. Ihre Namen hatte ich gleich am ersten Tag auswendig gelernt.
„Hey, Anuun, alles klar?"
„Bei mir schon, aber du siehst aus, als würde dir ein Pelz im Gesicht wachsen", ließ er lachend verlauten.
„Ich habe mich seit fünf Tagen nicht mehr rasiert", erklärte ich stolz.
Hier in dieser Einöde hatte ich die perfekte Gelegenheit, mir einen Bart stehen zu lassen. Wenn er erst mal da war, würde Danielle sich auch nicht mehr beschweren, denn nur Bartstoppeln kratzten, ein Vollbart jedoch nicht.
Anuuns braune Augen blitzten auf, als er Freddie hochhob und einmal durch die Luft wirbelte. Die beiden waren im Nu Freunde geworden und man merkte, dass Anuun selbst Vater war, obgleich seine Kinder schon erwachsen sein mussten. Sein Alter war schwer zu schätzen, wie bei allen Inuit, aber er musste die Fünfzig auf jeden Fall bereits weit überschritten haben. Seine leicht bräunliche, wettergegerbte Haut passte ebenso perfekt zu ihm, wie das lange, rabenschwarze Haar, welches er stets zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Bei genauerem Hinsehen konnte man dünne, kleine, graue Fäden ausmachen, die sich dazwischen versteckten.
„Bist du bereit für deine erste Musher Stunde?", fragte er und setzte Freddie auf seine breiten Schultern.
„Na klar, wir müssen nur noch den Kleinen nach drinnen bringen."
„Ich will mit!", protestierte mein Sohn sogleich, was ich jedoch mit einem Kopfschütteln beantwortete.
„Das geht leider nicht, du musst bei deiner Mum bleiben und auf sie aufpassen."
Als Freddie seine Unterlippe beleidigt nach vorne schob, gab Anuun einen Kommentar dazu ab.
„Weiß du, Freddie, hier in Nord Alaska ist es immer so, dass ein Mann sein Hab und Gut bewacht. Und da dein Dad nun außer Haus muss, bist du während dieser Zeit für alles verantwortlich."
Das gab natürlich den Ausschlag, denn Freddie fühlte sich nun wichtig.
„Ok, dann passe ich auf Mum auf", kam es aus seinem Mund.
„Fein, soll ich dich zum Haus tragen?"
Als er nickte, stiefelte Anuun los, während ich den Hunden ihr Geschirr überzog. Seit Tagen hatte ich das geübt, es war auch nicht besonders schwer, zumal sie still dabei hielten. Nun mussten sie nur noch miteinander verbunden werden, doch das erledigten Anuun und ich gemeinsam.
„Wir nehmen den größeren Schlitten, damit ich mitfahren kann. Du Greenhorn kriegst das ja noch nicht alleine hin", zog er mich auf.
„Pass bloß auf, dass ich dich nicht in der Wildnis aussetze", lautete mein Kommentar, worauf Anuun herzlich zu lachen begann.
„Ich finde immer einen Weg nach Hause", erklärte er und schickte sich an, den größeren der beiden Schlitten fertig zu machen.
Sofort ertönte ein freudiges Jaulen, gemischt mit einem Heulen. Die Huskys wussten genau, was Sache war.
„Ich würde vorschlagen, du machst Nanook klar, dass du heute der Boss bist", meinte Anuun lässig, bevor er sich anschickte, seinen Platz auf dem Schlitten einzunehmen. Dafür suchte er sich die bequeme Sitzposition im vorderen Teil aus, während ich hinten stehen durfte. Heute übernahm ich endlich die Rolle des Mushers.
„Du musst deine Befehle laut und scharf aussprechen, damit er merkt, was Sache ist", erklärte Anuun, der es sich unter den warmen Decken bequem machte und sofort zu fluchen anfing.
„Es ist viel zu mild heute für das dicke Zeug. Bei minus zwanzig Grad wäre das vielleicht angenehm."
„Da friert mir das Gesicht ein", kam es prompt von mir.
„Du wirst dich dran gewöhnen, Greenhorn, und Freddie auch. Aber denk immer daran, dass kleine Kinder nicht so lange draußen sein dürfen, wenn es zu kalt wird."
Zweifelsohne zählte Anuun zu den fürsorglichen Menschen.
Es war gar nicht so einfach, die Hunde, oder besser gesagt Nanook dazu zu bewegen, meinen Befehlen zu gehorchen, obwohl Anuun ihm zu verstehen gegeben hatte, dass er heute meinen Anweisungen Folge zu leisten hatte. Zuerst stellte Nanook sich taub, doch als mein Kommandoton schärfer wurde, bequemte sich der Leitwolf zu folgen. Alle anderen liefen mit.
Nannok und Tikaani fungierten als sogenannte Leaddogs, Anana und Sakari in der Mitte als Swingdogs und Chu und Suka als Wheeldogs. Zusammen bildeten die sechs ein eindrucksvolles Gespann. Die Wheeldogs nahmen die hinteren Plätze, direkt am Schlitten ein. Es waren große, kräftige Tiere, die in der Lage dazu waren, den Schlitten in der Spur zu halten. Die Swingdogs hingegen waren schnell und meist zierlicher als die Wheeldogs. Den beiden Leaddogs im vorderen Bereich fiel die schwerste Aufgabe zu. Sie mussten die Befehle des Mushers ausführen und diese an ihre Gefährten weitergeben. Außerdem sollten diese Hunde ein starkes Nervenkostüm besitzen, um in brenzligen Lagen ruhig zu reagieren. Nanook zeichnete sich durch diese Merkmale aus und Tikaani, sein Stellvertreter, ebenfalls.
Bereits nach kurzer Zeit hatte ich unglaublichen Spaß daran, mit den Hunden durch die Gegend zu düsen. Sie legten ein ordentliches Tempo vor, was mir bewusst machte, dass diese Tiere vor Stärke und Ausdauer nur so strotzten.
Hin und wieder ließ Anuun mich die Richtung ändern und irgendwann befanden wir uns mitten im Wald.
„Hier in der Nähe gibt es eine Höhle", erklärt er. „Die habe ich mal als Zuflucht benutzt, als ich in einen Schneesturm geriet. Ich musste die ganze Nacht darin ausharren."
„War das nicht zu kalt?"
„Unsinn! Die Hunde haben mich gewärmt. Sie kuschelten sich an mich, dass ich dachte, ich bin in einer Sauna."
Er lachte und ich stimmte mit ein. Es war leicht, Anuun zu mögen, stets wirkte er locker und unkompliziert, aber er zeichnete sich ebenso durch Gründlichkeit und Zuverlässigkeit aus. Dinge, auf die Alistair sehr viel Wert legte. Denn nur so funktionierte das Netzwerk.
Anuun ließ mich geradewegs in die Stadt fahren. In Nord Alaska stellte es durchaus nicht Ungewöhnliches dar, wenn man mit einem Schlittenhundegespann anstatt einem Auto oder Motorschlitten durch die Gegend fuhr.
„Wenn der Winter richtig zuschlägt ist das Auto unsere letzte Wahl", erklärte Anuun. „Du kannst nur noch mit Schneeketten fahren und manchmal funktioniert selbst das nicht mehr. Die Motorschlitten sind da wesentlich praktischer und nichts geht über einen Hundeschlitten."
„Das glaube ich dir aufs Wort", lautete meine Aussage.
Nachdem wir das Gespann vor einem Laden geparkt hatten, wies Anuun mich an, mit ihm in das Innere des Geschäfts zu marschieren. Dort gab es von Lebensmitteln über Elektrogeräte, sowie Tiernahrung und Handwerksutensilien alles zu kaufen, obwohl der Laden ziemlich klein war. Gespannt wartete ich, was Anuun hier erwerben wollte und zu meiner Überraschung ließ er sich eine Dose Schnupftabak aushändigen.
„Ich bin süchtig nach dem Zeug", gestand er grinsend, bevor er den Mann hinter der Ladentheke mit mir bekannt machte. Niemand stellte sich hier mit seinem Nachnamen vor, was mir äußerst positiv auffiel, denn so konnte man viel leichter untertauchen. Ich war einfach nur Louis und der Typ hieß Desna. Speziell unserem Klienten würden diese Einöde und die Gepflogenheiten hier zugutekommen.
Er würde einfach nur John sein. Pfarrer John, um es auf den Punkt zu bringen, denn er konnte hier seinen Job ohne weiteres ausüben. An Geistlichen mangelte es in der Gegend um Barrow nämlich gewaltig. Die meisten Inuit in dieser Region gehörten dem christlichen Glauben an. Und deshalb waren sie froh, dass ein Pfarrer sich hier niederließ. Den ganzen Schamanen Unsinn hatten sie bereits seit einem Jahrhundert abgelegt. Ich hatte mich genauesten über solche Dinge informiert, das gehörte schließlich zu meinen Aufgaben.
Außer seinem Schnupftabak kaufte Anuun noch eine Flasche 'Feuerwasser', wie er den Schnaps nannte.
„Wenn du Lust hast, können wir heute Abend einen heben", meinte er grinsend.
„Das könnten wir allerdings."
In der Tat war mir nach einem Männerabend zumute. Ich ertrug es nicht länger, in der penibel aufgeräumten Bude ständig darauf zu achten, dass ich ja keine Krümel irgendwo verstreute oder gar die Position der Sofakissen durcheinander brachte. Sonst traf mich nämlich Brianas mörderischer Blick. Eines Tages würde ich bestimmt tot umfallen, weil sie einen Voodoo-Zauber gegen mich anwendete.
„Fein, sagen wir gegen halb neun bei mir?", holte mich Anuuns Stimme aus meinen Gedanken.
„Abgemacht."
Der Weg bis zu unserer Bleibe erstreckte sich vom Mittelpunkt der kleinen Stadt auf ungefähr zwei Meilen. Das Gehöft lag etwas außerhalb, war jedoch gut über die Straßen, deren festgefahrene Schneedecke sich perfekt für den Hundeschlitten anfühlte, zu erreichen.
Es erübrigte sich zu erwähnen, dass Briana überhaupt nicht von der Idee angetan war, dass ich Anuun an jenem Abend in seinem Heim besuchte. Zu diesem Zweck nahm ich einen der drei Motorschlitten, die zum Inventar des Hauses gehörten und machte mich schleunigst aus dem Staub, nachdem wir Freddie zu Bett gebracht hatten. Innerhalb weniger Minuten erreichte ich Anuuns kleines Haus, das schon von außen urgemütlich wirkte. Dieser Eindruck verstärkte sich, als ich das Innere betrachtete. Im Kamin flackerte ein Feuer und die Wände waren mit Bärenfellen verziert. Selbst auf dem Sofa lagen Felldecken, die einen bestimmt ins Schwitzen gerieten ließen.
„Setz dich, Louis", forderte Anuun mich freundlich auf, nachdem ich meine Jacke und den Schal abgelegt hatte.
Wenigstens hier durfte ich meine Schuhe anbehalten.
Während ich mich leger in einen der Sessel pflanzte, holte er zwei Gläser aus einem Schrank, Whiskeygläser um es genauer zu definieren.
„Was schaust du so? Wir geben uns hier in Alaska nicht mit winzigen Schnapsgläsern ab", lautete seine Ansage, die mir wirklich gut gefiel.
Heute Abend wollte ich mich richtig betrinken, komme was wolle. Und es war mir scheißegal, was Briana dazu sagen würde. Schließlich hatte sie kein Recht dazu, mir Vorschriften bezüglich meiner privaten Unternehmungen zu machen.
Nachdem Anuun die beiden Gläser gefüllt hatte, stießen wir an und ich kippte den Alkohol mit Schwung nach unten. Das Brennen in meiner Kehle ignorierte ich geflissentlich. Nach dem zweiten Glas würde ich das sowieso nicht mehr spüren. Und dann begannen wir unser Gespräch. Wir kamen von unseren Berufen über das Netzwerk, die Gegend, das ewige Eis, das nur im Sommer für zwei Monate taute, bis zu unseren Familien, auf alles zu sprechen. Ich hatte gewusst, dass Anuun alleine lebte, jedoch nicht, dass seine Frau gestorben war. Ihr Bild hing über dem Kamin und ich konnte es in seinen Augen sehen, dass er noch immer trauerte, obwohl dies bereits zehn Jahre zurücklag. Es musste unglaublich schwer sein, auf jemanden zu verzichten, den man aufrichtig geliebt hatte.
Umso erfreuter erzählte er über seine beiden Kinder, eine Tochter und einen Sohn. Der Sohn lebte in Anchorage, hatte dort Medizin studiert und arbeitete als Arzt in einem Klinikum. Seine Tochter hingegen war in Barrow geblieben und managte eines der fünf Hotels im Ort. Es hatte mich ja schwer gewundert, dass es in dieser Einöde überhaupt so etwas gab, und dann gleich fünf an der Zahl. Ebenso konnte dieser Ort mit acht Restaurants bzw. Kneipen aufwarten sowie einer kleinen Touristik Agentur.
Anuun schlug vor, dass wir irgendwann zusammen Essen gehen sollten, Briana, Freddie und ich.
Nach dem dritten Glas Schnaps ließ er folgenden Satz verlauten: „Was ist das zwischen ihr und dir?"
Ich nahm einen kräftigen Schluck, bevor ich antwortete: „Nichts. Ich habe keine Gefühle für sie, falls du das meinst."
„Und Sex?"
„Gott bewahre! Den hatten wir einmal und dabei ist Freddie entstanden."
„Aber du liebst deinen Sohn, das kann ich sehen und fühlen."
„Natürlich liebe ich ihn. Er bedeutet mir alles und genau deshalb habe ich Briana mitgenommen. Damit ich Freddie bei mir haben kann."
„Verstehe."
Mein nächster Satz ließ Anuun allerdings etwas verwirrt dreinschauen.
„Aber Eleanor, meine Ex-Freundin kommt auch noch hierher. Spätestens, wenn Briana und ich uns richtig ankeifen. Dann werde ich Alistair um Hilfe bitten."
„Eleanor ist deine Ex-Freundin?"
„Ja, so sieht es aus."
„Hm, warum machst du es dir so schwer?" Seine braunen Augen lagen auf meinem Gesicht, als er diese Frage stellte.
„Ich mache es mir nicht schwer, es wird vieles vereinfachen, denn sie ist der perfekte Puffer, der sich zwischen uns stellt, wenn es nicht läuft", erklärte ich ohne Umschweife.
Anuun kratzte sich am Hinterkopf.
„Hast du eigentlich keine Lebensgefährtin?"
„Doch, Danielle. Aber sie arbeitet in einem völlig anderen Bereich. Sie ist nicht mal bei der Polizei. Also konnte ich sie schlecht mit hierher nehmen."
„Das klingt einleuchtend, wenngleich auch schade für dich."
„Es ist nicht zu ändern."
Schnell kippte ich den Rest, der sich noch in meinem Glas befand nach unten. So langsam entfaltete der Alkohol seine Wirkung. Ich fühlte mich beschwingt und frei und hätte am liebsten alle Menschen umarmt. Nun war es an der Zeit aufzubrechen.
„Du kannst ruhig den Motorschlitten nehmen, die Polizei nimmt es hier mit den Kontrollen nicht so genau."
„Super, denn laufen kann ich jetzt echt nicht mehr."
Mit einem lauten Rülpsen bestieg ich den Motorschlitten, startete diesen und düste ab in die Prärie. Laut sang ich vor mich hin und als ich unser Heim vor meinen Augen auftauchen sah, grinste ich breit. Barrow war herrlich. Man konnte betrunken Motorschlitten fahren und den Schnaps soff man aus Whiskeygläsern. Ich wollte nie wieder hier weg.
Ein wenig unbeholfen stakste ich durch den tiefen Schnee, nachdem ich den Motorschlitten abgestellt hatte. Laut rülpsend warf ich meine Jacke von mir und wollte gerade die Boots ausziehen, als ich eine angepisste Stimme vernahm. Briana.
„Du bist betrunken, Louis!", keifte sie.
„Ach was", erwiderte ich trocken.
„Hältst du das für richtig? Ich meine, was soll denn Freddie von dir denken?"
„Freddie schläft, es sei denn er würde jetzt durch dein Gezeter wach werden, dann ist es aber deine Schuld, dass er mich in diesem Zustand sieht", blaffte ich sie an.
„Meine Schuld?! Du könntest dich zur Abwechslung mal an die eigene Nase fassen! Seit wir hier sind, benimmst du dich wie ein Chaot! Alles muss ich hinter dir herräumen und..."
„Stopp! Es reicht!", fiel ich ihr ins Wort. „Du musst gar nichts hinter mir herräumen, es ist dein persönliches Vergnügen, wenn du es trotzdem tust!"
Sie ging gar nicht auf meine Worte ein, sondern zischte böse: „Sieh nur, wie der Boden schon wieder aussieht! Du bist schon wieder mit den Boots ins Haus gelaufen!"
„Weißt du was? Leck mich doch! Ich schlafe heute Nacht bei den Hunden in der Scheune!"
Nach diesen Worten drehte ich mich um, schnappte meine Jacke, die am Boden lag und watschelte erneut durch den Schnee. In der Scheune angekommen, begrüßte ich zunächst die Hunde, die aufmerksam ihre Köpfe hoben, als sie mich erblickten.
„Na, Jungs und Mädels, habt ihr noch ein Plätzchen für mich frei, wo ich heute schlafen kann?", fragte ich grinsend und ließ mich im Stroh nieder.
Was dann geschah, war einfach umwerfend. Die sechs Huskys kuschelten sich an mich, sodass ich gewärmt wurde. Obwohl in der Scheune Temperaturen um den Gefrierpunkt herrschten, spürte ich die Kälte nicht. Binnen weniger Minuten versank ich in einen friedlichen Schlaf.
Am nächsten Morgen erwachte ich durch das Gefühl einer Zunge, die über mein Gesicht schleckte. Nanook stand voller Tatendrang neben mir und wartete, dass ich Tür öffnete, damit die Huskys nach draußen konnten. Seufzend setzte ich mich auf und griff zunächst nach dem Handy. Es wurde höchste Zeit, Verstärkung für mich anzufordern. Deswegen versendete ich eine Textnachricht an Eleanor, in der Hoffnung, sie bald in Barrow begrüßen zu dürfen. Ich hatte gerade den Button zum Senden angeklickt, als eine WhatsApp Nachricht von Alistair einging. Das Verschlingen seiner Zeilen bewirkte, dass mein Puls in die Höhe schoss und ich ein einziges Wort ausstieß.
„Fuck!"
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Anstatt den einen Cliffhanger aufzuklären, produziere ich munter einen neuen! :D Aber es soll ja nicht langweilig werden, ich muss euch ja bei Laune halten. ^^
Ich hatte riesigen Spaß, dieses Kapitel zu schreiben, zum einen, weil ich Louis' Charakter in der Story absolut mag, zum anderen auch, weil ich euch Barrow und die Huskys ein bisschen näher bringen wollte. Einige von euch wissen es bereits: Wir haben selbst einen sibirischen Husky als Haustier, deshalb weiß ich, wie diese Hunde ticken. Die Sache mit dem Schlittenhundgespann habe ich natürlich gegoogelt, auch das hat unglaublichen Spaß gemacht.
Ich hoffe, dass euch das Kapitel gefallen hat!
LG, Ambi xxx
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