Kapitel 5


Während wir zu Ende aßen, leerte sich der Raum um uns herum langsam. Als wir schließlich fast die Letzten waren stand, ein Lehrer mit kurzen schwarzen Haaren aus der Lehrergruppe auf und kam zu uns herüber.

„Hallo", begrüßte er uns „ich bin Herr Schwarz-Feder. Lehrer für Mathe, Physik, Verwandlung und euer Klassenlehrer. Ich wollte dir das hier noch geben." Er reichte mir ein rechteckiges Holzbrett, etwa so lang wie die Länge von meinem Ellenbogen bis zu meinen Fingerspitzen, dazu eine kleine Kiste mit mehreren Tuben verschiedenfarbiger Farbe und ein paar Pinsel. „Das ist für das Schild für deine Tür. Gib mir die Sachen einfach am Montag im Unterricht zurück. Morgen ist Sonntag, da habt ihr ja noch frei."

Ich bedankte mich. Er drehte sich um und ging zur Tür. Unterwegs stolperte er allerdings prompt über eines der herumliegenden Kissen. Geschickt fing er seinen Sturz ab, aber begann sofort vor sich hin zu schimpfen: „Diese verdammten Kinder, nie können die hinter sich aufräumen, denen müsste man mal..."

Als er die Hütte verlassen hatte grinste Amelie mich an und formte mit den Lippen das Wort Amselwandler. Schließlich standen auch wir auf, brachten unser Geschirr zurück zur Ausgabe und verließen die Hütte. Ich hob meinen Koffer und meinen Rucksack auf und überließ Amelie die Führung. Die letzten Strahlen der warmen Septembersonne fielen durch die Blätter und ließen rot-goldene Sprenkel über die Bäume und Hütten wandern.

„Warte kurz" Ich zog mein Handy aus der Tasche und machte schnell ein Foto, um es Marie zu schicken. Amelie führte mich um die große Hütte in der Mitte herum und über eine Hängebrücke auf eine weitere zu. An ihrer Tür hingen zwei Schilder mit den Namen Schatten und Nina. Wir gingen um die Hütte herum und über einen circa zwanzig Meter langen Steg an der Rückseite auf eine andere kleine Hütte zu, an der der Weg endete. Auch an ihrer Tür hingen zwei reich verzierte Schilder. Eins mit der Aufschrift Lotti, das andere mit der Aufschrift Amelie.

Amelie zog sich ein langes Lederband über den Kopf, an dem sowohl ein altmodisch geformter Schlüssel, als auch ein silberner Anhänger mit Pfotenabdruck hingen. Sie schloss die Tür auf und hielt sie offen, damit ich mit meinen voll beladenen Armen an ihr vorbeikonnte. Es war ein behaglicher runder Raum, gebaut aus hellem Holz. Der Geruch von Harz stieg in meine Nase. Alle Möbel waren an die Wände angepasst, so war das Bett leicht gebogen und der Schrank auch. Rechts neben der Tür an der Wand hing ein kleines Waschbecken, daneben stand ein Schrank und ein Bett. Links von der Tür stand eine Kommode auf der ein kleiner Schuhkarton mit mehreren bunten Stofffetzen stand. Daneben wieder ein Schrank und ein Bett. Um den Baum in der Mitte war ein runder Tisch mit drei Stühlen gebaut. In der Wand waren geräumige Fenster mit im Moment noch zurückgezogenen bunten Vorhängen.

„Und wo soll ich schlafen?", fragte ich verwirrt. „Ich meine, ihr seid doch schon zu zweit." Amelie schloss die Tür hinter mir.

„Ja, aber Lotti hat kein Bett. Sie hasst es, in ihrer Menschengestalt zu schlafen. Sie meint, das fühlt sich falsch an. Sie wohnt in dem Baum da drüben, wo das Seil hinführt." Ich stellte meinen Koffer also neben das rechte Bett. Amelie ging zu ihrem Bett und nahm ein paar Zettel, einige Hefte und einen Schlüssel wie ihren an einem Lederband von ihrem Nachttisch und gab sie mir. „Das sind deine Hefte, dein Stundenplan und die Hausordnung. Den Schlüssel trägst du am besten um den Hals oder steckst ihn in die Hosentasche. Zur Not haben wir aber noch einen unter dem losen Brett vor der Tür. An den Wochenenden dürfen wir in die Stadt hier in der Nähe. Wolfsbergen heißt die. Ungefähr eine halbe Stunde zu Fuß. Da gibt es ganz viele kleine Läden und eine Bücherei, du glaubst nicht, wie viele Bücher die dahaben." Ihre Augen glänzten während sie erzählte. Ich nickte und legte meine Sachen auf den Boden vor meinem Bett. „Kann ich dich mal als Luchs sehen?", fragte sie neugierig.

„Aber nur wenn du dich auch verwandelst."

„Ich kann's versuchen.", meinte sie etwas unsicher.

„Okay." Ich schloss die Augen und dachte an die typischen Merkmale eines Luchses. Die Pinselohren, das gefleckte Fell, der kurze Schwanz, die Krallen. Ich spürte, wie mein Körper zu kribbeln begann und ich mich verwandelte. Wenige Sekunden später war ich ein vollständiger Luchs und öffnete die Augen. Meine Sicht war deutlicher und schärfer als vorher und auch mein Gehör war besser. Ich konnte die Mädchen in der Hütte nebenan reden hören. Plötzlich ertönte ein freudiges Bellen von der anderen Seite des Raumes.

Ich hab's geschafft! hörte ich plötzlich eine freudige Stimme in meinem Kopf Ganz ohne Hilfe! Eine schwarz-weiße Border Collie Hündin kam freudig auf mich zu gehüpft und sprang wie ein Flummi um mich herum. Ich hab's geschahafft, Ich hab's geschaafft! Hörte ich sie wieder und wieder jubeln. Mit eingezogenen Krallen verpasste ich ihr einen leichten Schlag, der sie in der Luft aus dem Gleichgewicht brachte. Taumelnd kam sie auf dem Boden auf und brachte sich blitzschnell gegenüber von mir in Kampfstellung. Ich sah das schelmische Funkeln in ihren Augen. Los Miezekätzchen, provozierte sie mich, versuch's nochmal.

Na warte. Ich schnellte auf Amelie zu, doch die machte eine schnelle Wende und schnappte im nächsten Moment nach meinem Schwanz. Blitzschnell drehte ich mich um und zog ihr die Beine weg. So balgten wir uns weiter bis wir schließlich schnaufend und keuchend nebeneinander auf dem Boden lagen. Unentschieden? Fragte ich.

Unentschieden. Nach einigen Bemühungen schafften wir es schließlich beide uns zurück zu verwandeln.

„Pass auf, als Mensch besieg ich dich locker, du Fußhupe", neckte ich sie, „daheim hatte ich zwei Mal die Woche Judo."

„Ja klar", erwiderte Amelie spöttisch „aber nicht mehr heute. Ich geh noch ins Waschhaus aufs Klo. Musst du auch?" Ich schüttelte den Kopf. Sie zuckte die Schultern, ging nach draußen und schloss die Tür hinter sich.

Ich begann mir am kleinen Waschbecken die Zähne zu putzen. Aus dem Spiegel blickte mir ein rundes Gesicht mit braunen Augen entgegen. Ich lief Zähne putzend zu Amelies Seite des Zimmers und schaute aus dem Fenster. Draußen war es inzwischen dunkel geworden und ich konnte die hell erleuchteten Fenster der anderen Hütten gut erkennen. In der Hütte, die unserer am nächsten war und etwas tiefer lag, konnte ich einen Jungen erkennen, der auf seinem Bett saß und in einem Buch las. Er war unbestritten hübsch, hatte wirre, braune Haare und schmale Schultern. Mein Gehirn versuchte jedes Detail von ihm aufzunehmen, als müsste ich ihn gleich zeichnen oder beschreiben. Ich spürte mein Herz etwas schneller klopfen.

Ewig musste ich ihn angestarrt haben, denn ich hörte die Hängebrücke leise klappern als Amelie zurückkam. Schnell lief ich zum Waschbecken und spülte meinen Mund aus. Als Amelie hereinkam und die Tür abschloss zog, ich gerade die Vorhänge zu. Sie gähnte „Zeit fürs Bett."

So beiläufig wie möglich fragte ich sie: „Wer ist eigentlich der braunhaarige Junge in der Hütte da drüben?"

„Felix heißt der. Ist ein ganz netter Kerl, joa. Schon vorgestern gekommen.", erzählte sie, während sie sich umzog. Meinen Schlafanzug hatte ich schon angezogen, als ich mich zurückverwandelt hatte. Ich drückte auf den Lichtschalter neben der Tür und lief zielstrebig zum Bett. Zwar waren meine Augen als Mensch nicht so gut wie als Luchs, aber ich konnte trotzdem einigermaßen gut im Dunkeln sehen. Aus Amelies Richtung hörte ich einen dumpfen Schlag und ein leises Fluchen: „Orr, verdammte Hundeaugen. Aua, mein Fuß..." Ich musste kichern während ich mich unter die Decke kuschelte. Ein Rascheln verriet mir, dass auch Amelie sich unter ihrer Decke zusammengerollt hatte.

„Mögen die Bäume für dich träumen.", flüsterte ich einen Wandlerwunsch, den mir mein Vater einmal erzählt hatte. Zurück kam ein leises Schnarchen.

Ich blickte an die Holzdecke. Irgendwie fühlte es sich richtig an hier zu sein. Ich konnte nicht sagen warum, aber ich fühlte es. Ganz tief in mir drin war etwas zur Ruhe gekommen. Etwas das dauerhaft in Bewegung gewesen war. Wie eine Maus im Hamsterrad. Doch jetzt stand es still, oder schlief vielleicht.

Und mit diesem Gedanken schlief ich schließlich ein.

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