Kapitel 41
Auch Mr. Brighteye schien ziemlich überfordert. Er verließ den Weg zwischen Leiter und Waschhaus und lief durch den dort schon wieder höheren Schnee zu der Tür des linken Klassenzimmers. „Kommt."
Irritierte Blicke wechselnd liefen wir ihm nach. Er schloss die Tür auf und wies uns an, unsere Schuhe abzuklopfen. Als wir alle in dem kalten, recht dunklen Klassenraum standen schloss er die Tür wieder.
„Schuhe aus." Gehorsam und etwas eingeschüchtert von seinem harten Ton taten wir wie uns geheißen. Wir standen vor dem Pult und sahen ihm stumm dabei zu, wie er aus einem Regal hinten im Klassenzimmer Tierlexika zog. Nina zitterte. Amelie hielt ihre Hand und Benny saß als Wolf auf einem Haufen Winterklamotten neben ihr und drückte sich dicht an ihr Bein.
Mr. Brighteye kam wieder zurück mit einem Stapel Bücher in den Armen. Seit unserer ersten Kampf und Überleben Stunde hatte ich nicht mehr so viel Respekt vor ihm gehabt. „Setzt euch hin. Bitte."
Nach nur wenigen Sekunden saßen wir in einem kleinen Kreis auf dem kalten Parkett. „Habt ihr schon mal von Tripelwandlern gehört?" Einige von uns nickten, andere schüttelten den Kopf. Unter ihnen war Nina. „Tripelwandler haben mehr als zwei Gestalten. Wie der Name schon sagt, drei. Davon ist meistens eine stärker. Nina, bei dir ist das die Zecke. Die dritte Gestalt ist meistens verborgen. Der Körper selber versucht, sie zu unterdrücken. Es braucht viel Talent in Gedankenkommunikation um eine dritte Gestalt spüren zu können." Er nickte Benny anerkennend zu.
„Aber... Wie? Warum?" Ninas Stimme klang gebrochen und heiser.
„Eine Laune der Natur. Tripelwandler sind selten, deshalb" er sah jedem von uns einzeln in die Augen, „haltet ihr das bitte geheim. Es sei denn, Nina erlaubt es euch ausdrücklich. Kapiert?"
Wir nickten einstimmig. „Kann... Kann ich das mal versuchen? Mit der dritten Gestalt?"
„Meinetwegen ja." Er klopfte auf den Stapel mit den Büchern. „Aber wenn es dir unangenehm ist, oder du nicht mehr möchtest, sag bitte sofort Bescheid. Mit dritten Gestalten ist nicht immer zu spaßen."
Während unser Lehrer die Bücher nach Bildern von Seehunden durchblätterte, hatte ich Zeit nachzudenken. Das mit der dritten Gestalt erklärte eine Menge. Zecken waren nicht für ihre Geselligkeit bekannt, aber Nina verbrachte die meiste Zeit zusammen mit Schatten, Sonja oder Lukas. Auch ihre Vorliebe zum Schwimmen passte irgendwie dazu.
„Hier." Mr. Brighteye schob ihr eines der Bücher zu. Auf der linken Seite prangte das Bild eines jungen Seehundes. Nina betrachtete es eingehend. Alle anderen starrten sie erwartungsvoll an. „Kribbelt es?"
Sie schüttelte den Kopf. „Nur ganz leicht. Ein ganz kleines bisschen im Bauch vielleicht." Ihr Kribbeln fing im Bauch an? Meins begann immer im Nacken.
„Mach mal die Augen zu.", meinte Amelie. Vermutlich hatte sie solche Übungen im Sommer selber oft genug durchkauen müssen. „Stell dir den Seehund vor. Nicht platt wie auf dem Papier, sondern lebendig. Wird's mehr?"
Nina schloss die Augen und nach einer Weile nickte sie.
„Gut." Mr. Brighteye lächelte. „Konzentrier dich weiter drauf." Nachdem er fertig gesprochen hatte, verwandelte er sich in nur einem Augenblick. Auch er schloss die Augen. Ich spürte, wie Gedanken von ihm zu Nina flossen.
Das Rauschen von Wellen. Der Geruch von Salzwasser. Das Gefühl vom Meer.
Ich unterdrückte ein Keuchen, als ich sah, wie sich Ninas Haut auf ihren Wangen grau-braun färbte. Ihre Haare verschwanden und sie wurde etwas kleiner. Als Mr. Brighteye ihr eine letzte Welle von Meeresgedanken schickte, verwandelte sie sich vollständig.
Auf Ninas Winterjacke saß jetzt ein Seehund, der mit dunklen Knopfaugen in die Runde blickte.
Schön. Mr. Brighteye schien zufrieden.
Das ist komisch. Ich kann mich gar nicht richtig bewegen. Sie versuchte vorwärts zu robben, rutschte aber nur dank ihrer Jacke etwas nach vorne. Ich will meine alte Gestalt zurück. Die ist besser.
Johanna streckte langsam eine Hand aus und strich ihr über den Kopf. „Das fühlt sich komisch an."
Jaja. Nina murrte. Dann schrumpfte die Robbe nach und nach zusammen und sie schien komplett verschwunden zu sein. Wärt ihr so nett euch umzudrehen?
Gehorsam schlossen wir die Augen, oder drehten uns auf dem Hinterteil um. Dem Rascheln nach zu urteilen zog sich Nina grade wieder an.
„Okay." Ich nahm die Hände wieder von den Augen. „Aber könnt ihr das für euch behalten? Ich will nach den Ferien nicht das Gesprächsthema der gesamten Schule sein. Außerdem ist die Gestalt eh nicht so dolle. Es sei denn, man wohnt am Meer."
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