Kapitel 24

Am Samstagvormittag hatte ich mich hinter unserer Hütte mit Eldina zum Üben verabredet. Amelie wollte sich im Wald ein bisschen die Beine vertreten, hatte mir aber hoch und heilig versprochen vorsichtig zu sein und sich beim kleinsten Anzeichen einer Eule im Unterholz zu Verstecken.

Ich schlug gerade ein paar Räder nacheinander, um mich aufzuwärmen, als Eldina endlich kam.

„Hallo. Machst du mir wieder Hilfestellung?"

Ich lächelte. „Klar. Du weißt ja was du machen musst."

Eldina versuchte schon seit einer Weile ihr freies Rad zu lernen. Ich hielt ihre Hüfte, während sie wieder und wieder Anlauf nahm, absprang und versuchte wieder auf den Füßen zu landen, ohne mit den Händen den Boden zu berühren.

„Dein Anfang ist wirklich gut, aber du ziehst die Beine nicht schnell genug nach unten. Dann bist du zu lang in der Luft und setzt die Hände auf."

Sie nickte und biss die Zähne zusammen. Wieder lief sie an, sprang und fiel hin.

„Kannst du mir's nochmal vormachen?"

„Natürlich." Ich schlug mein freies Rad so langsam wie möglich, dass sie die einzelnen Schritte halbwegs gut erkennen konnte. Sie nickte wieder, rappelte sich auf und versuchte es nochmal. Und nochmal. Und nochmal. Mit jedem Mal, das sie hinfiel, wurde ihre Miene verzweifelter und trauriger. Bis sie schließlich einfach sitzen blieb. Ich sah die Tränen in ihren Augen glitzern.

„Ich schaff das doch eh nicht.", schluchzte sie. „Du hast halt einfach Talent, aber ich..."

„Nein."

„Was nein? Was meinst du mit nein?"

„Ich hab kein Talent. Ich hab an meinem freien Rad über zwei Jahre geübt. Du bist jetzt schon besser, als ich nach einem."

„Aber in Kampf und Überleben. Judo..."

Ich schnaubte und setzte mich neben sie. „Beim Judo noch weniger. Als ich mit vier angefangen habe, haben mich alle ausgelacht, aber mein Vater hat mich trotzdem hingeschickt. Am Anfang haben sich die ganzen Jungs über mich lustig gemacht und sich einen Spaß draus gemacht, mich fertig zu machen. Dann bin ich dreimal die Woche ins Training gegangen. Alle anderen nur einmal. Irgendwann in der sechsten dann nur noch zweimal und ich wurde besser. Weißt du, wie oft ich heulend nach Hause gerannt bin, weil ich verloren habe? Weißt du, wie oft mich mein Vater trotzdem wieder hingeschickt hat?"

Eldina hörte auf zu weinen. „Hunderte Male?"

„Hunderte Male. Viermal habe ich mir Knochen gebrochen. Nicht immer, weil mir die anderen weh tun wollten, sondern einfach, weil ich zu schwach war. Einmal das Schlüsselbein. Einmal das rechte und einmal das linke Schienbein. Und einmal", ich zog den Ärmel meines Ringelpullis bis zu meiner linken Schulter nach oben und zeigte ihr eine helle, breite, zackige Narbe, die sich von meiner Schulter bis zu meinem Ellbogen zog., „den linken Oberarm. Das war ein offener Bruch. Vor drei Jahren bei einem Wettkampf ist das passiert. Mein Gegner war größer und schwerer als ich und hat sich davor noch bei seinen Freunden gebrüstet, er würde mich mit Leichtigkeit besiegen. Als er das dann doch nicht so einfach konnte, hat er sich mit seinem vollen Gewicht mit Absicht so auf mich geschmissen, dass es mir den Arm gebrochen hat. Seitdem weiß ich, wie meine Knochen aussehen.

Aber weißt du was? Das hat mich stärker gemacht. Ich bin trotzdem zum Training gegangen. Auch mit eingegipstem Arm. Zwei Jahre später hab ich ihn wiedergetroffen. Er hat gewimmert wie ein Kätzchen, als er unter mir auf der Matte lag. Aber ohne meinen Vater hätte ich das nicht geschafft. Er war derjenige, der mich dazu motiviert hat, immer zum Training zu gehen."

„Mein Vater hat immer gesagt, wenn ich nur draußen im Wald rumrenne wird aus mir nie was. Ich war vier, als wir gegangen sind. Da hat Mama noch in einem Büro gearbeitet. Als sie den Brief für den Beruf an der Schule hier bekommen hat, hat er gesagt, sie soll weiter im Büro arbeiten. Dann sind wir gegangen. Er hat zu mir immer gesagt, wenn ich keinen Erfolg habe in meinem Leben, dann werd ich nie glücklich."

„Das stimmt nicht." Ich zitierte eines meiner Lieblingslieder. „Erfolg ist kein Glück, sondern nur das Ergebnis von Blut, Schweiß und Tränen. Ich bin nie wegen dem Erfolg bei Wettkämpfen zum Judo gegangen. Die waren nur das Mittel zum Zweck. Um besser zu werden. Der Grund, warum ich zum Judo gegangen bin, waren die Freunde, die ich dadurch gefunden habe, die schönen Momente beim und nach dem Training. Aber dafür hätte ich nicht gut sein müssen. Dieses Glück hätte ich auch gehabt, wenn ich unfassbar schlecht gewesen wäre."

Eldina wischte sich die restlichen Tränen mit dem Ärmel weg. „Vermisst du sie? Deine Freunde?"

Stumm nickte ich und rieb mir mit dem Pulliärmel über die Augen.

Gerade, als ich wieder aufstehen wollte, hörte ich einen Fernruf in meinem Kopf.

Tildaaa! Tilda!

Erschrocken blickte ich mich um und stand so schnell ich konnte auf. Dann sah ich Lotti auf mich zusegeln. In ihren Augen lag das blanke Entsetzen. Ich fing sie aus der Luft. Sie zitterte.

David bedroht Amelie. Ein ganzes Stück hinterm Waschhaus. Schnell!"

Ich drehte mich zu Eldina. „Hol Hilfe. Ich geh vor."

Ohne Fragen zu stellen drehte sie sich um und sprintete zur Schule zurück. Währenddessen rannte ich mit Lotti in den Händen in den Wald hinterm Waschhaus. Schon von weitem hörte ich einen Hund bellen und jaulen. Und dann sah ich sie. Amelie lag auf dem Boden. David saß in Menschengestalt auf ihr und zog ihre Vorderpfoten hinter ihren Rücken. Wenn er so weitermachte würde er ihr die Vorderbeine auskugeln!

„Wer sind deine Eltern?", hörte ich David knurren.

Meine Eltern sind tot., wimmerte Amelie unter Schmerzen. Vom Traktor überfahren.

„Lügnerin!", schrie David. Noch bevor ich sie erreichte hörte ich ein lautes knacksen. Er hatte ihr die Schulter ausgekugelt. Ein herzzerreißendes Jaulen erfüllte den Wald und hallte von den Bäumen wider.

Blanke Wut und Hass packten mich. Ich rannte, wie ich noch nie zuvor gerannt war. Lotti ließ ich zwischendrin irgendwie auf den Boden hüpfen. Im Laufen packte ich David im Würgegriff, eher dieser verstand, was vor sich ging. Ich hatte so viel Schwung, dass wir noch einige Meter über den nasskalten Waldboden schlitterten. Kurz rang ich mit ihm, dann lag er wehrlos unter mir.

Obwohl ich wusste, dass es falsch war holte ich weit aus und verpasste ihm mit der Handkante einen Schlag gegen die Schläfe, der ihn ohnmächtig werden ließ. Schnell brachte ich ihn in die stabile Seitenlage und rannte zurück zu Amelie. Lotti saß, immer noch als Hörnchen, neben ihrem Kopf und streichelte ihr über die Schnauze.

Amelie wimmerte leise. Ich ließ mich neben ihr auf den Boden sinken und tastete ihr Vorderbein ab. Sie jaulte erneut auf.

„Ausgekugelt. Eindeutig. Ich hab das schon oft bei Menschen gemacht. Im Judo passiert das öfter. Amelie, das könnte jetzt weh tun. Bei drei."

Sie nickte und schloss die Augen.

„Eins. Zwei..." Bei zwei drehte ich ihr Schultergelenk mit einer schnellen Drehung wieder an seinen Platz. Amelie jaulte erneut auf.

Schnell streichelte ich ihr mit der Hand über den Kopf. „Ist okay. Ist schon vorbei. Tut mir leid."

Ich hörte Fußgetrappel näherkommen. Eldina kam, gefolgt von Herr Schwarz-Feder, Martin und Felix auf die Lichtung gerannt.

„Was ist hier los?", wollte unser Verwandlungslehrer außer Atem wissen.

Ich streichelte weiter Amelies Kopf, die immer noch leise wimmerte. „David hat ihr die Schulter ausgekugelt. Ich hab schon erste Hilfe geleistet, aber schauen sie mal nach dem da hinten." Mit der anderen Hand wies ich auf David. „Er ist nur k.o. Ein Schlag gegen die Schläfe. Nichts weiter. In fünf Minuten ist der wieder auf den Beinen."

In Felix Gesicht spiegelten sich sämtliche Emotionen ab, die der Mensch so zu bieten hatte. Ich tastete gerade Amelies Wirbelsäule ab. „Du hast dir die Wirbel und Rippen ordentlich geprellt, wo er auf dir drauf saß. Am besten trägt dich jemand zurück."

Ich kann auch laufen. Das geht schon.

„Du rührst keinen Muskel bis Carina dich nicht ordentlich untersucht hat. Ich bin kein Notarzt, sondern Amateur."

„Ich kann sie tragen.", bot Martin an.

Herr Schwarz-Feder nickte. Er saß hinter dem immer noch ohnmächtigen David, sodass dieser ihn nicht sehen konnte. Martin hob gerade Amelie vorsichtig vom Waldboden auf, als David stöhnend zu sich kam. Er sah mich, wie ich Martin dabei half, Amelie auf seine Schultern zu heben.

„Du kleines Miststück.", knurrte er. „Ich werde dich..."

Herr Schwarz-Feder hinter ihm räusperte sich. „Du wirst bitte was?" David drehte sich erschrocken um und schwieg. „Aufstehen. Wir gehen sofort zu Frau Ackerpelz."

„Herr Schwarz-Feder.", kam es leise von Felix. „Ich möchte nicht mehr mit David in einer Hütte wohnen."

Er nickte. „Das wird sich einrichten lassen."

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