Kapitel 18

Früh morgens hatten wir beide schließlich kaum geschlafen, aber ich hatte einen Plan.

„Steht in deiner Schulakte irgendwas über deine Eltern?"

„Ich glaub schon, aber nicht viel."

„Gut. Oder schlecht. Wir müssen rausfinden wo die sind und sie verändern."

„Ich glaube, die hat Frau Ackerpelz in ihrem Büro. Eine von den unteren Lehrerhütten."

„Okay. Wir haben die ersten beiden Stunden Deutsch."

Lotti saß mit uns auf dem Boden. Wir hatten sie mit eingeweiht. Früher oder später hätte sie es eh mitbekommen und außerdem war sie unsere Freundin.

„Das mache ich.", schaltete sie sich ein, „Ich sage, ich hätte Kopfschmerzen und müsste mal an die frische Luft oder so."

Amelie nickte: „Das wird die hoffentlich eine Weile aufhalten, aber wahrscheinlich nicht ewig."

„Hast du irgendwelche Sachen von deinen Eltern? Briefe, Fotos, ...?"

„Ja. Ich hab ein paar Bilder."

„Dann versteck sie. Oder zerreiß sie. Irgendwas, dass sie niemand mehr findet. Und sag deinen Eltern sie sollen dir keine Pakete oder Briefe schicken. Wenn dann über nen anonymen Absender. Oder an jemand anderen, der es dir dann gibt."

Amelie nickte wieder und nahm ihr Handy vom Nachttisch.

„Und pass auf dein Handy auf. Wenn da jemand rankommt, hast du echt ein Problem."

Gesagt. Getan. In der Mitte von Frau Ackerpelz' ziemlich langweiligem Deutschunterricht meldete sich Lotti.

„Ja, was ist? Hast du eine Frage?", rief unsere Lehrerin sie auf.

„Nein. Ich hab Kopfschmerzen. Darf ich kurz raus?"

Frau Ackerpelz' Blick wurde sofort besorgt. „Aber natürlich. Wenn es schlimmer wird sag bitte Bescheid."

Lotti verließ, eine Hand theatralisch auf der Stirn, das Klassenzimmer. Eine gefühlte Ewigkeit später kam sie wieder und nickte kaum merklich in unsere Richtung, bevor sie sich wieder auf ihren Platz in der ersten Reihe neben Karlotta, der Turmfalkin, setzte.

In der Pause, während wir auf den Matten auf Mr. Brighteye warteten, erzählte sie uns, was passiert war: „Also, ihr Fenster war auf Kipp. Da war es leicht rein zu kommen. Die Akten waren in einem Schank in der Mitte. War sogar beschriftet. Ich hab dann eine von dem Stapel mit den Leeren genommen, sie beschriftet und dann gegen deine ausgetauscht. Wenn jetzt jemand deine Karte liest, steht da, du kommst aus dem Tierheim und deine Eltern sind vermutlich tot. Das mit der Handschrift hab ich glaub ganz gut hinbekommen. Frau Ackerpelz beschriftet die ja eh von Hand."

Unauffällig zog sie ein zusammengefaltetes Stück hellgelbes Papier aus der Tasche und gab es Amelie. „Hier. Das ist deine alte. Verbrenn sie am besten. Oder iss sie auf."

Amelie stopfte den Zettel in ihre Hosentasche. Vielleicht wollte sie ihn erst später essen.

„Ich hoffe, das lenkt die wenigstens für eine Weile ab. Dann kann ich mich auf den Unterricht konzentrieren. Und kein Wort zu irgendeinem Lehrer, sonst macht das in Lichtgeschwindigkeit die Runde. Bei meiner Anmeldung haben wir Frau Ackerpelz gesagt, dass es persönliche Gründe hat, dass auf meinem Perso ein anderer Name steht."

Ich fragte gar nicht erst, was ihr richtiger Name war. Manchmal war es besser, Dinge nicht zu wissen. Auch Lotti verkniff sich die Frage.

Der Kampfunterricht heute war deutlich weniger stressig als der am Montag. Wir lernten grundlegende Verteidigungstechniken in zweiter Gestalt. Auch über meinen Trainingspartner, Benny, war ich mehr als erleichtert. Er war ein wahnsinnig geschickter Kämpfer, aber nahm trotzdem Rücksicht auf mich, obwohl ich ziemlich ungeschickt war.

Der Rest der Woche verlief recht ereignislos. Keine Eulen beobachteten uns nachts oder flogen über die Schule. Auf das Wochenende freute ich mich besonders. Wir durften endlich ins Dorf. Wolfsbergen war schön. Nicht gerade groß, aber schön. Es gab viele kleine Läden mit Krims-Krams, Büchern oder Schmuck. Die kleinen Fachwerkhäuser reihten sich dicht aneinander und machten das Dorf richtig gemütlich. In der Mitte war ein Dorfplatz, an dessen Rand eine Kirche aus Backstein stand. Am Samstag war auf dem Platz anscheinend Markt, denn als wir daran vorbeiliefen war der Platz voller Stände und Zelte.

Für so ein kleines Dorf war die Bibliothek wirklich gigantisch. Ein vier Stockwerke hohes Ziegelsteingebäude, in dem dicht auf dicht Bücherregale standen. Es roch nach Leder und altem Papier. Staubkörner tanzten in den Sonnenstrahlen, die durch die etwas schmuddeligen Fenster fielen. Wir machten uns einen Spaß daraus, in den oberen Stockwerken Verstecken und Fangen zu spielen. Die Ausleihstation war im Keller und die oberen drei Stockwerke komplett ausgestorben. Deshalb interessierte es keinen, ob wir hier laut waren oder herumrannten.

Danach versuchten wir ein Buch zu finden, das möglichst alt war. Bei der Gelegenheit stellten wir auch fest, dass hier oben vermutlich das letzte Mal vor 40 Jahren Staub gewischt worden war. Immer wieder zogen wir Bücher aus den Regalen und durchsuchten sie nach ihren Daten.

Buchensturm fand schließlich einen alten, dicken Wälzer mit dem Druckjahr 1579. Martin, Lotti, Amelie und ich setzten uns auf den Boden um ihn herum um mitzulesen.

„Das sind Gerichtsakten. Schaut mal. Marie Glöckner. 31.05.1578. Zum Tode verurteilt, weil sie sich angeblich mit Katzen unterhalten hat und zu einer von ihnen werden konnte."

Ein Schauer lief mir über den Rücken. „Das muss eine Woodwalkerin gewesen sein."

Wir blätterten weiter und fanden mehr solcher Fälle. Sogar den einer angeblichen Tripelwandlerin, die sich anscheinend in ein Reh und in eine Krähe verwandeln konnte. Auch sie war hingerichtet worden.

„Bin ich froh, dass ich in der heutigen Zeit lebe. Klar müssen wir geheim bleiben, aber uns würde auch niemand verbrennen.", flüsterte Lotti.

Buchensturm schluckte. „Stellt euch mal vor, wie viele Wandler es vor dieser Zeit gegeben haben muss. Und wie viele davon gestorben sind, einfach weil sie etwas Besonderes waren und die anderen Angst von ihnen hatten."

Die Stimmung war gedrückt, als wir die Bibliothek wieder verließen.

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