5 - Douala - Kamerun
Kwame Manu hat es nach Accra, an die Küste geschafft. Der Busfahrer hat ihn bis zum Hafen gefahren und ihm danach geholfen, auf einem Bananenkutter Unterschlupf zu finden. Die Fahrt entlang der Küste, quer durch den Golf von Guinea, hat einige Tage gedauert, Manu hat sich sein Fahrgeld mit Aushilfsarbeit in der Küche verdient. Noch nie in seinem Leben hat er in so kurzer Zeit so viele Kartoffeln geschält.
Nun steht er an der Reling und schaut zur Küste, fast ganz vorne auf dem Schiff. Die rote Abendsonne liegt in seinem Rücken. In den Wellen, welche vom Bug verursacht werden, tummeln sich Delfine. Sie schwimmen mit dem Schiff und springen über die Wellen. Manu schaut ihnen fasziniert zu.
"Die spielen gern. Delfine sind wie Jungs, neugierig und friedlich." Der Kapitän, ein grosser und starker Mann, stellt sich neben Manu. "Du musstest fliehen, nicht wahr? Wer ist hinter dir her?"
"Es sind böse Männer. Sie fangen und entführen Kinder, um sie in den Plantagen in der Elfenbeinküste oder in Ghana arbeiten zu lassen."
"Kakao. Die bitteren Kerne, welche den Reichen der weissen Welt das Leben versüssen. Wo willst du nun hin, Junge?"
"Ich habe einen Onkel, der lebt in Souanké, im Kongo."
"Dann hast du noch eine weite Reise vor dir. Weit und gefährlich. Du hast dich auf meinem Schiff gut angestellt, Manu. Ich werde dir dabei helfen, eine sichere Mitfahrgelegenheit zu finden. Morgen legen wir in Douala an, das ist in Kamerun. Von da kommst du bestimmt in Richtung Jaunde weiter."
"Ich danke Ihnen. Das ist sehr nett von Ihnen."
Der Kapitän legt seinen Arm um den Jungen. "Ich hatte einen Sohn, vor vielen Jahren. Als er in deinem Alter war, verschwand er eines Tages. Ich habe ihn niemals wieder gesehen. Hat dein Onkel Einfluss?"
"Ich weiss es nicht, Sir. Ich kenne ihn kaum. Meine Mutter hat mir seine Adresse gegeben. Er ist ein Manager, was immer das auch ist."
"Dann hat er Einfluss. Berichte ihm von dem, was du weisst. Er wird dir helfen. Es wird Zeit, dass die Ausbeutung Afrikas aufhört."
"Was meinen Sie damit?" Manu schaut den Kapitän fragend an. Solche Aussagen kennt er von seinem Vater.
"Seit vielen hundert Jahren plündern reiche, weisse Menschen die Schätze unseres Kontinents. Sie haben damit ihren Reichtum in Europa und in Amerika aufgebaut. Unser Schicksal muss sich endlich ändern."
"Genau das hat mein Vater auch immer gesagt." Manu hat Tränen in den Augen. "Bis die Männer kamen und ihn töteten."
"Dein Vater war ein gescheiter Mann. Tut mir leid zu hören, dass er dafür sterben musste. Du bist ein tapferer Junge, Manu. Du wirst es schaffen."
Danach sprechen sie nicht mehr. Manu verabschiedet sich, als die Sonne hinter dem Horizont verschwunden ist. Er steigt über die Treppen zu seiner Koje hinab und legt sich schlafen. Bevor er einschläft, denkt er an seine Mutter, die er zurücklassen musste.
***
Der Flughafen von Jaunde ist ein einstöckiges Gebäude, zweckmässig und schmucklos. Vor der Abfertigungshalle wartet bereits der Minibus, als die die Männer mit ihren Taschen aus dem Gebäude treten. Bono begrüsst den Fahrer.
"Wie habt ihr die Waffen durch die Sicherheitskontrolle geschafft?"
"Das ist der Vorteil einer Privatmaschine, mein guter Mann. Ist der Wagen vollgetankt?"
"Ja, sicher. Vor euch liegen mehr als fünfhundert Kilometer und nur die Hälfte davon ist asphaltiert. Das wird ein langer und ungemütlicher Ritt. Warum tut ihr euch das an?"
"Fahren wir."
Die Männer haben ihre Taschen mit den Waffen im Kofferraum verstaut und danach im Bus Platz genommen. Bono setzt sich ganz vorne hin, neben dem Fahrer.
Als der Bus die N2 in Richtung Süden befährt, richtet sich Bono auf. "Männer, hört mir zu. In Souanké müssen wir den Jungen, aber vor allem seinen Rucksack finden. Die anderen Menschen dort interessieren uns nicht. Wir sollten keinen Ärger mit ihnen anfangen. Wir geben uns als Naturschützer aus, denn um die Stadt liegt ein Nationalpark. Schlaft, solange ihr noch schlafen könnt, morgen früh müsst ihr fit sein."
Danach spricht niemand mehr. Die meisten Männer dösen vor sich hin oder schlafen tief. Auch Bono schliesst immer wieder die Augen. Die Fahrt auf der gut ausgebauten Strasse verläuft schnell und ruhig. An der übersichtlichen Kreuzung nach Sangmélima biegt der Fahrer auf die N9 nach Osten ab. Diese Strasse wird sie zur Grenze zwischen Kamerun und Kongo bringen, einige hundert Kilometer weiter süd-östlich.
Nach vielen Stunden Fahrt zweigt die Strasse in einer Siedlung ohne Namen nach rechts von der N9 ab. Der Fahrer murmelt etwas von 'fertig Gemütlichkeit' und beschleunigt auf der unbefestigten Naturstrasse. Hinter dem Bus zieht eine lange Staubwolke ihre Fäden, bis der Sand sich allmählich wieder auf die Strasse legt, wie ein Flugzeug, das am blauen Himmel weisse Kondensstreifen zieht.
Die Männer sind alle aufgewacht. Der Wagen schlingert und holpert, von den Reifen schlagen Steine an den Unterboden, an Schlaf ist nicht mehr zu denken.
"Boss, du hast uns eine Frage noch nicht beantwortet", brummt einer der Kämpfer.
"Die da wäre?"
"Warum ist der Junge so verdammt wichtig?"
"Du willst wissen, warum du in diesem Bus sitzt? Ich sage dir, warum: Weil du jeden Monat deinen Sold von uns erhältst, damit du deine kümmerliche Familie ernähren kannst. Du sitzt hier drin, weil du nichts anderes gelernt hast und keinen anständigen Job annehmen kannst. Du sitzt hier, damit du deine Klappe hältst, und deine Befehle befolgst. So sieht's aus." Bono ist wütend, die Männer wagen es nicht, weitere Fragen zu stellen.
Nach weiteren vielen Stunden fährt der Bus in eine langgezogene Rechtskurve. Links und rechts der Strasse gibt es nur dichten Wald. Der Himmel ist bedeckt, seit einigen Kilometern ist die Strasse nass, eine Schlammpiste.
"Wir sind im Kongo. Diese Kurve hier ist die Grenze. Noch eine Minute, dann sind wir da", informiert sie der Fahrer.
"Na endlich. Das waren die härtesten zehn Stunden meines Lebens. Wir hätten doch fliegen können."
"Ladies, genug gejammert. Fliegen ging nicht, es gibt hier keine Landebahn und ein Hubschrauber war nicht. Wir sind hier, wir haben einen Auftrag. Stopp den Wagen, wir müssen ihn noch beschriften."
Bono steigt aus und zieht aus einer Tasche zwei magnetische Schilder, auf welchen die Buchstaben UN stehen. Er haftet die Schilder an die Türen des Busses, dann steigt er wieder ein. "Ab sofort seid ihr Mitarbeiter der UNO. Ihr kontrolliert die Sauberkeit der Wasserversorgung. Das bedeutet, ihr müsst in die Häuser rein. Haltet Ausschau nach dem Jungen auf dem Foto", er reicht allen Männern ein kleines Bild von Kwame Manu. "Die Waffen bleiben hier im Bus."
Langsam biegt der Bus in die Ortschaft ein und hält vor einem Hotel. Da sie damit gerechnet haben, einige Tage hier zu sein, wurden ihnen Zimmer reserviert. Sie werden freundlich begrüsst. Danach beginnen sie mit ihrer Suche nach einem zehnjährigen Jungen, der ihnen vor mehr als einer Woche fast dreitausend Kilometer weit entfernt entwischen konnte.
***
Fest verzurrt liegt das grosse Frachtschiff im Hafen von Douala. Auf dem Pier steht der Kapitän mit Kwame Manu, der seinen Rucksack festhält und strahlt. "Ich darf fliegen?" Kwame schaut den Kapitän ungläubig an.
"Ja, du hast Glück. Eine meiner Schwestern arbeitet hier im Spital. Als ich sie fragte, ob sie jemanden kenne, der nach Souanké fahren könnte, sagte sie mir, dass die "Ärzte ohne Grenzen" heute nach Sembé fliegen, im Hubschrauber. Das liegt in der Nähe von Souanké. Sie nehmen dich mit. Wie findest du das?"
"Ich weiss nicht, wie ich Ihnen danken kann, Mister."
"Keine Ursache, da kommt meine Schwester, mit dem schwarzen Auto."
Ein älterer Kleinwagen hält am Pier und eine weiss gekleidete, junge Frau steigt aus. Sie strahlt und fällt dem Kapitän um den Hals. "Bruder! Endlich bist du wieder einmal zuhause." Dann sieht sie den Jungen an. "Und du musst Kwame Manu sein, der mutige Junge aus Ghana. Ich bin Nala."
"Sind Sie ein Doktor?"
Nala lacht. "Nein, Manu, ich arbeite bloss im Spital. Wir müssen los, dein Hubschrauber wartet." Sie verabredet sich mit dem Kapitän zum Nachtessen. Dann fährt sie mit Manu durch die Stadt zum Spital. Auf dem Landeplatz steht ein grosser Hubschrauber, weiss, mit einem roten Kreuz und einem roten Sichelmond drauf. "Médecins Sans Frontières" steht bei einem rot-weissen Männchen.
Eine Frau und ein Mann begrüssen ihn und lassen ihn einsteigen. Die Piloten sitzen bereits auf ihren Plätzen, drehen sich kurz um und lächeln. Dann starten sie die Maschine. Zuerst heult bloss die Turbine, dann beginnt sich der Rotor langsam zu drehen. Der Heckrotor dreht mit, die kleinen Lämpchen blinken, der Hubschrauber startet sanft, hebt sich, als hätte er kein Gewicht. Nala steht im Wind, sie hält sich die Haare aus dem Gesicht und winkt Manu zu.
Dann beschleunigt der Pilot, der Hubschrauber senkt seine Nase nach unten, dreht nach links weg und schwirrt über die Stadt hinweg. Manu jauchzt vor Freude. Die Häuser und die Autos werden kleiner, es sieht aus wie eine Spielzeugeisenbahn, von welcher er schon Zeitschriften gesehen hat. Sein grösster Wunsch wäre es, einmal eine solche Eisenbahn zu besitzen.
Der Hubschrauber rattert über den Wald. Sie sind so schnell unterwegs, dass Manu keine Tiere sehen kann; das findet er schade. Gerne würde er einmal über die Steppe im Norden Ghanas fliegen. Dort könnten sich die Tiere nicht verstecken und er könnte sie beobachten.
"Wo willst du denn hin, in Souanké?", fragt ihn die nette Frau.
"Ich gehe auf die Kakaoplantage, wo mein Onkel arbeitet. Ich muss ihm wichtige Dokumente bringen."
"Die hast du in deinem Rucksack, bestimmt. Sind da auch Kleider drin?"
Manu verneint. Die Frau lächelt. "Wir fliegen heute zu einem Nonnenkloster in Sembé. Dort werden sie dir neue Kleider geben und du wirst duschen können; ehrlich gesagt, hast du das nötig."
Manu riecht an seiner Kleidung und muss der Frau recht geben. "Entschuldigen Sie. Ich bin schon lange unterwegs."
"Nicht so schlimm, Manu. Aber so kannst du nicht zu deinem Onkel. Wie heisst die Plantage?"
"Ich weiss es nicht, aber meine Mutter hat die Telefonnummer aufgeschrieben. Mein Onkel heisst Kweku Adika." Er sucht im Rucksack nach dem Zettel und reicht ihn der Frau.
"Wir werden vom Kloster aus dort anrufen. Dann kann dich jemand abholen kommen, okay?"
"Sie sind sehr nett. Vielen Dank, Missis."
Sie lacht: "Du kannst mich Anika nennen."
"Ein schöner Name. Habe ich noch nie gehört." Manu lächelt auch.
"Das ist ein Name aus Europa. Ich bin Schwedin."
"Bist du schon lange in Afrika?"
"Drei Jahre; und ich liebe es hier. Wir machen eine wichtige Arbeit, das macht mir Freude."
Der Hubschrauber dreht schon wieder ab und fliegt auf eine Ortschaft zu. Manu kann es nicht glauben. "Sind wir schon da?"
Der Pilot bestätigt, dreht seine Maschine rechts ab und hält auf einen grossen Häuserkomplex zu. Er senkt die Maschine, zieht die Nase etwas hoch und landet sanft im Gras neben den Gebäuden, die man im aufgewirbelten Wassernebel nicht mehr sehen kann. Es regnet warm, die schwüle Hitze schlägt zu, als der Arzt die Tür öffnet.
Manu hüpft raus. Der Rotor dreht sich immer langsamer, bis er schliesslich stehenbleibt. Die Maschine reduziert die Drehzahl und stirbt ab, ein kurzes Zischen und Heulen, dann ist Ruhe. Die Piloten legen ihre Kopfhörer ab und steigen aus. Vom Haus her kommen zwei Schwestern auf die Gruppe zu.
"Willkommen bei den Soeurs Franciscaines in Sembé. Ich bin Soeur Marie und das ist Soeur Rachel. Folgen Sie uns, bitte."
Im Innern des einfachen Klosters trennen sich die Wege. Manu verabschiedet sich von Anika und ihrem Begleiter, er dankt ihnen nochmals. Soeur Rachel nimmt Manu an der Hand und führt ihn zu einem Zimmer. "Hier kannst du duschen. Ich hole einige Kleider, die wir hier für die Knaben des Ortes gesammelt haben. Da müsste schon etwas Passendes dabei sein."
Manu schaut sich im Zimmer um. Noch nie hat er ein so grosses Zimmer, das so sauber und aufgeräumt ist, für sich allein gehabt. Er legt seine schmutzigen Kleider auf einen Stuhl und stellt sich unter die Dusche. Manu fühlt sich wie ein König, als das warme Wasser über seinen Körper perlt. Sein Vater hat ihm manchmal davon berichtet, dass die reichen Menschen solche Duschen haben, die Seife riecht gut, nach Blüten, die Manu nicht kennt.
Er hört, wie Soeur Rachel seine Kleider einpackt und hofft, sie habe ihm auch neue hingelegt. Neben der Dusche liegt ein Trocknungstuch; es ist weich und hüllt den Knaben ein wie in Watte. Manu weint vor Freude.
Auf dem Stuhl liegen die Kleider. Sie passen, einzig die Hose muss Manu etwas hochkrempeln, weil sie zu lang ist. Frisch angezogen setzt er sich auf den Stuhl und wartet. Soeur Rachel klopft an die Tür, dann tritt sie ein. "Nun sieh dich an! Da sitzt ein ganz anderer Junge!", sie lächelt. "Hast du Hunger? Bestimmt. Jungs wie du haben immer Hunger. Komm mit mir."
Rachel führt Manu in die Küche. Er darf sich an den Tisch setzen und erhält einen Teller mit Suppe. Dazu gibt es ein Hühnchenbein. Manu geniesst das Essen. "Sie sind sehr nett, vielen Dank. Das schmeckt gut."
"Wir haben deinen Onkel angerufen. Er ist schon unterwegs und sollte bald hier sein. Du kannst im grossen Saal auf ihn warten."
Der grosse Saal entpuppt sich als eine Art Wohnzimmer, in welchem bequeme Stühle und eine Couch stehen. Manu setzt sich auf die Couch. Ziemlich schnell kippt er rechts weg, hebt noch kurz seine Beine aufs Sofa, dann schläft er ein.
***
Die Söldner haben viele Gebäude durchsucht, ohne Erfolg. Sie sind müde und frustriert. Bono telefoniert mit seinem Boss. "Ihr solltet in der Plantage nachschauen. Ich habe herausgefunden, dass der Junge dort einen Onkel hat. Die Plantage heisst "Ndembo Farm" und liegt etwas ausserhalb des Ortes."
"Wir werden gleich morgen früh hinfahren, Boss. Die Männer sind müde."
"Was sind deine Männer lieber: müde oder tot? Ihr fahrt sofort los. Wenn der Junge die Papiere seinem Onkel gibt, sind wir geliefert. Ich muss dir nicht erklären, was das bedeutet."
Das Gespräch wird unterbrochen. Bono flucht. "Männer, wir müssen sofort weiter. Das bringt hier nichts. Wir müssen zu einer Kakaofarm hier in der Nähe. Befehl vom Boss."
"Wenn wir den Jungen dort nicht finden, kannst du allein weitersuchen. Wir haben genug von der Scheisse hier!"
Bono merkt, dass seine Männer frustriert sind. Er sagt nichts mehr, lässt den Bus holen und greift sich seine Tasche. Die Fahrt dauert nur einige Minuten, dann erreichen sie das hölzerne Tor mit der Aufschrift "Ndembo Farm". Bevor man sie von den Häusern aus sehen kann, hält der Bus am Strassenrand.
Die Männer steigen aus und holen ihre Waffen aus dem Kofferraum. Dann schleichen sie in den Wald und gehen auf die Farm zu. Der Fahrer bleibt beim Bus zurück.
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