37 - Villeneuve - Schweiz
Mit gemischten Gefühlen hat sich Kathrin in den Schnellzug nach Lausanne gesetzt. Gaston Blanchet hat sie nach Villeneuve eingeladen; er will ihr sogar einen Wagen nach Lausanne schicken, damit sie nicht umsteigen müsse. Sie trägt alle Unterlagen mit sich. Der Patron hat ihr gesagt, er wolle 'Reinen Tisch machen' - was immer das auch heißen mag.
Im Zug schreibt Kathrin schnell eine Kurznachricht an Selina. Sie solle versuchen, erreichbar zu sein; bereit für einen Videochat. Sie ist froh über die Wendung, welche die Angelegenheit genommen hat. Keine Verfolger mehr, keine Drohungen, keine Beobachtung; Kathrin fühlt sich wieder frei, und das ist ein gutes Gefühl.
Der Schnellzug rollt pünktlich auf die Minute in Lausanne ein. Kathrin schmunzelt - die Eisenbahn in der Schweiz gilt als eine der pünktlichsten weltweit, Platz zwei gleich hinter Japan, hat sie kürzlich gelesen. Sie verlässt das bequeme Abteil der ersten Klasse und tritt auf den Bahnsteig hinaus. Wie am Flughafen steht ein uniformierter Fahrer mit einem Schild bereit. "Blanchet Chocolats" steht darauf, um ihre Privatsphäre zu schützen und nicht ihren Namen öffentlich zu verkünden. Manieren scheint er zu haben, der alte Patron.
"Guten Tag, ich bin Kathrin Zürcher für Herrn Blanchet."
"Guten Tag, Frau Zürcher. Sind Sie gut gereist soweit? Mein Name ist Jean, ich bin Ihr Fahrer. Folgen Sie mir; darf ich Ihr Gepäck tragen?"
"Geht schon, danke." Kathrin folgt Jean lächelnd. Bei der dunklen Limousine angekommen, hält Jean ihr bereits die Tür zum Fonds auf; er schließt sie auch wieder, nachdem sie platzgenommen hat. Die Fahrt von Lausanne nach Villeneuve dauert nicht lange. Kathrin genießt den Ausblick auf den Lac Léman auf der rechten Seite.
Jean hält direkt vor dem Hauptgebäude, wo Gaston Blanchet schon wartet. Er lächelt und streckt Kathrin die Hand entgegen. "Guten Tag, Frau Zürcher. Schön, dass Sie sich für mich Zeit nehmen."
"Guten Tag Herr Blanchet; danke für die Einladung und die Limousine."
Blanchet führt Kathrin in einen Besprechungsraum mit großem Fenster und Ausblick auf den See. Auf dem Tisch liegen bereits Unterlagen, Wein und Snacks stehen auch bereit; selbstverständlich auch eine Schale mit Pralinen.
"Danke", reagiert Kathrin auf die Einladung, sich zu setzen. "Das ist ein herrlicher Raum. Unser letztes Zusammentreffen war nicht sehr angenehm; warum bin ich hier?"
"Das ist richtig. Aber ich möchte zuerst daran erinnern, dass wir damals beim 'Du' waren und ich dir heute angenehmere Dinge berichten will."
"An das Du kann ich mich erinnern, danke. Dann bin ich gespannt, wie du dich aus der Affäre ziehen willst."
"Meine Firma hat in der Vergangenheit Fehler gemacht."
Kathrin nickt anerkennend. "Das beginnt schon mal nicht schlecht. Ich höre zu."
"Mein Vater kümmerte sich nicht darum, woher der Kakao kommt oder wie er produziert wird. Er hielt nicht viel von den Menschen in Afrika - heute würde man ihn einen Rassisten nennen. Diese Erziehung hat er mir mitgegeben; es war wohl alles, was er tun konnte. Für ihn stand stets das Geschäft im Vordergrund; niemals seine Arbeiter oder die Produzenten der Rohstoffe. Afrika war für ihn das Füllhorn, in welchem er sich bedienen konnte."
Blanchet trinkt einen Schluck Kaffee, bevor er weiterspricht. "Ich habe in meinen jungen Jahren ähnlich gewirtschaftet wie er; ich habe seine Art übernommen und auf dem gleichen Weg weitergemacht. Doch heute weiß ich, dass ich dadurch Menschen großes Leid zugeführt habe und ich falsch lag. Ich habe mich informiert; ich bin nach Afrika geflogen und ich habe mir die Arbeit auf den Plantagen angesehen. Ich habe viele sehr nette Menschen kennengelernt und meine Haltung geändert."
"Das hat sich für mich beim letzten Zusammentreffen noch nicht so angehört; entschuldige bitte."
"Das war kurz nach den Demonstrationen und Entlassungsgerüchten. Ich habe mir Sorgen um meine Firma gemacht; Serge hat da eine Dynamik ins Rollen gebracht, die nicht gut ist."
"Und warum hast du ihn dann nicht komplett aus der Firma ausgeschlossen? Mit der Versetzung nach Kolumbien ist er sogar vor einer Anklage geschützt. Das war ein cleverer Schachzug, übrigens."
"Er muss noch viel lernen; aber er ist und bleibt mein Sohn. Würdest du deine Familie an die Justiz ausliefern?"
Kathrin nimmt sich eine Praline, damit sie nicht sofort antworten muss. Sie kennt die Antwort, will es jedoch nicht sofort zugeben. "Wenn sie kriminell wären, würde ich zumindest darüber nachdenken. Aber eher nicht, nein. - Die schmecken gut, die Pralinen."
"Danke. - Ich habe seit dem Meeting in Bern intensiv über die Zukunft von Blanchet Chocolats nachgedacht. Ich möchte die Firma zur fairen Produktion bringen; ohne Betrug und mit ehrlichen, transparenten Preisen."
"Das klingt sehr gut; endlich, bin ich versucht zu sagen." Kathrin schnappt sich noch eine Praline.
"Ich kann deinen Groll verstehen. Es gibt Dinge in meinem Geschäftsleben, die ich gern rückgängig machen würde. Aber das geht nicht; es geht nur vorwärts - und da will ich die Firma in ein anderes Licht rücken. Wir sind einer der größten Produzenten weltweit. Wenn wir vorangehen, ziehen andere vielleicht nach."
"Du entwickelst Verantwortungsbewusstsein. Das gefällt mir. Wie wirst du die Qualität und die Arbeitsbedingungen garantieren können? Die strengsten Gesetze können das nicht, wie wir herausgefunden haben."
"Ich werde investieren. Einen Teil unseres Gewinns werde ich jährlich zur Modernisierung und Unterstützung der Produktionsstätten in Afrika einsetzen. Ich möchte nicht bloß ein Fair-Trade Label auf meiner Schokolade abgedruckt sehen - ich möchte das Label sein." Blanchet greift sich ein Glas Wein.
Kathrin tut es ihm nach und prostet ihm zu. "Das sind sehr große Worte; wichtige Worte. Wie können wir einander helfen?"
"Ich habe gehört, du hast gute Beziehungen zu wichtigen Wirtschaftszweigen."
Sie schmunzelt und neigt den Kopf zur Seite. "Möglich, ja. Wir sind momentan dran, eine Schule und ein Kinderheim zu planen. Wir möchten den Kleinen Bildungschancen bieten und für die Kinder, welche wir aus den Fingern der Entführer haben befreien können, ein Zuhause."
"Jetzt bin ich sehr interessiert. Das wäre ungefähr auch die Idee gewesen, die ich mir ausdachte." Gaston Blanchet öffnet einen Ordner mit Papieren. "Siehst du, hier habe ich mir Notizen gemacht. Ich mache das noch immer mit Papier, entschuldige." Er lächelt Kathrin an.
Sie schmunzelt und liest die Notizen durch. "Da gibt es nichts zu entschuldigen. Ich mag die alte Art auch. Ich habe sogar noch ein Notizbuch, das ich auf Reisen mitnehme." Sie liest weiter.
"Du willst also auch in die Infrastruktur der Betriebe investieren?", fragt sie interessiert.
"Ja. Wasserversorgung, medizinische Versorgung, Kantinen, Sportplätze. Es soll, auf einfachem Level, den Menschen an nichts fehlen. Ich will keine übertriebenen Anlagen, sondern ortsgerechte Installationen. Damit kann ich sicherstellen, dass die einheimischen Handwerker für den Unterhalt aufkommen können. Die Technik soll regional sein, damit sie sich auskennen."
"Du denkst in eine wichtige Richtung. Hilfe zur Selbsthilfe; sehr lobenswert. Ich denke, hier könnte ich eine Beteiligung meiner Freunde organisieren. Geld ist nicht das Problem; Kontakte fehlen und da könnten wir uns allenfalls finden." Kathrin nimmt einen weiteren Schluck Wein. "Es gibt ein 'Aber' bei dieser Angelegenheit. Ich kenne die Schweizer Wirtschaftsbosse. Niemals tut einer von ihnen etwas aus reiner Nächstenliebe. Da steckt immer eine Gewinnchance mit drin. Wo also siehst du dein Gegengeschäft? Womit willst du Gewinn aus der Sache schlagen?"
Blanchet lacht. "Du bist echt unglaublich. Wir sind uns sehr ähnlich, das weißt du schon, oder?"
Sie lächelt nur und zuckt mit den Schultern.
"Also gut: Meine Idee ist die Vermarktung einer Art "Bio-Schokolade" auf einem höheren Level. Wenn wir das gut proklamieren, wenn wir mit Werbung offensiv gehen, dann können wir uns einen Wettbewerbsvorteil erarbeiten. Die anderen Produzenten wären im Zugzwang. Das Geschäft, das ich mir erhoffe, beruht auf einer Imagekorrektur und auf Innovation was Fairtrade angeht."
Kathrin nickt wieder anerkennend. "Wie die deutschen Autobauer, welche plötzlich offensiv in Elektromobilität machen, obwohl sie sich Jahrzehnte dagegen gewehrt haben. Du denkst nicht falsch. Das kann funktionieren."
"Man muss den Menschen nicht Dinge anbieten - man muss ihnen erklären, weshalb sie genau diese Dinge seit jeher vermisst haben und nun endlich wollen."
"So spricht ein Werbefachmann. Ich hoffe sehr, du baust das nicht auf Betrug auf. Ich traue dir noch nicht, verehrter Herr Patron."
"Und das kann ich dir nicht verübeln", lacht der Patron. "Unser Image ist schwer angeschlagen, auch durch die Veröffentlichungen deiner Freunde."
"Welche nur die Wahrheit aufgedeckt haben, möchte ich erwähnen."
"Ja, ist in Ordnung. Das habe ich verdient. Aber diese Wahrheit soll sich ändern. Und hier wäre es hilfreich, wenn deine Freunde mit ihrer Berichterstattung etwas feinfühliger wären."
"Vorsicht; du riskierst meine gute Stimmung zu ruinieren, wenn du mit solchen Bittgängen kommst. Ich könnte versucht sein, das als Bestechungsversuch auszulegen - in Verbindung mit diesen sagenhaften Pralinen, zum Beispiel." Kathrin stopft demonstrativ eine davon in den Mund. "Also, raus damit. Was willst du von mir, Gaston Blanchet?"
"Ich habe hunderte von Werbefachleuten; ich habe Journalisten und ich habe Texter, die jede Veröffentlichung von meiner Firma formulieren und kontrollieren. Aber ich habe niemanden wie diese Selina Zaugg. Sie erreicht die Menschen - sieh mal hier ..." Blanchet zeigt Kathrin einen Blog aus der Region. "Diese freischaffenden Journalisten haben mit den Beiträgen von Frau Zaugg hunderttausende von Menschen erreicht. Wenn es nun möglich wäre, Frau Zaugg zu einem Beitrag über die neue Philosophie der Blanchet Chocolats zu überzeugen, dann wäre das unbezahlbar."
"Du meinst teuer!"
Blanchet schaut Kathrin irritiert an, dann lächelt er. "Ja genau, teuer. Das war das Wort, das ich meinte."
"Selbstverständlich müsstest du das Geld nicht uns bezahlen, sondern direkt in deine Projekte, welche du vorhin so engagiert angekündigt hast, investieren. Wir würden nur überprüfen, ob das Geld auch ankommt, wo es soll."
"Selbstverständlich", Blanchet wirkt immer noch irritiert.
"Damit deine Worte mehr Gewicht erhalten. Ich möchte nur sicherstellen, dass du das alles auch ernst meinst. Selinas Qualitätskontrolle ist aber nicht billig, das kann ich dir jetzt schon sagen." Kathrin lächelt. Sie liebt Verhandlungen, deren Verlauf sie kontrollieren kann.
"Von welchen Beträgen sprechen wir?" Blanchet hat in den Geschäftsmodus umgeschaltet.
"Ich spreche nicht von Summen. Ich spreche von Taten. Damit Selina positiv über deine Firma berichtet, braucht sie mindestens drei konkrete Beispiele, wo dein Engagement Wirkung zeigt. Sie braucht Resultate; welche sie natürlich überprüfen wird."
"Das lässt sich machen. Dann haben wir einen Deal?"
Kathrin muss nicht lange überlegen. Gute Publicity gegen faire Produktion des größten Schokoladeherstellers der Schweiz - das ist ein Deal, auf den sie sich einlassen muss. Sie freut sich bereits darauf, dies Selina und Umbigwe zu berichten.
"Hast du schon einmal gesehen, wie Schokolade produziert wird?" Gaston stahlt sie an.
"Nein, das habe ich nicht. Im Internet, ja, aber live - nein."
"Dann bitte ich dich, mir zu folgen. Ich führe dich durch meine Produktionsstätten und erkläre dir alles."
Kathrin folgt Gaston Blanchet aus dem Konferenzraum auf eine private Führung durch die Schokoladenfabrik. In Gedanken sieht sie sich als Charlie, die Hauptperson aus Roald Dahls Kinderbuch, verwirft das Bild aber wieder und freut sich auf die interessanten Dinge, die sie erfahren wird; als Proviant schnappt sie sich noch eine Praline.
***
Im Zug nach Zürich nutzt Kathrin die Ruhe zum Lesen. Sie hält das Manuskript des neuesten Romans ihres Schriftstellers Marco Stalder in den Händen. Es ist ein Thriller, der über eine Schatzsuche berichtet; Nazigold, verschollene Fahrzeuge und jede Menge Kunst; verbunden mit einer herzerwärmenden Liebesgeschichte. Solche Bücher mag sie. Sie freut sich schon, das Buch in ihren Händen halten zu können - und auf die Einnahmen natürlich. Ihr Handy bingt. Es ist eine Nachricht von Selina.
Meine Liebe - Wir sind fast da. Es läuft super. Elena hat uns Geleitschutz organisiert. Melde mich, wenn wir auf der Farm sind. Love, Sel
Offensichtlich hat auch Elena ihre Beziehungen spielen lassen. Die Kinder und die Freunde sind unterwegs auf die Farm der Ndembos. Das sind gute News. Sie tippt kurz eine Antwort:
Hey Süsse - gute Neuigkeiten auch aus der Schweiz. Ich werde dir berichten. Fahrt vorsichtig. Love, Kate
Danach lehnt sie sich zurück. Wenig später döst sie ein und schläft den Rest der Fahrt bis nach Zürich.
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