34 - Ghana
Die Straße ist alles andere als in einem guten Zustand. Selina braucht ihre volle Konzentration und ihre ganze Kraft. John hat bei ihr vorne Platz genommen und berichtet ihr von seinen Plänen für die Zukunft.
Im hinteren Bereich des Busses spielt Java unterdessen mit den Kindern Ratespiele, um sie aufzuheitern aber auch um sie bei Laune zu halten. Es ist für alle eine anstrengende Fahrt.
"Wie lange dauert es noch?", ruft Java nach vorne.
"Ich weiß es nicht. Drei Stunden? Vielleicht vier? Wir sind schon weit gekommen. Warum fragst du?" Selina spricht ohne den Kopf zu drehen.
"Ich möchte ganz einfach endlich aus diesem Land raus. Ich habe kein gutes Gefühl bei der Sache und bin erst wieder beruhigt, wenn wir auf dem Schiff sind, das Elena für uns organisiert hat."
"Wem sagst du das! - Hey, Java, meinst du, du könntest mal eine Weile fahren? Ich bin echt geschafft. Diese Straßen verlangen mir alles ab."
"Aber sicher. Halte einfach bei der nächsten Gelegenheit an, dann können wir wechseln."
Selina dreht den Kopf nach hinten. "Das ist Afrika, meine Liebe. Hier kommt nie ein Auto. Und wenn doch, dann hat es genug Platz, vorbeizufahren. Hier kann ich halten, wo immer ich will!" Wie zur Unterstreichung ihrer Aussage verlangsamt sie die Fahrt und hält mitten auf der Straße.
Eine lachende Java schlängelt sich nach vorne, umarmt ihre Freundin und setzt sich ans Lenkrad.
Selina lässt sich dankbar auf die dritte Sitzbank fallen und hebt ihre Füße auf die Sitze gegenüber. Java fährt los, es ruckelt.
"Hey, das ist kein Traktor! Immer sachte, Mädchen!", reklamiert Selina.
"Halt die Klappe und falle zwischen die Sitze, wenn du willst. Nun fährt eine berühmte Sängerin den Tourbus, weil der Fahrer schlappmacht. - Und wage es ja nicht zu singen!"
"Ich liebe dich! Danke, Java!"
"Schon okay - kein Problem. Wenn das so weitergeht mit unseren Abenteuern, dann fliegen wir nächstes Mal einen verdammten Jumbo-Jet!"
John beobachtet auch Java mit großer Aufmerksamkeit. Er kontrolliert die Handgriffe, er überprüft die Kontrollleuchten.
"Du bist also John, unser Bordmechaniker. Wie mache ich mich als Fahrerin soweit?"
"Du machst das nicht zum ersten Mal", freut sich der Junge.
"Nein, da hast du recht. Obwohl ich nicht so aussehe, kenne ich mich mit großen Maschinen aus. Ein Freund von mir ist Trucker."
"Der Mann, der vorher gefahren ist? Das ist dein Freund?"
"Ja - genau der. Er war einmal mein Freund - heute bin ich mir nicht mehr so sicher."
John blickt traurig zu ihr. "Wie kann jemand, der dein Freund war, nicht mehr dein Freund sein?"
"Wenn er schlimme Sachen gemacht hat?"
"Wie dein Essen stehlen? Oder deine Familie töten?"
Java ist schockiert über die direkten Aussagen des Knaben. "Nein, John. Es ist nicht so schlimm. Erwachsenenkram."
"Er hat ein anderes Mädchen angeschaut - habe ich recht?"
"Du bist ein schlauer Junge, John. Ja, das hat er - obwohl er verheiratet ist."
"Der größte und stärkste Affe der Gruppe kann alle Weibchen haben. So ist das auch bei den Löwen." John gibt sich neunmalklug und zuckt mit den Schultern.
Java lacht. "Ein Löwe ist er nicht, nein. Aber mit dem Affen kann ich leben." Sie lachen beide.
Auf einmal beginnt das Fahrzeug zu stottern und ruckelt stärker. Selina wacht auf und reklamiert - sie klettert nach vorne.
"Was ist los? Was ist passiert?"
Nichts - die Karre hat einfach zu ruckeln angefangen. Ich kann nichts dafür."
Auf dem Nebensitz nickt John zur Bestätigung.
Dann gibt es plötzlich einen Knall, als ob ein Stein das Fahrzeug getroffen hätte; leichter Rauch qualmt aus dem Motorenraum. Java erschrickt, John schüttelt den Kopf. "Keilriemen", sagt er bloß.
"Halt an, Java. Wir sollten uns das ansehen."
Java stoppt den Bus am Straßenrand. Gemeinsam schauen sie sich den Motorraum an. John deutet auf den Ventilator. "Seht ihr? Kein Keilriemen mehr! Der ist gerissen und abgefallen, als es geknallt hat."
"Ja, da könntest du recht haben. Aber geruckelt hat die Karre vorher. Das kam nicht vom Keilriemen."
John und Selina staunen Java an. "Du verstehst tatsächlich was von Motoren! Wie fühlte es sich beim Fahren an?"
"Als ob ich keine Power mehr hätte. Als ob der Tank leer wäre, obwohl wir doch erst kürzlich getankt haben. Könnte das schlechter Diesel gewesen sein, John?"
"Das wäre möglich. Diesel ist hier nicht immer gut. Schauen wir uns doch die Pumpe an", erklärt John.
"Du meinst, wir bauen den halben Motor auseinander? Das kannst du vergessen. Wir rufen einen Abschleppdienst." Selina beginnt schon in ihr Handy zu blicken.
"Das kannst du vergessen", lacht John, Selina nachäffend. Kein Abschleppdienst. Das ist Afrika - hier lösen wir die Probleme selbst. Ich suche den Fehler und ihr findet Wolle oder Nylon, damit wir den Keilriemen ersetzen können. Okay?"
Selina starrt John an, Java lacht im Hintergrund.
"Immer mit der Ruhe, meine verwöhnte Schweizerin. Das wird schon; wir von der dritten Welt sind es uns gewohnt, uns selbst um die Dinge zu kümmern. Schau, dein 'Mechaniker' hat bereits Werkzeug gefunden."
Tatsächlich hat sich John schon an den Dieselfilter gemacht; er baut ihn schon aus.
Selina schaut ihm fasziniert zu; dann erinnert sie sich an ihren Auftrag. "Java, wo können wir hier wohl Nylonstrümpfe oder etwas ähnliches auftreiben?"
"Du stellst Fragen! Nirgends! Aber ich glaube, eines der Mädchen da drin trägt Leggins. Vielleicht geht das auch." Java verschwindet im Bus und taucht kurz darauf mit einem Paar schwarzer Leggins wieder auf. Sie streckt diese John hin. "Was meinst du, klappt es hiermit auch?"
"Wir sollten es versuchen. Könnt ihr das zu einem möglichst dünnen Band drehen?"
Die Frauen versuchen es, müssen dazu jedoch ein Bein der Hose abtrennen. Als sie das gedrehte Band haben, knüpfen sie es zusammen und reichen es John. Er legt den 'Keilriemen' um die Riemenräder, prüft den Sitz und nickt anerkennend. "Das könnte reichen. Der Filter war total verklebt. Ich habe ihn gereinigt und wieder eingebaut. Versuche mal zu starten, Selina."
Sie klettert erfreut und beeindruckt in den Bus und startet den Motor. Nach einigen Versuchen springt er an und dreht normal, ohne Stottern. Auch der Ventilator dreht wieder fast normal.
John hält den Daumen hoch, Selina stoppt den Motor.
"Du bist der Wahnsinn, kleiner Mechaniker! Ohne dich wären wir ganz schön aufgeschmissen gewesen. Vielen herzlichen Dank."
John strahlt und freut sich über das Lob. Aus der Ferne hören sie plötzlich Motorengeräusche. Sie drehen den Kopf und können ein Fahrzeug ausmachen, das sich schnell nähert.
"Polizei?", fragt John besorgt.
"Schnell! Räumt das Werkzeug weg und steigt in den Bus. Alle einsteigen, bitte!"
Die anderen Kinder, welche sich während der Reparatur draußen vergnügt haben, steigen hurtig wieder ein und setzen sich auf die Bänke.
Selina und Java stehen noch als einzige auf der Straße. "Sieht wie ein Polizeifahrzeug aus. Was meinst du? Freund oder Feind?"
"Ich sage, wir lassen es nicht draufankommen und verschwinden von hier. Gib Gummi, meine berühmte Sängerin!" Selina klopft Java auf die Schulter und steigt ein, Java wirft sich hinter das Lenkrad, schließt die Türe und startet den Wagen. Langsam beschleunigt sie und blickt dabei immer wieder in den Spiegel - den einzigen, der noch da ist.
"Der Wagen holt auf - es ist die Polizei. Sie haben die Sirene eingeschaltet. Das gilt uns. Ich sollte anhalten."
"Fahr weiter! Kinder, duckt euch. Wir verstecken uns!"
Selina legt sich auf den Boden, die Kinder tun es ihr nach. Java gibt weiter Vollgas, doch das Polizeifahrzeug ist schneller; zu allem Überfluss beginnt auch ihr Handy zu klingeln. Sie wirft einen kurzen Blick darauf - Umbigwe! Erst jetzt dreht sie den Kopf, beobachtet das Einsatzfahrzeug, das soeben zum Überholen angesetzt hat. Ein lachender Umbigwe winkt ihr von der Rückbank zu und macht Zeichen, sie solle anhalten.
"Alles gut, ihr könnt hochkommen da hinten!", jubelt sie erleichtert. "Das sind Marco und Umbigwe, mit der ghanaischen Polizei! Es sind Freunde! Ich halte an!"
Java geht vom Gas; sachte drückt sie auf die Bremse und schaltet runter. Sie lacht und betätigt die Hupe, welche allerdings bloß ein metallisches Röcheln erklingen lässt. Die Kinder lachen ebenfalls. Der Bus hält am Straßenrand, das Polizeifahrzeug unmittelbar davor. Noch ehe der Wagen hält, springt Umbigwe raus und rennt zum Bus.
Java steigt aus und die beiden umarmen sich.
"Du hast dir ganz schön Zeit gelassen! Schäm dich!" Sie schubst ihn von sich weg.
Er lacht nur und zieht sie wieder an sich ran. "Ich war noch einkaufen, damit ich später für dich kochen kann!", scherzt er. "Ach, ist das schön, dass es euch gut geht! Kathrin hat was von einer Schießerei geschrieben. Wo sind die Söldner?"
"Bei der Schießerei liegengeblieben, denke ich! Hallo ihr zwei! Schön, seid ihr auch wieder mit uns!" Selina steigt lachend aus dem Bus und begrüßt die Männer.
Das Wiedersehen ist herzlich, die zwei Polizisten stellen sich vor und freuen sich mit.
"Selina, Java - diese zwei Polizisten hier sind Freunde, der Sergente da ist ein wahrer Rennfahrer! Wie können sie uns behilflich sein?"
"Ich denke, sie sollten sich die Namen der Kinder anhören und mit ihnen darüber reden, wo sie wohnen. Vielleicht können wir noch mehr Kinder nachhause bringen. Was meint ihr?" Java zeigt auf die Kinder.
Die Polizisten verstehen schnell und knien nieder. Sie sprechen in Dialekt mit den Kindern. Einige von ihnen beginnen zu lächeln, die Polizisten geben sich sehr freundlich.
Unterdessen berichten die Freunde von ihren jeweiligen Kontakten zu Elena oder Kathrin. Abschließend erhalten sie ein recht gutes Bild darüber, in welcher Lage sie sich befinden.
"Na, dann werden wir einmal mehr auf einer Fähre fliehen", spricht Marco die Erlebnisse an, welche sie vor einigen Jahren in Süditalien hatten.
"Wir haben uns auf einer Fähre kennengelernt, mein Freund - da sollten wir nichts Neues beginnen." Umbigwe lacht und die anderen stimmen ihm zu.
"Monsieur", meldet sich einer der Polizisten. "Wir haben diese zwei Mädchen hier einem Dorf zuordnen können, nicht weit von hier. Ich selbst komme von da! Sollen wir sie heimfahren und Sie fahren mit den anderen weiter zur Küste?" Neben dem Polizisten stehen zwei der kleinsten Mädchen. Sie lächeln vorsichtig. Er legt einem von ihnen die Hand auf den Kopf.
"Was denkt ihr?", fragt Selina vorsichtig. Ihr kennt die Männer - können wir ihnen vertrauen?"
"Ja, das können wir", beruhigt Marco, "Sie sind gute Männer, ehrliche Polizisten. Sie werden sich um die Mädchen kümmern."
Java nimmt die zwei Polizisten zur Seite. "Männer, nun hört mir einmal zu. Sollte ich erfahren, dass diesen zwei süßen Mädchen irgendetwas Böses widerfahren ist, werde ich wiederkommen, Sie beide finden und Ihnen persönlich Manieren beibringen. Sie sind Offiziere im Auftrag des Staates und der Bürger - also handeln Sie auch danach."
Die Männer starren Java an. Dann beginnen sie zu lachen. "Umbigwe - wer ist diese Frau? Die macht uns echt Angst."
"Das, mein lieber Freund, ist meine geliebte Java, eine berühmte Sängerin und eine sehr starke Persönlichkeit. Ich an deiner Stelle würde tun, wonach sie verlangt."
"Madame, wie sprechen Sie mit der Polizei? Wir vertreten das Gesetz ..." Weiter kommt er nicht, denn Java fällt ihm ins Wort.
"Ja, korrekt - und das sollten Sie auch nie vergessen, meine Herren! Vielen Dank - Sie tun das Richtige!" Sie umarmt beide Polizisten, welche kopfschüttelnd weiterlachen.
Die zwei Mädchen verabschieden sich von den anderen Kindern und von den zwei Frauen; dann steigen sie in das Polizeiauto. Marco und Umbigwe bedanken sich bei den Polizisten und winken, als der Wagen wieder zurück in Richtung Norden fährt.
"Trucker! Worauf wartest du? Hinter das Lenkrad mit dir! Die Fähre wartet!" Java neckt ihren Freund Marco ständig und er ist über ihre Lockerheit beruhigt, denn nach den Erlebnissen im Hotel war er sich nicht mehr sicher, ob es jemals wieder so sein könnte.
Die weitere Fahrt verläuft ereignislos. Links und rechts der Straße können die Freunde immer mehr Palmenplantagen sehen. Es betrübt sie stark, dass die Bauern der Region hier auf Ölpalmen setzen und deswegen die einheimische Pflanzenwelt roden. Einmal mehr wird es ihnen bewusst, wie stark der kapitalistische Norden und Westen die Entwicklung der Natur und der südlichen Wirtschaft beeinflusst. Mit Palmöl lässt sich mehr Geld verdienen als mit einheimischen Pflanzen; aber vom Palmöl können die Menschen nicht leben und müssen die Lebensmittel zu den Bedingungen der reichen Industriestaaten importieren. Dabei könnten sie einfach den Maniok oder die Süßkartoffeln anbauen, welche ihnen das Überleben sichern könnten, angereichert mit Mango, Ananas und Bananen. Traurig betrachten die Freunde die Landschaft, Umbigwe erklärt ihnen alles.
Als sie die Küste erreichen, wollen die Kinder alle rechts im Bus sitzen; dort hat man immer wieder einen spektakulären Blick auf das Meer, welches viele von ihnen noch nie gesehen haben. Begeistert kleben sie an den Scheiben und freuen sich über den Ausblick.
Nach einigen Stunden Fahrt erreichen sie Sekondi-Takoradi, die Hafenstadt. Marco lenkt den Bus routiniert durch die Stadt; der wilde Verkehr macht ihn nicht nervös. Auf dem riesigen Kreisverkehr biegt er in Richtung Hafen ab. Überall hat es Autos, fast keine Neuwagen, bloß verbeulte und verrostete Autos, welche vor vielen Jahren eventuell in Europa oder in den Staaten gefahren wurden. Wieder ergreift die Freunde ein ungutes Gefühl. Selbst der Fortschritt hier scheint ein 'Second-Hand-Produkt' zu sein. Viele Roller fahren auf der falschen Straßenseite - offensichtlich spielt es hier keine große Rolle, wo oder wie man fährt, Hauptsache, man nimmt auf die anderen Verkehrsteilnehmer Rücksicht und denkt immer vorwärts.
"Na? Was denkst du über die Straßen Afrikas?", neckt Umbigwe seinen Freund und klopft ihm auf die Schulter.
"Italien ist die reinste Klosterfahrschule dagegen. Brav und bieder im Vergleich zu dem hier. Palermo ist ein sehr geordnetes und seriöses Straßenpflaster - ich werde mich nie wieder über den Verkehr in Italien beschweren."
Umbigwe lacht. "Wie recht du hast! Noch schlimmer ist es in Asien oder in Russland - aber das hier kann einen Europäer schon Blut schwitzen lassen. Ihr mit euren Regeln und eurer Marschmusik! - Das hier ist pure Lebensfreude!"
Nur wenig später erreichen sie den Hafen. Bereits von weither sehen sie ein Fährschiff, das wie verloren vor Anker liegt und auf eine Fracht hofft, die nicht zu kommen scheint. Marco hält den Bus gleich an der Rampe an. Ein Matrose zeigt ihm an, auf das Schiff fahren zu dürfen. Als sie den Bus am vorgesehenen Ort geparkt haben, steigen die Erwachsenen zuerst aus.
"Seid ihr die Freunde des Capitano?"
"Die sind wir! Freut mich, ich bin Marco Pignatelli; danke, dass du uns hier abholst."
"Pignatelli! Soso. Einen mächtigen Namen hast du da, mein Freund. Ich bin Sergio Pini, der Kapitän der Santa Federica. Willkommen an Bord. Folgt dem Matrosen, er wird euch die Kabinen zeigen. Die Überfahrt wird etwas mehr als zwanzig Stunden dauern. Ihr solltet später versuchen zu schlafen."
Selina und Java kümmern sich um die Kinder und begleiten sie in die Kojen. Die Kinder möchten jedoch vor allem das Schiff ansehen. Sie haben noch nie ein so großes Schiff gesehen und betrachten es als ihren privaten Spielplatz.
Da die Fähre keine weitere Fracht aufnehmen muss, können sie sofort ablegen. John verfolgt das Ablegemanöver fasziniert, Marco erklärt ihm alles ganz genau. Sehr gerne hätte er die Stadt noch genauer angeschaut. Aus dem Internet weiß Marco, dass Sekondi-Takoradi auch von Kreuzfahrtschiffen angefahren wird - also muss es in der Stadt Sehenswürdigkeiten von internationalem Ruf geben.
"Wohin fahren wir nun?", fragt John plötzlich.
"Wir fahren nach Kribi - das liegt in Kamerun. Warum fragst du?"
"Und was wollen wir in Kamerun?"
"Weiterfahren. Wir wollen bis nach Kongo fahren. Mein Freund Umbigwe hat dort eine Schule, ein Kinderheim und eine Kakaoplantage."
"Müssen wir wieder arbeiten?" John blickt Marco mit angstvoll aufgerissenen Augen an.
"Nein, John. Ihr müsst nicht mehr arbeiten. Ihr könnt dort zur Schule gehen und einen Beruf lernen. Was möchtest du werden?"
"Kapitän - wie der nette Mann mit dem weißen Hemd von vorhin." John strahlt.
"Nicht Mechaniker oder Tankwart?"
"Nein. Kapitän. Dann kann ich die Welt sehen! Geht das?"
Marco weiß es nicht, aber er erklärt dem Jungen, dass er sich in der Schule anstrengen muss, um seine Ziele zu erreichen und dass dann vieles möglich werden könnte. Insgeheim hofft er, damit recht zu haben.
***
Der Golf von Guinea ist nahezu wellenlos. Die Sterne spiegeln sich im ruhigen Wasser. Die Fähre gleitet wie zwischen zwei Sternentüchern hindurch; weit und breit ist kein anderes Licht oder Schiff zu erkennen. Die starken Motoren wummern gleichmäßig.
Marco und Java sitzen auf dem Oberdeck und genießen die Ruhe. "Danke für den Tag heute, Java."
"Du meinst, danke, dass ich dich mit dem Bus nicht überfahren habe?"
"Ja, genau das. Ich hätte es verdient."
"Das mag stimmen - aber dieses Vergnügen möchte ich Elena überlassen. Marco - im Ernst: Was stimmt nicht mit dir?"
"Ich wollte das nicht."
Java dreht sich augenblicklich zu ihm und macht das untrügliche Handzeichen einer Frau, das jedem Mann zeigt, die Klappe zu halten. "Stopp, Drummer, halt jetzt! Komm mir nicht so! Ich bitte dich - ich bin eine intelligente Frau also behandle mich gefälligst auch so. An mir kannst du üben, damit du bei Elena nicht versagst."
"Noëlle Amara kam ins Hotel und nahm den kompletten Raum in Beschlag."
"Sie sieht wahnsinnig toll aus, selbst als Frau muss ich das zugeben. Doch warum gleich auf sie draufhüpfen?"
"Jetzt musst du aber mal stoppen, meine Gute. Ich bin nicht auf sie draufgehüpft! Das hätte ich nie und nimmer getan. Wofür hältst du mich?"
"Sag du es mir. Bei mir damals hast du nicht gezögert."
"Ich habe mich verändert, Java, und das weißt du."
Eine Sternschuppe zieht über den mondlosen Nachthimmel. Beide sagen einen Moment nichts, versuchen sich ihre Wünsche zu formulieren.
"Ich dachte, das wüsste ich. Aber dann sah ich dich mit dieser Beduinin rumknutschen. Deine Zunge steckte im Hals der Wüstenprinzessin - schon vergessen?"
"Nein, das tat sie nicht. Wärst du nur drei Sekunden später gekommen, hättest du gesehen, dass ich sie von mir weggestoßen hätte. Ich dachte in diesem Moment an Elena und wollte das Noëlle sagen. Deshalb war ich auf ihrem Zimmer."
"Warum hast du dann mit ihr geflirtet?"
"Ich war an ihren Büchern interessiert. An ihrem Schreibstil, an ihren Werken. Für mich war sie eine sehr berühmte Kollegin - das ist, wie wenn du auf Robbie Williams treffen würdest; einfach so, in einer Hotel-Lobby. Ich hatte die Möglichkeit mit einem Star meines Berufes zu reden."
"Robbie wer? - Bei Bryson Tiller würde ich eher verstehen, wovon du sprichst. Aber ich begreife, worauf du hinauswillst. Du möchtest mir also weismachen, dass du nicht auf sie stehst?"
"Nein, das tu ich nicht. Ich bin mit Elena zusammen und das wird auch immer so sein."
Wieder entsteht ein Moment der Ruhe. Marco ist aufgewühlt. Er spürt, dass sein Verhalten falsch verstanden worden war und schämt sich deswegen. Er verspürt eine eigenartige Schuld Elena gegenüber, obwohl er tief in sich drin dafür keinen Grund sieht.
"Warum hat du bei mir nicht auch so gehandelt? Warum hast du mich verlassen?" Java spricht nur sehr leise. Sie kennt die Antwort, möchte es aber von ihm selbst hören.
"Ich war ein junger, mittelmäßiger Musiker, du eine aufstrebende Sängerin. Ich hatte das Gefühl, deiner Karriere im Weg zu stehen. Die Frau aus dem Publikum, die mich anhimmelte, Salome, rettete mich davor, kläglich zu scheitern. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Da habe ich diesen Weg gewählt."
"Und hast du es bereut?" Java blickt ihm direkt in die Augen.
"Ja, das habe ich. Salome war anders. Sie führte ein anderes Leben, als ich es führen wollte. Ich habe es bereut - und nicht erst als sie mich wieder verlassen hat."
"Ich muss zugeben, dass mich dieser Moment, wie soll ich sagen, etwas schadenfroh gestimmt hat." Java lächelt.
"Und trotzdem hast du zu mir gehalten, als Freundin. Java - unsere Freundschaft bedeutet mir sehr viel. Uns verbindet so viel mehr als das."
"Ja, das stimmt. Mir bedeutet es auch sehr viel, Marco. So viel, dass ich alles dafür gebe, dass du und Elena glücklich werdet. Versprich mir, dass du es ihr erzählst. Alles."
"Ich verspreche es dir. - Aber du musst mir versprechen, mit Umbigwe zu reden, okay?"
"Das, mein lieber Drummer, besprechen wir ein andermal. Jetzt bin ich einfach nur müde; ich möchte den Sternenhimmel noch etwas betrachten und danach zufrieden schlafen. Wir haben morgen einen langen Tag vor uns."
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