31 - Westafrika
Den teuren und neuen Mietbus, den sie die letzten Tage haben benutzen dürfen, konnten sie nicht kaufen; die Vermietungsfirma war nicht zu überzeugen. Wohl oder übel hat Marco danach einen älteren Kleinbus bei einem Gebrauchtwagenhändler in Abidjan erworben. Mit einem gebrauchten Iveco sind die Freunde nun unterwegs nach Niablé. Der klapprige Wagen bietet Platz für fünfzehn Reisegäste und etwas Gepäck. Marco sitzt am Steuer, er konzentriert sich auf die Straße.
Selina, Java und Umbigwe besprechen im Fahrgastraum, wie sie vorgehen wollen. Vorerst müssen sie wohl das Vertrauen der Polizei gewinnen, denn sie haben keine Ahnung, wo sich die Kinder befinden.
"Wir müssen herausfinden, wo sie die Kinder hingebracht haben. Nur so haben wir eine Chance, sie zu befreien." Selina ist wieder gesund und voller Tatendrang.
"Und was dann? Wohin wollen wir mit den Kindern fahren?", fragt Java besorgt.
"Jene, welche ihren Wohnort kennen, werden wir zu ihren Eltern fahren. Die anderen nehmen wir mit nach Kongo, auf Umbigwes Plantage. Von dort aus können wir danach nach ihren Eltern suchen." Selina blickt den Koch fragend an.
"Aber ja", bestätigt er die Idee. "Das wird gehen. Bei uns können sie wohnen, zur Schule gehen und einen Beruf erlernen. Wir könnten ein Haus zu einer Art Kinderheim umfunktionieren. Ich müsste das mit Malaika besprechen. Nala könnte eventuell die Leitung des Kinderheims übernehmen."
"Hoffen wir, dass wir die Kinder finden." Java blickt bei diesen Worten aus dem Fenster. Sie sieht den Regenwald an sich vorbeiziehen, den Wald, in welchem sie vor wenigen Tagen mit Selina um ihr Leben kämpfte. Java trägt weiterhin das traditionelle Gewand, welches sie von Tanisha erhalten hat. Gedankenverloren streicht sie mit ihrer Hand über den Stoff. Seit ihrem Streit mit Marco hat sie kein Wort mehr mit den Schweizer gewechselt. Sie erinnert sich an die Zeit, als sie beide sich als junge Musiker kennengelernt und geliebt hatten. Bitter wie aufsteigende Magensäure erinnert sie sich an den Moment, wo Marco sie mit einer Sportlehrerin betrogen hat. Java erinnert sich ebenfalls daran, etwas Genugtuung, ja Schadenfreude gar, empfunden zu haben, als Marcos Beziehung zu dieser Frau wieder in die Brüche ging. Sie blickt nach vorne, betrachtet ihren langjährigen Freund von hinten. Plötzlich treffen sich ihre Blicke im Rückspiegel und sie spürt, dass ihre Freundschaft auch diese neueste Krise überstehen wird. Sie und Marco sind Freunde fürs Leben - ganz egal, was noch alles kommen mag.
Java spürt eine Hand auf der Schulter und dreht sich um. Selina hat sich neben sie gesetzt. "Darf ich?"
"Aber ja. Verrückt, oder? Eben noch sind wir da draußen rumgekrochen und haben Kräuter gefressen. Heute sitzen wir in diesem Bus und werden Kinder befreien."
"Du siehst hübsch aus in diesem Gewand." Selina nimmt den Stoff in ihre Hand. Sie selbst hat das Kleid im Gepäck, fein säuberlich gefaltet und trägt wieder Jeans und T-Shirt.
Traurig lächelt Java sie an. "Danke. Dir steht deines auch sehr gut. Ich hoffe, wir können die noblen Gewänder einst zu einem fröhlicheren Anlass tragen. Hast du eigentlich Simbas E-Mail gespeichert?"
"Aber sicher", lächelt Selina. "Ich will ihm Fotos schicken können, wenn alles vorüber ist. - Du denkst an Marco, oder? Was hast du mit Noëlle gemacht?"
"Es war nicht richtig, das weiß ich nun. Aber ich war in dem Moment so wütend. Ich habe sie angeschrien, ihr gedroht - dabei hätte ich meinen Freund da am Lenkrad schütteln sollen. Er ist so ein Idiot." Sie deutet mit der Hand auf Marco.
"Noëlle hat ihn verzaubert. Wir Frauen haben die vollkommene Kontrolle über die Männer. Das war schon immer so - sie wollen es nur nicht wahrhaben." Selina lächelt schelmisch.
"Das stimmt allerdings. - Darf ich dir eine persönliche Frage stellen?" Mit ihren dunklen Augen sucht sie bereits die Antwort in Selinas Gesicht und findet sie im Lächeln, das sie erwidert. "Seit wann weißt du, dass du mit einer Frau leben willst?"
"Seit ich verstanden habe, dass kein Mann dieser Welt mir das geben könnte, was ich brauche."
Java blickt Umbigwe an, der auf eine Karte blickt.
"Was ICH brauche, Java. Du bist nicht ich." Selina dreht Javas Kopf wieder in ihre Richtung. "Dieser Mann da, der liebt dich. Niemals würde er zulassen, dass du nicht du selbst sein könntest oder dass dir ein Leid geschehen wird. - Ganz abgesehen davon sieht er zudem verdammt gut aus und ist ein exzellenter Koch. Worauf wartest du noch?"
Wie aus dem Nichts fasst Java Selinas Gesicht mit beiden Händen und drückt ihr einen Kuss auf die Lippen. "Danke, liebste Schwester!"
Überrumpelt greift Selina mit ihren Fingern an die Lippe und lächelt. "Immer gerne. Wir sind ein gefährliches Gespann, wir zwei."
"Du bist Nitro, ich Glyzerin!", lacht nun auch Java.
"Wie gesagt, verdammt gefährlich!"
Vom Nebensitz blickt Umbigwe von seiner Karte auf und schaut die lachenden Frauen fragend an.
***
Marco parkt den Wagen vor dem Rathaus in Niablé. Alle vier Insassen steigen aus und strecken erstmal ihre Knochen, machen Dehnübungen und versuchen, ihre Verspannungen zu lösen. "Bro, wie hast du das nur geschafft? Stundenlang nur sitzen und fahren - das wäre kein Beruf für mich." Umbigwe legt seinen Arm um Marco.
"Man gewöhnt sich dran. Aber die Straßen hier sind definitiv auch nicht mein Ding. Wenn ich daran denke, mit dieser Krücke bis nach Kongo fahren zu müssen; puh, das wird ein hartes Stück Arbeit."
"Zorro!"
"Wie bitte?" Marco staunt seinen grinsenden Freund an.
"Diese Textzeile wurde in 'Zorro' gesagt - als der alte Zorro mit seinem jüngeren Nachfolger, dem Dieb Murrieta, trainieren musste. - Hast du den Film nicht gesehen? Anthony Hopkins und Antonio Banderas?"
"Ich erinnere mich an die Fecht-Szene mit Catherine Zeta-Jones." Marco krault sich das Kinn.
"Hör mir bloß auf mit deinen Weibergeschichten, du helvetischer Schönling!"
Lachend schreiten die Freunde Arm in Arm Richtung Büro, die Frauen sind bereits weiter vorne und warten ungeduldig.
Auf dem Polizeirevier heißt man die Freunde dieses Mal weniger höflich willkommen. Der Postenchef sitzt an seinem Schreibtisch, ein uniformierter Polizist steht daneben. "Die Kinder sind weg. Es geht ihnen gut, wir werden sie nach Ghana zurückbringen", erklärt der Postenchef, dabei legt er eine Hand auf einen dicken Umschlag, der auf den Schreibtisch liegt. "Sie haben den Weg umsonst gemacht und können beruhigt nachhause Fahren, auf Wiedersehen, meine Damen und Herren." Der Uniformierte weist ihnen den Weg.
"Sagen Sie uns bitte, wo man die Kinder hingebracht hat; dann gehen wir." Selina lässt nicht locker. Nun erhebt sich auch der Postenchef und will die Freunde zur Tür begleiten. Umbigwe steht im Hintergrund und beobachtet die Situation.
Der Uniformierte fasst, während er spricht, Marco am Arm und führt ihn zur Tür. "Ins Kinderheim der gnädigen Schwestern - nun aber raus hier." Der Polizist ruft zwei weitere Kollegen herein. Der Postenchef führt Umbigwe weg.
Marco nimmt Selina am Arm und führt sie hinaus. Draußen stampft sie wütend auf den Boden.
"Das darf doch nicht wahr sein. Man behandelt uns wie unmündige Kinder. Ich sollte sofort wieder reingehen und den Kerlen Anstand beibringen." Sie dreht sich um, Java erwischt sie noch am T-Shirt.
"Selina, lass es. Wir wissen, was wir erfahren wollten. Lass gut sein. Wir gehen." Sie führt die empörte Journalistin zum Bus.
Umbigwe hat bereits die Adresse in seinem Handy eingegeben und lotst Marco zum Gebäude des von Nonnen geführten Kinderheims. Es handelt sich um einen einfachen Lehmbau, gelb angestrichen. Der Putz bröckelt an vielen Stellen, das Gebäude wirkt ungepflegt, doch die Fenster im Untergeschoss sind allesamt vergittert.
"Das erinnert mich mehr an ein Gefängnis als an ein Kinderheim", bemerkt Marco. Java und Selina nicken zustimmend. Marco klopft an die Holztür.
Eine junge Frau im Nonnenkostüm öffnet und blickt die Freunde skeptisch an. "Ja?"
"Guten Tag. Wir sind das Begleitteam, das die Kinder aus Ghana abholen soll. Wir haben den Bus mitgebracht", lügt und pokert Java lächelnd.
Die Nonne mustert die vier jungen Menschen vor ihrer Tür und blickt danach zum Bus, der einheimische Kontrollschilder hat und definitiv nicht wie ein Mietbus aussieht. "Haben Sie die Transportpapiere? Die Kinder müssen für den Grenzübertritt Papiere dabeihaben."
"Die Papiere ...", Java gerät ins Stocken, als sie ihren Fehler bemerkt. Die Nonne blickt hinter sich und ruft nach der Oberin.
"Aber natürlich haben wir die Papiere. Ist alles da - sehen Sie." Umbigwe steht grinsend neben Java, zwinkert ihr zu - in der Hand hält er den dicken Umschlag aus dem Polizeirevier. Darin befinden sich Ausweise und offizielle Bestätigungen. Unterdessen ist die Oberin neben ihre Novizin getreten.
"Worum geht es hier?"
Die junge Nonne klärt ihre Chefin auf. Diese greift nach dem Umschlag und schaut jedem der vier Freunde ins Gesicht. "Lassen wir die netten Herrschaften eintreten. Soeur Barbara, holen Sie bitte die Kinder. Sie sollen ihre Kleider mitnehmen. - Bitte, treten Sie ein und nehmen Sie Platz."
Die Freunde setzen sich mit der Oberin an einen langen Tisch, Soeur Barbara verschwindet.
"Das ist nett von der Polizei, dass sie vier so sympathische, junge Menschen mit dem Transport beauftragt. Die Kinder sind traumatisiert und hätten Angst, wenn hier Polizisten mit Waffen stehen würden. Wie kommen Sie zu dem Auftrag?"
"Wie haben Kakaoplantagen besichtigt und sind mit unserem Bus auf der Rückreise nach Kongo. Da hörten wir, dass einige Kinder aufgegriffen worden sind, haben uns erkundigt und unsere Hilfe angeboten." Selina hat insgeheim schon ein schlechtes Gewissen, eine Nonne anzulügen - auch wenn es für eine gute Sache ist.
"Ihre Reise ist das Glück für die Kinder. Wir stellen Ihnen noch eine Kiste mit Brot und zwei Kanister mit Wasser zur Verfügung, für unterwegs. Es hat auch noch einige Würste darin, weil die Buben das so gerne essen."
"Danke, Mutter Oberin, das ist sehr großzügig."
Im Flur wird es laut, eine Gruppe von etwa zehn Kindern stürmt zusammen mit drei jungen Nonnen herbei; es scheint, als veranstalten sie ein Wettrennen. Der erste Knabe am Tisch jubelt und tanzt, die anderen freuen sich mit ihm.
"Nicht so stürmisch, Jungs. Jetzt geht es heimwärts. Das sind eure Begleiter. Die Gruppe stellt sich vor, die Knaben bleiben artig stehen und reichen den Freunden die Hand.
"Seid ihr bereit für eine abenteuerliche Fahrt in eure Heimat?", fragt Umbigwe strahlend.
Die Knaben nicken oder jubeln. Die Nonnen begleiten sie zum Bus, die Kinder steigen ein - insgesamt sieben Knaben und vier Mädchen, alle im Alter zwischen neun und dreizehn Jahren.
Zum Schluss verabschieden sich Umbigwe und Java von den Nonnen, die Oberin überreicht ihnen den Umschlag mit den Papieren. "Seien Sie vorsichtig. Es gibt viele böse Männer da draußen. Gott sei mit Ihnen."
"Danke, Mutter Oberin. Wir sind unauffällig und haben den besten Fahrer, den Sie sich vorstellen können."
Marco startet den Dieselmotor, die Kinder haben sich unter Anleitung von Selina brav hingesetzt. Als Java und Umbigwe im Bus sind, fährt Marco langsam an. Zum Abschied winken die Kinder den Nonnen zu.
"Du hast dem Polizisten die Papiere gestohlen? Du bist ein Held - und ein Dieb! Schäm dich - ich liebe dich!" Java fällt Umbigwe um den Hals, die Kinder kichern.
"Was denn nun? Held oder Dieb?"
"Das entscheiden wir an der Grenze", gibt Java schelmisch zurück.
***
Auf dem Polizeiposten sucht man verzweifelt nach den Papieren der Kinder. Der Postenchef kann sich nicht erklären, wie der Umschlag verschwinden konnte und macht seine Untergebenen dafür verantwortlich. Als das Telefon klingelt, setzt er sich nervös und wütend an seinen Schreibtisch. Er nimmt den Hörer in die Hand und will etwas sagen, da wird er bereits angebrüllt. Es ist der Polizeipräsident persönlich, aus Abidjan.
"Was ist eigentlich los bei euch Stümpern? Ich hatte soeben eine Nonne am Telefon, die sich dafür bedankte, dass wir die Kinder von Zivilpersonen haben abholen lassen! Was soll das bedeuten? Ich verlange eine Erklärung!"
"Oui, mon Général, sofort." Er ist sehr bleich im Gesicht und die Wut ist einer deutlich sichtbaren Angst gewichen. "D... das müssen diese Ausländer gewesen sein. Sie waren hier."
"Natürlich waren sie das. Sie wollten die Kinder sehen, korrekt?"
"Oui, Chef. Das wollten sie. Aber wir haben sie rausgeschmissen." Mit einem Mal wird dem Polizisten klar, wo sich der Umschlag mit den Bewilligungen befindet.
"Und ihr habt ihnen nichts gesagt?"
"Einer der Streife hat das Koster erwähnt. Und ..."
"Was denn noch?" Der Polizeipräsident ist außer sich.
"Sie haben die Papiere der Kinder gestohlen", beichtet der Polizist kleinlaut.
"Du bist entlassen, du Idiot! Findet den Bus und sorgt dafür, dass diese Kinder verschwinden!"
Sobald er aufgelegt hat, schreit der Polizist mehrere Befehle durch den Raum. Seine Untergebenen rennen zu ihren Fahrzeugen und preschen in verschiedene Richtungen davon. Der Postenchef hingegen sinkt auf seinen Sessel, noch immer bleich im Gesicht. Er legt seine Mütze auf den Schreibtisch, nimmt ein Tuch und wischt sich den Schweiß aus der Stirn.
***
Marco lenkt den Bus auf der staubigen Straße in Richtung Ghana. Als sie die Grenze erreichen, ist der Schlagbaum unten; zu beiden Seiten stehen bewaffnete Männer, welche grimmig zum Bus blicken, als ob sie die Reisenden erwarteten.
"Lasst mich das machen", beruhigt Umbigwe seine Freunde. Marco hält vor der Schranke an, Umbigwe steigt aus. In einer Sprache, die sonst niemand versteht, redet er auf den einzigen Grenzwächter ein, der keine Waffe trägt. Offensichtlich verstehen sich die Männer, denn die Miene des Mannes in Uniform heitert sich auf; er blickt zum Bus und fixiert Java mit seinem Blick. Am Ende lacht er gar, nimmt Umbigwe am Arm und sie verschwinden im Grenzposten; Umbigwe hat die Papiere mitgenommen - und auch etwas Geld.
Nach wenigen Minuten kommen sie wieder aus dem Haus, Umbigwe verabschiedet sich und steigt in den Bus. Derweilen ruft der Grenzwächter seinen Männern einige kurze Befehle zu, der Schlagbaum hebt sich. Marco startet grinsend den Motor und rollt los, die Kinder winken den lächelnden Soldaten zu.
"Wie hast du das gemacht?", will Selina wissen.
"Die Kunst der richtigen Worte", ruft Marco hinter dem Lenkrad und Umbigwe nickt nur.
"Ja, es ist wichtig, die Landessprache zu beherrschen. Unsere Sprachen hier sind nicht so verschieden, wie bei euch in Europa. Oft versteht man sich zumindest teilweise. Ich habe dem Mann erklärt, dass wir mit den Kindern auf Bildungsreise seien. Java und du habt als Lehrerinnen herhalten müssen, welche den Kindern Französisch und Englisch beibringen. Dein Kleid, Java, hat dem Mann gefallen. Er meinte nur, du habest wohl auch etwas von unserer Kultur gelernt."
"Wie viel hat es uns gekostet?", will Marco doch noch wissen.
Umbigwe zuckt mit den Schultern und meint, es werde wohl für zwei oder drei gute Abendessen mit der ganzen Familie reichen; oder für einige Kisten Bier am Grenzposten. Daraufhin lachen sie alle.
"Also ehrlich - ich verstehe die Welt nicht. Gibt es denn keine Ehrlichkeit mehr?"
"Darf ich daran erinnern, liebe Selina, dass du vor zwei Stunden eine Nonne angelogen hast, ohne mit der Wimper zu zucken? - Das hast du gut gemacht. Definitiv Held." Java schickt Umbigwe eine Kusshand zu.
In der ersten Ortschaft in Ghana hält Marco an einer Tankstelle, obwohl der Tank noch lange nicht leer ist. "Besser auffüllen - wir wissen nicht, wann wir die nächste Gelegenheit dazu haben", sagt er nur kurz, dann verhandelt er auch schon mit dem Tankwart. Selina und Java versuchen unterdessen, mit den Kindern zu sprechen. Umbigwe hilft mit Übersetzen, wenn die Kinder kein Französisch können.
Keines der Kinder kann ihnen genau sagen, wo sie wohnen, denn die Ortschaften in diesem Teil Ghanas tragen oft keine Ortsnamen; es sind Ansammlungen von Häusern, oft bei Kreuzungen oder an wichtigen Straßenverbindungen. Selina lässt Umbigwe und Java mit den Kindern reden und setzt sich zu Marco, der inzwischen wieder auf seinem Sitz Platz genommen hat. "Wo müssen wir hin?", erkundigt er sich.
"Fahre bei den Ortschaften langsam. Vielleicht kennen sie plötzlich einige Häuser oder eine Kreuzung. Wir haben keine brauchbaren Informationen erhalten; unser Liebespärchen versucht es weiter." Selina grinst Java an, die den Satz gehört hat und empört den Kopf schüttelt.
An der Kreuzung zur Fernstraße von Buaku nach Yamatwa muss Marco einige Holztransporter ziehen lassen, bevor er in Richtung Debiso einbiegen kann. Zu den Lastern hält er großen Abstand, dennoch dringt der Staub durch alle Ritzen. Sie können gerodete Gebiete erkennen, Flecken mitten im Regenwald, wo Ölpalmen angepflanzt werden. "Schon verrückt, was die nördliche Zivilisation mit den Bauern hier macht", sinniert Marco.
"Allerdings. Ich hoffe aber, die Kinder werden vielleicht in Debiso etwas erkennen."
Kaum hat Selina diesen Satz halblaut, mehr zu sich selbst gesagt, schreit ein Junge auf der hintersten Bank.
"Meine Schule, meine Schule!" er strahlt richtiggehend und zeigt auf ein Gebäude auf der rechten Seite der Straße. Im letzten Moment biegt Marco in den kleinen Seitenweg und hält auf das Gebäude zu. "Meine Schule", schreit der Junge nochmals. Er drängt nach vorne zur Tür, welche Marco sofort öffnet, als der Wagen steht.
Der Junge ist bereits an der Tür zum Gebäude, aus welchem mit einem Male lauter Jubel erklingt. Kinder und Erwachsene rennen aus dem Haus und umzingeln den Bus. Die Freunde werden wie Helden gefeiert; eine großgewachsene Frau in einem weiten Gewand geht auf Umbigwe zu. "Wer seid ihr?", fragt sie strahlend. "Woher kommt ihr?"
"Ich bin Umbigwe aus Souanké und das sind meine Freunde. Wir bringen diese Kinder heim - aber das ist eine lange Geschichte."
"Es ist vor allem eine glückliche Geschichte, Umbigwe. Ich bin Abmaba Badu."
"Kennst du noch andere Kinder als diesen Knaben hier?"
"Er heißt Ayi", lacht die Lehrerin "Das bedeutet: Der Gefeierte! Wie passend! Lass mich sehen." Abmaba steigt in den Bus. Sie erkennt tatsächlich noch drei weitere Kinder und führt sie aus dem Bus, ein Mädchen und zwei weitere Jungen. "Diese drei sind auch aus der Region um Debiso. Ihr könnt sie hier bei mir lassen - ich sorge dafür, dass sie nachhause kommen. - Aber jetzt müsst ihr erzählen."
Umbigwe wehrt ab. "Es tut mir leid, Abmaba, aber wir müssen weiter. Wir werden von den bösen Männern verfolgt und wahrscheinlich auch von der Polizei."
Bei diesen Worten verbittert sich die Miene der Lehrerin. Sie nickt verständnisvoll und schickt die Kinder wieder ins Schulhaus, zusammen mit den anderen Lehrerinnen. "Hast du einen Stift?"
"Nein, aber ein Telefon", sagt Selina, bereit zu tippen, was die Lehrerin ihr diktiert. Es ist eine Adresse.
"Das ist die Adresse der Schule hier. Bitte schreibt mir eure Geschichte. Bitte schreibt auch, was mit den anderen Kindern geschehen ist. Ich danke euch für alles, was ihr hier macht. Und nun fahrt weiter - viel Glück, meine Freunde."
"Danke, Abmaba. Wir werden uns bestimmt melden. Die Kinder, die kein Zuhause mehr haben oder nicht zurück können, werden mit zu uns nach Souanké nehmen. Wir haben ein Kinderheim - dort sind sie gut aufgehoben. Wir haben auch eine Schule."
Als sie wieder auf der Straße sind, einige Kilometer außerhalb der kleinen Stadt, dreht sich Java zu Umbigwe um. "Ein Kinderheim? Das ist mir neu, mein Lieber."
"Ich musste das sagen. Sie hätte uns nicht fahren lassen. Es ist doch keine schlechte Idee. Ich werde mit meinen Schwestern reden."
"Aber sicher wirst du das." Java lächelt. "Du wirst noch ein Heiliger - spätestens dann werde ich dich verlassen. Heilige sind mir ungeheuer."
Selina und Umbigwe lachen; sie bemerken, dass Marco immer wieder besorgt in den Rückspiegel blickt.
"Was ist los, Trucker?", fragt Umbigwe.
"Zwei Jeeps. Schnell näherkommend", bemerkt Marco unruhig und beschleunigt den Bus.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top