27 - Bern & Zürich - Schweiz
Fritz Berlinger rutscht nervös auf seinem Stuhl hin und her. Der zuständige Bundesrat für auswärtige Angelegenheiten hat ihn erneut zu sich gebeten.
"Fritz, nun haben wir ein Problem. Die Börse knickt ein; der Preis für Kakao fällt ins Bodenlose. Seit diesem Artikel hat die Aktie von Blanchet über drei Viertel an Wert verloren. Wir sollten die Firma mit Bundesgeldern stützen, um die Arbeitsplätze in der Schweiz zu sichern."
Berlinger sagt vorerst nichts. Er greift nach dem Glas mit Wasser. "Ich weiß; leider. Ich bin mir nicht sicher, ob wir Blanchet stützen sollten."
"Du weißt, dass uns das den Kopf kosten kann, wenn wir es nicht tun."
"Und wenn wir es tun, ebenfalls. Wenn du geköpft wirst, spielt es keine Rolle, ob das Schwert von links oder von rechts kommt. Ich vermute, an der Sache ist etwas dran. Hast du nun mit Blanchet gesprochen?"
"Er müsste jeden Moment eintreffen. Ich wollte, dass du dabei bist." Der Bundesrat lächelt. "Mein Kollege vom Finanzdepartement wird auch zu uns stoßen, dann sind alle wichtigen Männer vertreten."
"Wie damals, als man die Swissair beerdigt hat. Männer, die nicht auf Frauen hören ...", murmelt Berlinger.
"Was sagst du?"
"Ich habe ein schlechtes Gefühl, mein Guter. Mir fehlt die Meinung einer Frau. Wir sollten Kathrin zu uns holen."
"Tu das, wenn du es für nötig erachtest." Der Bundesrat zeigt mit seiner Handbewegung Gleichgültigkeit und lehnt sich zurück.
Jemand klopft an die massive Holztüre; sie wird geöffnet und ein kleiner, schlanker Mann in einem zu großen Sakko tritt ein; unter dem Arm trägt er zwei Bundesordner.
"Fritz, darf ich dir unseren Finanzminister vorstellen? Ihr kennt euch, glaube ich, noch nicht persönlich."
Berlinger reicht dem Politiker die Hand, sie begrüßen sich freundlich. Der Finanzminister legt seine Ordner auf den Tisch.
"Wir warten noch auf Blanchet? - Wen hast du eingeladen, Frank, den alten oder den neuen Chef?" Der Finanzminister zwinkert seinem Ratskollegen zu.
"Wen wohl - den alten natürlich. Mit seinem Sohn kann man nicht vernünftig reden. Gaston wird bald hier sein. Unser lieber Kollege Fritz hier wollte noch die Anwältin aus Zürich dabeihaben. Wir werden sie via Teams dazu holen."
Berlinger ist schon dabei, einen Laptop einzurichten, als es erneut klopft. Gaston Blanchet wird von einem Angestellten des Bundeshauses hereingeführt. Der entmachtete Wirtschaftsboss sieht leicht zerknittert und unmotiviert aus.
"Hallo Gaston, schön, dass du es geschafft hast", begrüßt sein Freund.
"Lieber Frank, es ist schön, dich wiederzusehen."
"Tut mir echt leid, was dir geschehen ist. Hier, das sind Arnold Gerber, der Finanzminister und Fritz Berlinger, der die Sache von Beginn weg mitverfolgt hat."
Blanchet begrüßt die Politiker. Alle setzen sich an den großen Tisch, in dessen Mitte der Laptop steht, wo sich in diesem Moment Kathrin zeigt. "Guten Tag, meine Herren. Schön, dass ich an Ihrer Besprechung teilhaben darf. Ich bin Kathrin Zürcher, Anwältin und Verlegerin."
"Nun sind wir alle hier - willkommen, Kathrin. Wir bleiben hier alle beim Du, denke ich. Ich bin Frank, und das sind Arnold und Gaston. Fritz kennst du ja. Dann lasst uns mal beginnen. Gaston, berichte bitte vom Geschäft deiner Firma - und lasse nichts aus."
Blanchet nimmt einen Schluck Wasser. "Nun denn, legen wir los. Meine Firma lebte viele Jahre von Kinderarbeit. Ihr werdet das bereits wissen, weshalb ich kein Geheimnis daraus machen muss. Damals war das überall so; alle profitierten davon, selbst jene, welche es verleugnen. Mit dem neuen Gesetz aber versuchte ich, das Geschäft umzustellen. Ich vermute, mein Sohn ist in diesem Punkt anderer Meinung. Ich halte die Gesetze meines Landes - und auch die Gesetze anderer Länder - ein, das könnt ihr mir glauben."
"Aber dein Sohn nicht, ist das richtig?", fragt der Finanzminister dazwischen.
"Ich befürchte ja. Serge sieht vor allem den Profit und die Dividende, die er seinen Aktionären auszahlen kann. Ich weiß, ich habe auch schon anders geredet. Mein Vater hat mir beigebracht, die Afrikaner seien nur ein dummes Volk, das zur Arbeit gezwungen werden muss; faul und unterentwickelt. Doch ich habe mich verändert und ich sehe das heute anders."
"Wenn wir die aktuelle Lage an der Börse richtig einschätzen, dann wird es demnächst Entlassungen geben. Ist das korrekt?", fragt Berlinger.
Gaston Blanchet rutscht auf seinem Stuhl herum. Er spricht nur noch leise. "Ja, das wird stimmen. Ich befürchte, dass Serge nächste Woche mehreren Mitarbeitern, eventuell über hundert von ihnen, die Kündigung schicken wird."
"Aber warum?", fragt Kathrin.
"Weil mit der Produktion von Schokolade momentan kein Geld erwirtschaftet werden kann. Der Absatz ist komplett eingebrochen; der Rohstoffpreis ist im Keller. Niemand will sich die Finger schmutzig machen."
"Aber weshalb die Mitarbeiter entlassen? Sie tragen keine Schuld an der Krise."
"Das ist korrekt. Doch in der Bilanz des Unternehmens verbuchen die Löhne den größten Ausgabenteil. Wenn die Einnahmen sinken und du denkst, wie Serge denkt, dann musst du die Ausgaben reduzieren. Zudem muss die Produktion eingeschränkt werden, wenn der Absatz nicht mehr da ist. Beides zusammen erreichst du nur mit der Entlassung von Mitarbeitern."
"Und warum soll die Schweiz eine Firma wie Blanchet Chocolats retten? Es ist ein privates Unternehmen", wundert sich der Finanzminister.
"Weil Blanchet mehr ist als ein Schokoladenproduzent, lieber Kollege", wirft der Außenminister ein. "Blanchet ist ein international tätiger Konzern. Ein großer Anteil ist der Handel mit Wasser. Wenn dieser Konzern einbricht, dann besteht weltweit die Gefahr einer 'feindlichen' Übernahme existenziell wichtiger Ressourcen durch die Russen, die Araber oder die Chinesen. Die westliche Wirtschaft, wie wir sie kennen, könnte einbrechen."
"Too big to fail", bestätigt Kathrin.
"Genau. Wie bei unseren Banken. Leider."
"Welche Möglichkeiten haben wir?", fragt Berlinger.
"Ich denke, wir sollten als erstes die Presse in der Schweiz beruhigen. Welche Politikerinnen und Politiker können wir verantwortlich machen? Es sind Wahlen. Ein kleiner Hinweis hier und ein kleines Gerücht dort, dann werden einige Kollegen wohl nicht mehr gewählt werden und wir können der Presse 'schuldige Mitwisser' präsentieren."
"Dann sollten wir den Bericht des Untersuchungskomitees möglichst schnell veröffentlichen. Der Name 'Blanchet' sollte darin nicht explizit erwähnt werden." Der Innenminister zwinkert dem Schokoladenproduzenten zu.
Blanchet nickt dankbar. "Meinen Sohn kann ich entmachten lassen. Meine Verwandten im Verwaltungsrat sind Flaggen im Wind; sie lassen sich gewiss umstimmen. Ich werde Serge einen anderen Zweig der Firma geben und ihn von der Kakaoproduktion abziehen."
"Was gedenkt ihr in Bezug auf die entführten Frauen zu tun? Ist hier schon etwas angedacht? - Und, bei allem Respekt, meine Herren - aber eure Vorschläge helfen den Kindern in Afrika nicht." Kathrin sieht besorgt aus.
Die Herren schweigen. Fritz Berlinger ergreift als erster das Wort. "Ich befürchte, sie werden sich eine Weile lang selbst um ihr eigenes Wohl kümmern müssen, Kathrin. Um Selina und ihrer Freundin zu helfen, haben wir schon die Botschaft und die örtlichen Behörden informiert. Für die Kinder können wir aktiv nichts tun, fürchte ich." Er weiß genau, dass seine Freundin mit dieser Antwort nicht zufrieden sein wird, und die Männer spüren die Bestätigung unmittelbar.
Kathrin holt Luft. "Das kann nicht euer Ernst sein! Zwei Bundesräte, ein Nationalrat und ein Wirtschaftsboss mit Dreck am Stecken - und ihr könnt euch nicht zu einer besseren Lösung durchringen? Lieber Gaston, mit einer Versetzung und einer Entmachtung deines kriminellen Sohnes werde ich mich nicht abfinden. Die Anwältin in mir lässt das nicht zu; in meinem Hinterkopf formuliert sich bereits die Anklageschrift. Für meine zwei Freundinnen werde ich in diesem Fall auf die Familie Pignatelli in Apulien zählen müssen - die haben wenigstens keine Angst vor Wählerstimmen. Und du, mein lieber Fritz - wir sprechen uns noch. Entschuldigt mich, ich habe zu tun. Rumsitzen liegt mir nicht. Ich erwarte eure Beschlüsse und Resultate, wenn ihr auf bessere Ideen gekommen seid. Einen schönen Nachmittag, die Herren!" Der Bildschirm wird schwarz, Kathrin hat sich ausgeklinkt.
Berlinger schmunzelt. "Nun wisst ihr, weshalb ich sie dabeihaben wollte. Sie hat Haare auf den Zähnen und ist eine Macherin. Sie wird alle ihre Beziehungen spielen lassen, um den zwei entführten Frauen zu helfen. Zudem wird sie Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um den Kindern in Afrika zu helfen. Wir können uns derweilen um unsere Wirtschaft kümmern und dafür sorgen, dass der weltweite Handel mit Kakao nicht zusammenbricht."
"Die Politik ist ein schmutziges Geschäft geworden. Lasst uns beginnen." Der Außenminister nimmt einen Bleistift und ein Blatt Papier. "Welche Nationalräte jeder Couleur wissen Bescheid, Fritz?"
***
Zurück aus Bern sitzt Gaston Blanchet am Abend in seinem ehemaligen Büro am Firmenhauptsitz. Diesmal hat er eine Flasche Wasser auf dem Schreibtisch stehen. Er braucht einen klaren Kopf; die Strategie, die er sich zurechtgelegt hat, darf nicht durcheinandergebracht werden.
Einer nach dem anderen flimmern die Bildschirme bläulich auf, die erscheinenden Gesichter mustern den alten Mann kritisch. Niemand sagt etwas, alle warten darauf, was Gaston ihnen zu berichten hat. Erst als der letzte Lichtschein glimmt, blickt Gaston seine virtuellen Gäste an, von links nach rechts, dann wieder zurück. Das Schweigen hält an, nimmt an Bedrückung zu und noch immer wagt es niemand zu reden.
"Da seid ihr ja endlich alle", donnert Gaston Blanchet los. "Bei unserer letzten Sitzung habt ihr mich abgesetzt. Ihr solltet mich besser kennen. Ich lasse mich nicht abservieren. Inzwischen solltet ihr alle Post von meinen Anwälten erhalten haben."
Schweigen und Nicken.
"Euer Schweigen bestätigt mir, dass ihr die Briefe entweder verstanden habt oder sie euch habt erklären lassen. Wie lautet euer Entscheid? Der Reihe nach, wenn es geht."
"Du lässt uns keine Wahl, Bruder. Wir müssen nicht darüber reden; die Worte deiner Anwälte sind deutlich."
"Wer ist also der Firmeninhaber von 'Blanchet Chocolats'?"
"Worauf willst du hinaus, Gaston?"
"Serge wird seinen Posten im Schokoladengeschäft räumen müssen."
"Warum sollten wir das unterstützen? Serge hat gute Arbeit geleistet."
"Hat er nicht, liebe Cousine, hat er nicht. Für die momentane Krise im Kakaohandel ist er verantwortlich. Nicht alleine, bestimmt nicht, aber zu einem beträchtlichen Teil. Serge hat wissentlich Kinder für uns arbeiten lassen."
"Wie du früher auch, mein lieber Gaston." Die blonde Frau am Bildschirm lässt nicht locker.
"Das waren andere Zeiten; und das wisst ihr. Heute gelten neue Gesetze. Man kann nicht mehr einfach tun und lassen, was man will. Serge will das nicht einsehen. Er hat Papiere gefälscht, diese verloren und nun taucht unser Name in schmutzigen Geschäften auf."
"Du hast dich mit den Behörden abgesprochen? Keine Anklage von offizieller Seite?"
"Nein, mein lieber Bruder. Alles abgesichert, vom Bundesrat persönlich. Wenn ich wieder die Führung übernehme, keine Mitarbeiter entlasse und die Beteiligung an Kinderarbeit öffentlich dementiere, dann wird man uns in dieser schweren Zeit entgegenkommen und uns einen Teil der Steuer erlassen."
"Kann das die Firma retten?"
"Das ist schwer zu beurteilen. Auf den Aktienkurs wird es sich bestimmt positiv auswirken, wenn wir keine Entlassungen vornehmen. Ob das Dementi ausreicht, wird sich zeigen."
"Was geschieht mit Serge?"
"Ich werde ihm einen Posten in Südamerika geben. Er soll nicht als Sündenbock dastehen müssen. Familie bleibt Familie."
Die Mitglieder des Verwaltungsrates stimmen den Vorschlägen zu, einige von ihnen murrend, aber einstimmig. Gaston Blanchet hat die Firmenleitung wieder übernommen. Schwieriger wird sein, dies seinem Sohn beizubringen.
***
Nach dem Gespräch mit den Politikern hat sich Kathrin sofort einen Tee kochen müssen. Orange und Ingwer, dazu gibt sie etwas braunen Zucker und einen Schuss Zimt.
Wie der Herbstnebel am jugendlichen Morgen, senkt sich die angestaute Wut über ihren Freund mit dem Duft und der wärmenden Wirkung des Tees allmählich auf ein kontrollierbares Niveau. Was denkt sich Fritz eigentlich dabei? Ist ihm seine politische Karriere mit einem Mal wichtiger als das Wohlsein seiner Freunde? Kathrin denkt an die Studienzeit zurück, daran, wie sie nächtelang über das 'System', dessen Ungerechtigkeit und mögliche Veränderungen, bis hin zur veritablen Revolution des Proletariats, wie sie es damals nannten, diskutierten und philosophierten. Damals hatte sie ihn verehrt, zu ihm hochgeschaut; heute gleicht er bloß noch einem Schatten seiner selbst.
Zwischen zwei Fingern drückt sie den Teebeutel aus, leckt die Finger ab, greift die Tasse mit beiden Händen und lehnt sich in das Polster des Sofas. Während die süßen Dämpfe ihre Nasenflügel kitzeln, formen sich die Pläne des weiteren Vorgehens im Kopf. Erstmal ein Anruf nach Nardò, sich mit Elena besprechen. Danach will sie versuchen, mit Marco Kontakt aufzunehmen. Insgeheim hofft sie, die Männer haben die Frauen bereits finden können, doch die Hoffnung ist gering.
Kathrin greift nach dem Telefon und wählt Elenas Nummer.
"Pronto." Kathrin mag Elenas rauchig tiefe Stimme.
"Elena, ciao, sono io, Kathrin. Wie geht es dir?"
"Kathrin, welch eine Freude! Danke, es geht. Bei dir?"
"Ehrlich? Ich dreh durch! Wenn ich nicht bald ein Lebenszeichen von Selina erhalte, fliege ich hin."
"So schlimm? Was macht die Politik?"
"Diese Penner!" Kathrin erzählt Elena von der Konferenz. Sie hört, wie die Italienerin sich zu ärgern beginnt.
"Männer! Sobald ihr Sessel und ihr Ruf in Gefahr geraten, ziehen sie das ein, was sie als Schwanz bezeichnen und fälschlicherweise für ihre Macht halten."
Kathrin lacht, der Humor ihrer italienischen Freundin gefällt ihr. "Und was berichten deine Männer?"
"Sie sind im Kongo eingetroffen und beschützen die Kakaoplantage. Da scheint alles in Ordnung zu sein. Offensichtlich haben sich die Söldner nicht mehr in deren Nähe gewagt. Sie berichten jedoch davon, der 'Sudanese' stelle eine Privatarmee auf. Wir wissen noch nichts Genaues."
"Wo sind wir bloß reingeraten? Ich hoffe, es wendets sich noch zum Guten." Kathrin wirkt verzweifelt; und sie kann sich nicht erklären, was sie dabei mehr stört: Der Umstand, dass es so ist oder der Grund der Verzweiflung.
"Ich fühle mit dir. Ich mache mir auch Sorgen um unsere Männer; hoffe insgeheim, Umbigwe sorge sich etwas um Marco. Mein Mann ist perfekt und lieb; aber wenn Ärger in der Nähe ist, wird er davon angezogen wie der Mond von der Erde."
Die Frauen verabschieden sich mit dem Versprechen, sich regelmäßig auszutauschen. Kathrin hat ihren Tee ausgetrunken. Zu müde für ein weiteres Gespräch verschiebt sie die Kontaktaufnahme zu Marco auf den nächsten Tag. Sie zieht einen Mantel über, verlässt die Wohnung mit der Absicht, sich am Ufer des Zürichsees bei einem Spaziergang zu erholen. Die kühle Brise, die ihr dabei vom See her entgegenweht, wirbelt auch die trüben Gedanken durcheinander, lüftet den Kopf durch.
Einige Schritte hinter ihr schlendert ein Mann, die Mütze tief ins Gesicht gezogen, den Kragen des Mantels hochgezogen. Er spricht leise, die Augen auf die traurig wirkende Frau gerichtet, die vor ihm geht und ihn nicht beachtet. Rechts von ihm schlagen die Wellen des Zürichsees an die Ufersteine.
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