22 - Nardò - Italien
Nach dem Telefongespräch mit Kathrin kann sich Elena kaum mehr konzentrieren. Sie verschüttet den Schoppen, sie vergisst den Sonnenschutz für Enzo, sie weiß nicht mehr, wo sie ihren Kinderwagen abgestellt hat.
Tief in ihrem Inneren wusste sie es: Das Abenteuer 'Kongo' wird in einem Fiasko enden. Sie rügt sich dafür und schämt sich gleichzeitig, solche Gedanken zuzulassen. Die junge Frau hat ihren Mann und ihre Freunde nicht zurückgehalten; wie gerne wäre sie selbst mit ihnen gezogen, auf Abenteuerfahrt wie eine Piratin in der Karibik.
Selina und Java wurden entführt. Marco und Umbigwe sind weiß der Geier wo. Seit Tagen hat sie von ihrem Mann nichts mehr gehört, was als eifersüchtige Italienerin nur sehr schwer zu verarbeiten ist. Elena ist froh darüber, sich nicht um das Agriturismo kümmern zu müssen; ihre Angestellten sind sehr pflichtbewusst. Müde, besorgt und traurig über die neuesten Berichte meldet sie sie bei ihrer Mutter Sara.
"Mamma! Darf ich einige Tage zu euch kommen? Hier fällt mir die Decke auf den Kopf und ich habe kaum die Kraft, mich um Enzo zu kümmern."
"Aber sicher, meine Liebe, das weißt du doch. Jederzeit, wir freuen uns. A dopo!"
Bis gleich, ja, denkt sich Elena, als ihre Mutter die Verbindung abgebrochen hat. Sie steigt mit Enzo in den oberen Stock und legt den Kleinen auf ihr Bett. Eilig sucht sie die nötigsten Kleider zusammen, stopft sie ungeordnet in eine Tasche. Eine zweite Tasche füllt sie mit den Sachen für das Baby. Schnuller, Spielzeug, Windeln - was ihr so unter die Hände fällt.
Plötzlich meldet sich ihr Handy; bereits am 'Lasciatemi cantare' erkennt Elena, dass ihr Ehemann sie sucht. Toto Cutugno fährt ihr in die Knochen wie der Blitz in einen Olivenbaum. Das Pack Windeln fällt zu Boden, die Frau landet mit einem Hechtsprung neben ihrem Kind, das freudig quietscht, auf dem Bett und hält das Telefon schon in der Hand.
"Marco - schäme dich, erst jetzt anzurufen! Was treibt ihr dort drüben für einen Unfug? Du hast mir versprochen, vorsichtig zu sein!" Ihre Stimme klingt wütender und strenger, als sie es beabsichtigt hatte.
"Ciao Amore! Es ist schön, deine Stimme zu hören." Mehr sagt er nicht, er wartet ihre Reaktion ab, schuldig aber respektvoll. Einige Sekunden verstreichen.
Enzo dreht den Kopf in Richtung des Telefons, als er die Stimme seines Vaters hört - Elena muss lachen. "Du schaffst es immer wieder: Ich kann einfach nicht über dich wütend sein." Sie hört, wie er kichert.
"Ist Enzo bei dir?"
"Ja, er liegt neben mir und hat dich schon gehört. Er lächelt."
"Gib ihm einen Kuss von mir."
Elena tut es, danach stößt sie Luft aus. "Marco, wo seid ihr? Was ist los bei euch?" Ihre tiefe, rauchig erotische Stimme ist nun viel sanfter.
"Umbigwe und ich sind in Abidjan, der größten Stadt in Côte d'Ivoire. Gleich nachdem wir von Selina gehört haben, dass sie entdeckt worden seien, sind wir von Atebubu hierher gefahren; eine lange Fahrt. Wir sind mit den Leuten aus dem Untersuchungskomitee unterwegs. Wir müssen aber in eine Botschaft, dazu werden wir wohl in die Hauptstadt fahren müssen."
"Was ist passiert?"
"Selina und Java haben einen Bus verfolgt, von dem sie dachten, er transportiere entführte Kinder. Das war dann auch so. Selina hat alles gefilmt. Dabei sind sie allerdings entdeckt worden. Sie waren offenbar im Norden unterwegs, an der Grenze zu Ghana. Mit der örtlichen Polizei können wir nicht rechnen. Die haben weder genug Personal noch die notwendige Ausrüstung. Zudem habe ich den Eindruck, sie haben vor etwas Angst."
"Und es gibt kein Lebenszeichen von den beiden?"
"Selina hat mir noch rasch den Standort geschickt. Jetzt ist ihr Handy tot; wir vermuten, es wurde ihnen abgenommen."
"Kathrin hat angerufen."
Marco pustet hörbar. "Meine Verlegerin ist bestimmt wieder einmal sauer auf mich, oder?"
"Ja, könnte man so sagen. Und deine Frau auch, ganz nebenbei! Ich hätte es wissen müssen - Selina kann sich einfach nicht aus Ärger raushalten."
"Es geht hier um Kinder, Elena."
"Aber dein Kind ist hier, Stronzo!"
Marco muss schmunzeln. "Dummkopf hast du mich schon lange nicht mehr genannt. Und ich habe es verdient, sicher. Wir glauben aber, für die Kinder hier etwas tun zu können. Wir haben Beweise, schriftlich und als Filmmaterial."
"Meinst du, das wird irgendwas ändern? Gerade du solltest wissen, wie solche Verbrecher arbeiten."
Marco denkt an die Mafia, Elenas Familie und die Erfahrungen, welche sie mit skrupellosen Leuten aus dem 'Organisierten Verbrechen' gemacht haben. "Ja, weiß ich. Aber vielleicht gelingt es uns, die Öffentlichkeit auf die Missstände aufmerksam zu machen. Das wäre ein Anfang."
"Kathrin hat mich gebeten, meine Familie zu mobilisieren", sagt Elena leise.
Marco antwortet lange nicht.
"Amore? Bist du noch da?", fragt sie schließlich.
"Findest du das gut?"
"Habe ich eine Wahl?"
"Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Du wolltest nichts mehr mit diesem Geschäft zu tun haben - wir wollten das beide."
"Ja - und weil mein Herr Gemahl sich mitten unter die Verbrecher mischt, wie ein dämlicher Wikinger in die Schlacht, bin ich nun gezwungen, meinen Entschluss zu überdenken. Ich freue mich auch nicht darüber, hörst du?" Elena spürt die Tränen, die über ihre Wangen kollern.
"Es tut mir leid, Elena."
"Ich wünschte, ihr würdet sofort zurückkommen. Aber ich weiß, ihr solltet zuerst unsere Freundinnen befreien. Darum helfe ich euch - nur darum!"
"Danke, mein Schatz. Ich rufe dich sehr bald wieder an, versprochen. Gib Enzo einen Knuddel."
"Ich fahre einige Tage nach Copertino, zu meinen Eltern. Bitte seid vorsichtiger als Selina, hörst du? Ich liebe dich."
"Ich dich auch, Elena." Marco unterbricht die Verbindung.
Elena legt das Telefon neben sich, dreht sich auf den Rücken und starrt die Decke an. Dunkle Balken in engem Abstand, dazwischen weiß getünchte Tonziegel, am höchsten Punkt mehr als vier Meter über ihr und schräg abfallend. Sie entdeckt eine Spinnwebe. Ein kleiner Gecko krabbelt einem Balken entlang, lautlos, auf der Suche nach Nahrung.
Mit einem Mal ist das Paradies, welches sie sich hier aufgebaut haben, nicht mehr gesichert. Den Gedanken daran, wie sie den Betrieb des Agriturismos meistern soll, wenn Marco nicht zurückkehrt, verwirft sie schnell wieder. Enzo gibt traurige Laute von sich, als ob er die Gemütslage seiner Mamma spüren könnte. Elena legt ihren Arm um den Jungen. "Nicht weinen, kleiner Mann. Babbo ist manchmal nicht viel älter als du - aber das wirst du bestimmt bald selbst herausfinden, mein Knuddel. Fahren wir zu Nonno, va bene?"
Elena packt ihre Taschen, eilt nach unten und legt alles in ihr Auto. Danach holt sie Enzo, den sie behutsam mit seinem sicheren Sitzchen festschnallt. Nachdem sie sich vom Personal verabschiedet hat, braust der kleine Fiat in Richtung Copertino davon.
***
Umbigwe sieht Marco streng an. "Du machst Witze, oder?"
"Nein, mein Freund. Elena wurde von Kathrin gebeten, die Sacra Corona Unità zu mobilisieren."
"Was interessiert die apulische Mafia, was hier in Afrika geschieht? Elenas Cousins werden nie einwilligen."
Die zwei Freunde sitzen in der Hotelbar und trinken ein Bier. Der gelangweilte Barmann staubt die sauberen Gläser ab, bestimmt zum zehnten Mal. Dann endlich legt er den Lappen zur Seite und tippt desinteressiert auf seinem Mobiltelefon herum.
Willkommen in der Langweile des Überflusses, denkt sich Marco. Er betrachtet die Gläser und Flaschen der Bar, den blank polierten Messing, die glänzende Theke. Diese Bar könnte ebenso in einem westlichen Land stehen, nichts erinnert an Afrika. Einen Moment denkt Marco an die Bar auf der Fähre, wo er Elena einst zum ersten Mal nähergekommen ist.
Umbigwe holt seinen Freund aus den Gedanken zurück. "Meinst du, das könnte uns helfen?"
"Durchaus möglich. Die Mafia könnte sich hier für Geschäfte interessieren."
"Das ist nicht dein Ernst. Du willst organisiertes Verbrechen mit organisiertem Verbrechen bekämpfen?" Umbigwe tippt sich an die Stirn. "Mich dünkt, dir bekommt das Klima hier nicht, mein Schweizer."
"Nein, will ich nicht. Ich denke, die Mafia könnte ihren Einfluss wirken lassen. Dadurch würden die hiesigen Verbrecher eventuell gezwungen, von ihren Geschäften abzusehen."
"Oder es kommt zur Eskalation und wir befinden uns mitten in einem blutigen Bandenkrieg. Du weißt, es sind skrupellose Männer, die nicht lange diskutieren."
"Wir sollten das auf jeden Fall mit den Leuten aus dem Komitee besprechen. Ich habe das Gefühl, es könnte helfen."
Als hätten Marcos Worte sie gerufen, betreten die Schweizerinnen und Schweizer des Untersuchungskomitees die Bar. Hinter ihnen ist eine Afrikanerin eingetreten; eine attraktive Frau mit hellbrauner Haut, etwa in Marcos Alter, großgewachsen, halblanges, dunkles Haar, schlicht und dennoch elegant gekleidet. Die Bluse lässt den Blick aufs Dekolletee kontrolliert zu, gerade genug, um mehr zu erahnen als zu sehen.
Sie lächelt, als sie Marcos Blick wahrnimmt. Er schaut beschämt weg. Umbigwe stupst ihn lachend von der Seite an und schüttelt den Kopf.
"Hier seid ihr, wir haben euch gesucht! Wir müssen nicht nach Yamoussoukro fahren. Die Schweiz hat ihre Vertretung hier, in Abidjan. Wir haben für morgen einen Termin erhalten."
"Das sind gute Neuigkeiten. Was denkt ihr, wird man uns helfen können?"
"Das bezweifle ich", erklärt Lara. "Das Büro hier hat nur beschränkte Befugnisse und ist gleichzeitig Vertretung für schweizerische Interessen in fünf westafrikanischen Ländern. Sie werden nicht die Mittel haben, nach entführten Personen zu suchen."
Die elegante Frau hat drei Tische weiter drüben platzgenommen und ist in ein Buch vertieft. Marco schaut immer wieder hinüber, er ist unkonzentriert.
Gabriela lacht. "Der Schriftsteller ist wohl etwas abgelenkt. Das ist übrigens eine Berufskollegin von dir. Noëlle Amara, die wohl berühmteste Schriftstellerin Marokkos. Sie ist hier auf Werbetour für ihr neues Buch."
"Du bist verheiratet, Mann, also vergiss es", knurrt Umbigwe seinen Freund an und schiebt ihm das Bier vor die Nase.
Gabriela und Lara lachen, Marco blickt seine Freunde fragend an. Am Nebentisch schmunzelt Noëlle unbemerkt.
***
Elena hat ihren Fiat unter einem Olivenbaum geparkt. Das Haus in Copertino erinnert sie noch sehr stark an ihre Nonna Maria, auch wenn es jetzt von ihren Eltern bewohnt wird. Sara hilft ihrer Tochter mit dem Gepäck. Drinnen hört Elena ihren Vater am Klavier.
"Es ist schön, dass in diesem Haus wieder Musik klingt."
"Ja, das stimmt. Enzo wollte das Klavier unbedingt mitnehmen. Du hättest ihn sehen sollen, als die Männer es in den zweiten Stock getragen haben. Überall hat er Gefahr gerochen und die Männer haben wohl wegen seiner Angst mehr geschwitzt als wegen der Hitze und der Anstrengung."
Elena lacht; Sara hat das Baby bereits auf dem Arm. "Enzo, dein Enkelsohn ist hier. Komm herunter und mach uns etwas zu essen!" Die Musik verstummt.
Wenig später braust Elenas Vater um die Ecke und nimmt zuerst seine Tochter in den Arm. "Meine Lieblingstochter!"
"Deine einzige Tochter", korrigiert ihn Elena.
"Na und?"
"Da ist ja mein kleiner Enzo. Ich kann es noch immer nicht fassen, dass ihr ihn nach mir benannt habt."
Elena schüttelt den Kopf. "Du meinst, nach dem berühmten Autobauer, so wie du einst zu deinem Namen kamst."
"Lass ihn im Glauben, es sei seinetwegen. Dann ist besser mit ihm auszukommen", flüstert Sara Elena zu. Die Frauen lachen.
Als sie wenig später bei einem kleinen Imbiss im Garten sitzen, berichtet Elena von der Idee Kathrins.
Ihr Vater ist nicht begeistert. "Elena, du weißt, dass wir diese Geschäfte meiner Mutter niemals gutgeheißen haben. Ich freute mich, dass du ausgestiegen bist; und nun willst du trotzdem ins Geschäft zurück? Ich verstehe dich nicht."
"Ich will nicht ins Geschäft zurück, Papa. Ich möchte die Familie nur fragen, ob sie uns dabei helfen könnten, unsere Freundinnen zu finden. Das ist alles."
"Die Unità hat niemals in Afrika Geschäfte gemacht, soviel ich weiß."
"Siehst du? Du hast dich informiert, obwohl dich Nonnas Geschäfte angeblich nicht interessierten."
"Ja, ich habe mich informiert. Mein ganzes Leben lang. Ich wollte Sara und dich beschützen. Deshalb musste ich wissen, in welche Geschäfte meine Mutter involviert war. Elena - du solltest das nicht tun."
Sara hat bisher nichts gesagt, sie hält das Baby im Arm und lauscht dem Disput zwischen Vater und Tochter.
"Ich werde es tun, Papa. Ich werde nicht ins Geschäft eingreifen, nur fragen, ob und wie sie uns helfen könnten."
"Du weißt, dass in diesen Kreisen nie etwas ohne Gegenleistung gemacht wird", gibt Sara zu bedenken.
"Diese Kreise, wie du es nennst, sind unsere Kreise, Mamma. Die Unità ist unsere Familie, ob wir es wollen oder nicht."
"Das müsste sie nicht mehr sein, Elena; und das weißt du. Wir hoffen bloß, du bereust deinen Entscheid nicht."
"Kannst du etwas auf den Kleinen aufpassen, während ich telefoniere, Mamma?"
Elena steht auf und geht in Richtung der Olivenbäume davon. Enzo und Sara blicken sich traurig an.
"Sie ist genauso stur wie Maria!" Enzo blickt seine Frau an.
"Und wie du, mein Lieber, und wie du. Deshalb liebt ihr einander auch so sehr."
Etwas weiter weg spricht Elena bereits mit ihrem entfernten Cousin Rafaele Volta, dem neuen Führer der Unità.
"Elena, schön, dass du dich meldest. Aber die Geschäfte gehören nicht mehr dir."
"Keine Angst Rafaele, die will ich nicht zurück, das kannst du mir glauben."
"Was führt dich dann zu mir?"
"Ich brauche vielleicht deine Hilfe."
Es entsteht eine kleine Pause. "Warum sollte ich dir helfen wollen?"
Elena schüttelt den Kopf. "Wow, du hast aber schnell gelernt. Ich denke, du solltest zuerst darüber nachdenken, warum du dieses Amt hast, bevor du so mit mir sprichst."
Rafaele lacht hustend. "Ganz die junge Maria! Also gut, meine Schöne, was willst du?"
"Es geht um zwei Freundinnen, die in Afrika Probleme haben." Elena erklärt ihm, was passiert ist. Rafaele hört aufmerksam zu ohne Fragen zu stellen.
Erst als Elena schweigt, atmet er hörbar aus. "Du weißt, wie man sich in Probleme begibt, das muss ich dir lassen."
"Keine Witze bitte. Kannst du uns helfen?"
"Du erinnerst dich bestimmt an Blancourt, oder?"
"Den schleimigen Oberboss aus Tunesien? Aber sicher doch. Was ist mit ihm? Den haben die Haie gefressen." Elena erinnert sich an den skrupellosen Gegenspieler ihrer Nonna und an Marias Rache.
"Blancourt hat immer mit einem Warlord aus dem Sudan zusammengearbeitet. Seit deine Großmutter in Tunesien für ein Vakuum gesorgt hat, haben sich die Machtverhältnisse verschoben. Der Sudanese, wie er genannt wird, beherrscht nun einen Landstreifen von Tunesien über Ägypten, Sudan bis hinüber nach Kongo. Wir haben es mit einem sehr mächtigen Gegner zu tun."
"Wir? Also bist du dabei?" Elena hält kurz den Atem an.
"Ja, ich helfe dir, Kusinchen. Immerhin entsteht für uns die Möglichkeit, in den afrikanischen Markt einsteigen zu können. Auch wenn sie noch so gering ist."
"Was gedenkst du zu tun?"
"Lass mich einige Anrufe machen. Ich rufe dich wieder an, in Ordnung?"
"Danke, Rafaele, grazie mille. Dadurch hast du was gut bei mir."
"Ach was - wozu hat man schließlich Familie? Ciao Elena, wir hören uns."
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