17 - Villeneuve - Schweiz

Einst war es ein kleiner Kohlehandel. Der Mann hat die Kohle vom Köhler gekauft, sie dann in Säcke abgefüllt und an die Kunden ausgeliefert. Manchmal, wenn es im Haushalt wenig zu tun gab und die Kinder in der Schule waren, half die Frau mit und nähte die Kohlensäcke zu.

Als der Kohlehandel weniger wurde und den Mann sie Sorgen um seine Existenz umtrieb, wagte er den Schritt und handelte auch mit Kolonialwaren, die er aus Marseille beziehen konnte. Mit dem Schiff und mit der Eisenbahn kamen die Gewürze, der Kaffee und der Kakao nach Villeneuve. Der Mann war fasziniert von dieser Bohne mit dem Namen Kakao.

Er informierte sich und lernte, was man damit anstellen konnte. Der Mann beriet sich mit seiner Frau. Sie verkauften ihren Betrieb. Sie wollten von nun an eine Kakaorösterei betreiben und mussten die Apparaturen kaufen, einen Ofen bauen lassen. Der älteste Sohn, Raoul war sehr glücklich darüber, denn er war in der Ausbildung zum Confiseur und so nahm die Geschichte ihren Lauf.

In den vergangenen Wochen denkt Gaston immer wieder an die Entstehungsgeschichte seiner weltweit tätigen Firma denken. Er beschließt, nach seiner Pensionierung endlich an seinem Buch zur Geschichte der Firma zu arbeiten. Es gibt ihm ein Gefühl von Zufriedenheit. Alles will er aufschreiben, überall nach Spuren, Dokumenten und Fotos suchen. Es soll ein schönes Buch werden, das den Leserinnen und Lesern die familiäre, die persönliche Seite eines Weltkonzerns zeigt.

Selbstverständlich wird er auch Bilder aus Afrika zeigen, mit glücklichen Arbeitern. Blanchet SA ist letztendlich auch eine Art Entwicklungshilfe, denn durch den Handel haben die Menschen auf dem armen Kontinent wenigstens eine Arbeit und können ihre vielen Kinder ernähren.

Was er hingegen weglassen wird, sind die Probleme der neueren Zeit. Kein Wort will er davon schreiben, dass sein eigener Sohn ein Versager ist. Die vierte Generation! Normalerweise ist es die dritte, welche einen Familienbetrieb in den Ruin treibt; aber er, Gaston Blanchet, er hatte stets ein gutes Händchen, hat den Lauf der Wirtschaft gespürt und die Firma dahin gebracht, wo sie heute ist.

Sein Sohn hingegen ist gierig. Er sieht nur den Profit und hat keinen Sinn für die feinen Details. Aus diesem Grund hat Gaston Serge wieder herbestellt. Doch der Herr Sohn scheint den Termin vergessen zu haben; er wäre seit einer Stunde überfällig. Gaston Blanchet ist wütend.

Ohne anzuklopfen fliegt die Türe auf, Serge eilt ins Büro, heftig atmend. "Sorry, Vater. Ich hatte Stau."

Gaston schreckt auf. "Und dieser Stau hat auch gleich deine Manieren zunichte gemacht? Setz dich!"

Serge merkt, dass sein Vater innerlich kocht und setzt sich schweigend. Den wahren Grund für seine Verspätung braucht er noch nicht zu erwähnen.

"Berichte mir von deinen Plänen für die Firma."

"Worauf läuft das hinaus, Vater?"

Gaston faltet die Hände. "Nun gut, wenn du mich so direkt fragst: Ich habe heute eine Sitzung aller Familienmitglieder des engeren Aufsichtsrats einberufen. Wir wollen prüfen, ob du als CEO unserer Firma taugst und werden darüber befinden, wie und ob wir für dich eine Zukunft in der Firma sehen. Es tut mir leid, das sagen zu müssen, aber ich habe das Vertrauen in dich verloren und nun muss ich mich um die Firma kümmern."

Serge hat mit diesem Schritt gerechnet. Eigentlich erstaunt es ihn, dass es erst jetzt passiert. Deshalb hat er sich auch mit seinen Verwandten getroffen, hat insgeheim eine Vordiskussion geführt, doch das braucht der alte Mann nicht zu wissen. Serge lächelt.

"Du willst mich absägen. Du willst mich entfernen?"

"Von wollen kann nicht die Rede sein. Mein Anwalt rät mir zu diesem Schritt und ich habe mir das sorgfältig überlegt. Du hast dich selbst abgesägt, mein Junge."

"Wir werden sehen. Also Videokonferenz. Sind die anderen schon online?"

Gaston ist sichtlich überrascht von der Reaktion und der Gelassenheit seines Sohnes. Entweder ist Serge so dumm, die Zeichen nicht erkennen zu können oder er hat einen gewaltigen Trumpf im Ärmel, von dem bisher noch niemand weiß. "Ja, sie sollten da sein." Gaston schaltet die Anlage ein. Auf zahlreichen Bildschirmen erscheinen Gesichter von Menschen.

"Lieber Familienrat", eröffnet Gaston die Sitzung, "Wir treffen uns hier, weil eine folgenschwere Entscheidung ansteht. Deshalb ist auch Pierre Miauton, mein Anwalt, zugeschaltet. Er wird sich nur einmischen, falls wir irgendwelche rechtlichen Fehler machen sollten. Nun denn, hier das einzige Traktandum dieser Sitzung: Ich beantrage die Entlassung meines Sohnes Serge Blanchet aus sämtlichen Funktionen, die er in der Firma innehat. Ich bin als Aufsichtsrat zu diesem Antrag berechtigt, kann ihn jedoch nicht ausführen. Das müsst ihr tun, meine lieben Verwandten - zum Wohle der Firma."

"Moment, Gaston. Das darfst du so nicht sagen. Das wäre Beeinflussung. Also bitte, meine Damen und Herren. Urteilen Sie, als ob Sie diesen Satz nicht gehört hätten." Der Anwalt ärgert sich leicht über seinen Mandanten.

Serge grinst. Der Patzer seines Vaters spielt ihm in die Hände.

"Ich möchte zuerst hören, was Serge zu dieser Sache denkt und wie er die Firma in eine sichere Zukunft führen will." Der Sprecher ist Gastons älterer Bruder, der sich nie um die Firma gekümmert hat.

"Ich bin erschüttert über diesen Antrag", meldet sich Serge theatralisch zu Wort. "Ich habe anlässlich der letzten Gespräche gespürt, dass mein geliebter Vater, mein Vorbild, offenbar nicht mehr klar denken kann. Daher habe ich, so sehr es mich schmerzt, mit diesem Antrag gerechnet. Doch dazu später mehr.

Ich war vergangene Woche in Afrika und habe unsere Zulieferplantagen eigenhändig überprüft. Es gibt keinen Grund zur Besorgnis. Die Arbeitsbedingungen sind überall gut bis sehr gut. Ich bin persönlich daran interessiert, dass wir diese Qualität periodisch überprüfen. Das sind wir unseren Kunden schuldig."

"Was ist an den Gerüchten dran, dass wir Kakao von Plantagen kaufen, wo Kinder arbeiten müssen?"

"Meine liebe Tante Sophie, diese Gerüchte sind nicht haltbar. Sollte diese Journalistin, welche die Verleumdungen veröffentlicht hat, damit eine Anklage formulieren, wird sie verlieren. Ist das so richtig, Monsieur Miauton?"

Der Anwalt räuspert sich. "Die Papiere, welche mir Serge vorgelegt hat, wirken alle echt. Ich konnte keinen Fehler darin finden. Ob sie einer genaueren Untersuchung standhalten würden, weiß ich nicht." Pierre richtet einen besorgten Seitenblick an Gaston, der zusehends trüber dreinblickt.

Ein junger Mann, Serges Cousin, meldet sich auch zu Wort. Er wirkt eher skeptisch, als ob er der Sache nicht traut. "Ich habe aus hohen Kreisen der Politik erfahren, dass eine Untersuchungskommission unsere Firma überprüfen soll. Man wir eine Untersuchung beantragen, die mögliche Verwicklungen von 'Blanchet Chocolats' in illegale Kinderarbeit aufklären soll. Wie sicher können wir sein, dass sie nichts finden werden?"

"Das kann niemand garantieren, der mit den Afrikanern Geschäft macht. Wie sie ihre Arbeit verrichten, bestimmen die Menschen dort immer noch selbst. Da nützen die besten Gesetze nichts", erklärt Gaston. "Wir von unserer Seite sind jedoch sehr bemüht, auf die Einhaltung der internationalen Richtlinien zu achten."

"Das stimmt so nicht ganz, entschuldige, Vater. Wir haben auch hier Papiere, die belegen, dass unsere Zulieferer ohne Kinderarbeit auskommen. Ich habe diese Untersuchung nach den schlechten Schlagzeilen erwartet und proaktiv gehandelt." Serge lehnt sich siegessicher zurück.

Aus den Lautsprechern ertönt zustimmendes Gemurmel. Gastons Bruder meldet sich wieder zu Wort. "Gaston, dürfen wir erfahren, weshalb du mit der Arbeit deines Sohnes nicht mehr zufrieden bist? Was er uns hier vorlegt, klingt nach seriöser Führungsarbeit, ganz im Sinne für die Firma. Kannst du uns deinen Antrag bitte erklären?"

"Ich habe es mehrfach gesagt, Serge spielt mit versteckten Karten. Ich kann ihm nicht trauen. Er tut Dinge, welche für die Firma schlecht sein können. Er denkt nur an seinen Profit."

"Beweise, Bruder, wir brauchen Beweise. Serge kann seine Aussagen unumstößlich mit Papieren belegen. Du hingegen hast nur die Vermutung eines enttäuschten Vaters. Ich sage es ungern, Bruder, aber vielleicht müssten wir eher darüber abstimmen, ob du noch als Aufsichtsrat taugst."

Gaston erhebt sich wutentbrannt. "Das kann nicht euer Ernst sein! Pierre, sag es ihnen! Das können sie nicht tun!"

"Mein lieber Freund, beruhige dich. Ich muss dich leider enttäuschen. Rechtlich gesehen können sie das, auch wenn ich allen hier versammelten Mitgliedern der Firmenleitung dringlich davon abrate, es zu tun. Wenn Sie Gaston Blanchet aus der Führung entfernen, verlieren Sie nicht nur einen hervorragenden Chef, sondern auch sehr viele Ressourcen in Sachen Knowhow. Sie sollten diesen Schritt gründlich bedenken und sich nicht zu einer spontanen Aktion hinreißen lassen, aus der sie später nicht mehr herauskommen."

Einige Minuten sagt niemand etwas. Dann meldet sich Gastons Schwester wieder zu Wort: "Ich bereue das sagen zu müssen, Gaston, aber ich bin der Meinung, Serge sollte bleiben und sämtliche Rechte und Pflichten eines verantwortungsvollen CEOs erhalten. Wir vertrauen ihm."

Alle anderen stimmen dem Votum zu. Damit ist Gaston faktisch entmachtet. Sein Sohn Serge hingegen geht als Sieger aus der Sitzung. Er hat künftig nichts mehr zu befürchten.

"Von meinem Erbe erhältst du nur den Pflichtanteil; und auch dafür werde ich kämpfen, ihn dir zu entziehen. Du bist nicht mehr mein Sohn. Und ihr, lasst euch das gesagt sein: Ihr habt soeben die Firma 'Blanchet Chocolats' zerstört. Dass mir niemand jammernd angekrochen kommt, wenn ihr es schmerzvoll realisieren werdet. Ihr enttäuscht mich und unsere Vorfahren." Dann verlässt Gaston Blanchet wutentbrannt sein Büro; die Türe lässt er offen stehen.

Wieder entsteht eine Minute der Stille. Durch die großen Fenster kann man eine Kirchenglocke schlagen hören. "Enttäusche uns nicht, Serge. Wir haben uns gerade weit aus dem Fenster gelehnt. Nun beweise uns, dass wir damit richtig liegen." Nach und nach schalten sich die Verwandten weg. Einzig der Bildschirm des Anwalts leuchtet noch.

"Serge, du hast einen Fehler gemacht. Damit, dass du deinen Vater aus der Firma entfernen ließest, verlierst du auch mich. Wir werden uns wiedersehen, das ist sicher, aber ich werde dann nicht mehr auf deiner Seite stehen."

Serge schaltet die Anlage aus.

***

Einige Kilometer weiter westlich, in einem unscheinbaren Büro in Lausanne, sitzen vier Männer und Frauen an einem Besprechungstisch. Vor ihnen liegen viele Stapel Papier, einige Mappen und Fotos.

Das Büro ist schlicht eingerichtet, keine Bilder, keine Pflanzen. Auf dem Tisch stehen zwei Wasserflaschen und vier Gläser. In einer Ecke wartet ein Flip-Chart darauf, benutzt zu werden.

"Also, meine Lieben. Selina hat uns bereits einiges an Material geliefert. Wie wir heute erfahren haben, wird sich eine Kommission aus Bern mit der Firma beschäftigen. Die Politik wird unruhig und das ist gut für uns. Wir sollten am Ball bleiben. Wenn wir Fakten liefern können, wird das eine große Sache. Dann werden auch in Bern Köpfe rollen, das verspreche ich euch." Der Sprecher blickt begeistert in die Runde.

"Louis, bist du sicher, dass wir das meistern können? Wir sollten vielleicht mit internationalen Presseagenturen zusammenarbeiten."

"Guy, du weißt, dass Selina zuverlässig recherchiert. Wenn sie sagt, es werden Kinder entführt, dann hat sie Beweise dafür. Wir stemmen das, wir bringen das raus. Das wird unsere Sternstunde. Die anderen Zeitungen werden bei uns anklopfen und nach dem Material fragen und wir werden liefern und uns dafür bezahlen lassen."

"Was, wenn uns Blanchet verklagt?"

"Mann Guy, könntest du bitte mal nachsehen, ob deine Eier noch da sind, wo man sie vermuten könnte? Come on, Louis hat recht. Das ist unsere Stunde. Diese Schweine kriegen wir dran, zumindest sorgen wir dafür, dass die Öffentlichkeit belogen wird."

"Danke Flo, ich hätte es anders ausgedrückt, aber das kennt man ja von dir." Louis grinst und sein Kollege verzieht den Mund.

Florence lacht und ihre Partnerin Paulette auch. Die vier beschließen, einen langen Bericht zur Kinderarbeit in Ghana zusammenzustellen. Florence soll direkt mit Selina in Kontakt bleiben, Paulette wird den Bericht schreiben, Guy sich um die Fotos kümmern und Lous wird mit der Untersuchungskommission in Kontakt treten.

Die vier Journalisten arbeiten für eine bislang kleine Internetzeitung, die sich vor allem mit sozialkritischen Themen beschäftigt. Für sie klingt das nach einem Durchbruch, ihre Reads werden in die Höhe schnellen, was ihnen wiederum höhere Einnahmen aus der Werbung verspricht. Sie träumen davon, dereinst eine eigene Zeitschrift oder gar eine regelmäßig gedruckte Zeitung herausbringen zu können. wenn man sie in Zukunft als die Zeitung kennt, welche einen milliardenschweren Industriebetrieb zu Fall gebracht hat, wäre ihnen das nur recht.

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