10 - Villeneuve - Schweiz
Der Hauptsitz des "Blanchet"-Konzerns liegt traumhaft angesiedelt am Ufer des Lac Léman, im Industriequartier der Stadt Villeneuve. Vor einigen Jahrzehnten hat hier, in einem Keller mitten in der Altstadt, ein junger Mann namens Raoul Blanchet, Lehrling im dritten Lehrjahr als Confiseur, seine ersten Kakaobohnen gemahlen und zermalmt, mit Zucker und Milch angereichert und seine eigene Schokolade hergestellt.
Der Jüngling wollte die schöne Anne-Sophie beeindrucken und konnte nicht Fußball spielen. Sein Plan ging auf, vier Jahre später heirateten sie und gründeten gemeinsam die Schokoladenmanufaktur "Blanchet Chocolatiers". Damit legten sie den Grundstein zu einem der weltgrößten Händler mit Kakaobohnen. Blanchet SA beschäftigt heute weltweit knapp dreihunderttausend Mitarbeitende und generiert einen Jahresumsatz von mehr als achtzig Milliarden Schweizer Franken.
Selbstverständlich sind andere Industriezweige hinzugekommen, vor allem der Handel mit Wasser wird immer wichtiger. Die Konzernleitung ist noch immer in der Hand der Familie Blanchet, mittlerweile in der vierten Generation. Der alternde Patron Gaston hat noch beratende Funktion und unterstützt seinen Sohn Serge als CEO, wo immer er kann.
Das hauseigene Schokoladenmuseum ist sehr kinderfreundlich eingerichtet. Die Knirpse können malen, raten, Schokoriegel gewinnen und so viel Schokolade essen, wie sie wollen - sehr zum Missfallen der Eltern, meistens, aber das kümmert hier niemanden. Viele der Eltern haben durchaus ihren eigenen Spaß, wenn sie auf dem Rundgang zahlreiche Details der Kakaopflanze und Fakten über die Herstellung von Schokolade erfahren. Das Highlight der Ausstellung ist die "Fontaine du Chocolat" - ein Springbrunnen, der Schokolade aussprüht.
Das moderne Ausstellungsgebäude lässt durch zwei große Fenster den Blick auf den See frei. Die Energie des Gebäudes wird mit Solarpanelen auf dem Dach produziert, das Gebäude hat einen Preis für Nachhaltigkeit in Architektur erhalten. Man gibt sich gerne umweltbewusst, vor allem in der Schweiz.
Serge Blanchet und sein Vater befinden sich im großzügigen Büro im obersten Stockwerk des Verwaltungsgebäudes. Der Lac Léman glitzert in der orangefarbenen Abendsonne, und hätte Serge nicht mit ernsthaften Problemen zu kämpfen, hätte er sich wohl am Anblick erfreuen können. Sein Vater hat ihn herbestellt - das kann kein gutes Zeichen sein. Die Sonne bemüht sich umsonst - ihre romantische Lichtshow muss warten.
Gaston Blanchet räuspert sich. "Was siehst du auf dem See, was du nicht schon die letzten dreißig Jahre dort hast sehen können?"
"Pardon, Vater, ich habe nur gerade die Sonne betrachtet."
"Du redest wie deine Mutter und nicht wie ein CEO. Setz dich, es gibt wichtigere Dinge zu diskutieren."
Serge tritt schweigend an den überdimensionierten Konferenztisch heran und setzt sich auf einen der schwarzen Designerstühle, die in exakt bemessenen Abständen den Tisch flankieren. Vater sitzt oben, was den Firmeninhaber und Geschäftsführer ärgert, doch der Patron sitzt immer oben, wenn er geschäftlich reden will.
"Ohne Sonne hätten wir keinen Kakao. Und ohne Kakao hätten wir kein Einkommen. Was kann wichtiger sein als die Sonne, Vater?"
"Dinge, welchen den Sonnenschein trüben, mein Sohn."
Der junge CEO ahnt, was auf ihn zukommen wird und schluckt leer. "Ich höre."
"Wie ich erfahren habe, gibt es Probleme in Ghana, der Elfenbeinküste und neuerdings auch im Kongo. Was ist da unten los?"
"Du weißt doch, wie die Afrikaner sind. Die faulen Kerle wollen nicht arbeiten und dafür mehr Lohn erhalten. Betriebsfinanzen, Papa, das interessiert dich nicht mehr."
"Erkläre du mir nicht, was mich interessiert. - Erinnerst du dich, wie dein Urgroßvater von den Kakaobauern gesprochen hat?"
"Von den faulen Negern? Aber klar doch! Er hatte den Durchblick, der alte Mann. Heute darfst du das N-Wort nicht einmal mehr denken, schon findest du dich auf einer schwarzen Liste - passend übrigens, der Vergleich." Serge grinst über seinen eigenen schlechten Witz und lehnt sich zurück.
"Es sind Arbeiter; sie sind Menschen, verdammt nochmal! Woher hast du diese Überheblichkeit? Du bist verwöhnt und respektlos, mein Junge. Zwei Eigenschaften, die sich nicht für einen verantwortungsvollen CEO gebühren. Du laberst von Sonne und respektierst das Leben nicht."
"Was willst du? Weshalb hast du mich herbestellt?" Seine Augen funkeln, als er seinen Vater anblickt.
Gaston schmunzelt. "Du möchtest mich tot sehen, schon klar. Aber noch lebe ich. Dein Urgroßvater und dein Großvater sind in einer anderen Zeit aufgewachsen. Damals war Afrika noch nicht erforscht, die Weißen aus Europa hatten wenig Ahnung von der Schönheit und des Reichtums dieses Kontinents. Das änderte nach dem ersten Weltkrieg - die Europäer versuchten, Afrika unter sich aufzuteilen; sie entwickelten eine beispiellose Arroganz und Überheblichkeit den Afrikanern gegenüber und begannen mit der kontinuierlichen Ausbeutung der Rohstoffe."
Serge kratzt mit einem Bleistift den Schmalz unter seinen Fingernägeln hervor. "Geschichtslektion Nummer eintausenddreihundertdreizehn. Ja, Papa, das hast du mir schon erzählt. Bitte komme auf den Punkt; ich sollte arbeiten gehen."
"Ohne mich hättest du keinen Arbeitsplatz mehr, du undankbarer Schnösel! Sei still, wenn dein Vater mit dir spricht!"
Solche Worte hat Serge schon lange nicht mehr anhören müssen. Er begreift, dass sein Vater ein ernsthaftes Problem diskutieren will und legt den Bleistift zur Seite. "Also gut. Worum geht es?"
"Es geht um das neue Gesetz, welches Firmen wie die unsere verpflichtet, belegen zu können, dass wir ohne Kinderarbeit produzieren. Du kennst die Regeln. Berichte mir, was da unten vorgefallen ist."
"Es ist alles in Ordnung, wie ich dir schon am Telefon berichtet habe. Das Papier ist unterzeichnet, unsere Firma arbeitet offiziell ohne Kinder."
"Warum erhalte ich dann einen Brief aus der Elfenbeinküste, in welchem mir Betrug und Bestechung vorgeworfen wird?" Gaston legt ein Blatt Papier auf den Tisch.
Serge liest das Schreiben durch. "Das stimmt nicht, was die hier schreiben. Schau, das Datum ist eine Woche vor meinem Besuch. Unsere Anwälte haben die Bestätigung. Wir halten die Gesetze ein, Papa."
"Ich bin nicht an den Papieren interessiert, die unsere Anwälte haben. Selbst du solltest inzwischen wissen, dass Anwälte immer ein entsprechendes Papier vorweisen können - dafür bezahlen wir sie letztendlich. Ich will die Wahrheit hören."
"Warum zweifelst du an der Echtheit dieser Bestätigungen?"
Gaston lächelt müde. "Weil ich dich und deine Gier kenne, mein Sohn. Du denkst, Afrika sei weit weg und niemand interessiere sich dafür. Mit dieser Einstellung liegst du falsch. Ich interessiere mich dafür - und das solltest du auch tun."
"Du hast die Firma von deinem Vater erhalten, ..."
"Falsch. Ich habe sie übernommen; das ist ein Unterschied. Als dein Großvater aus der Firmenleitung zurückgetreten war, musste ich als erstes viele Kontrollen und Richtlinien einführen. Ich erhöhte die Bezahlungen an die Produzenten und unterzeichnete Abnehmerverträge."
"Ja, das weiß ich. Diese Verträge wurden mit dem Börsenhandel von Kakao glücklicherweise nichtig. Die Börse diktiert heute den Preis, nicht wir."
"Aber wir haben die Verantwortung. Warum verstehst du das nicht?"
"Wir haben auch eine Verantwortung unseren Mitarbeitenden in der Schweiz gegenüber. Die Arbeitsplätze hier sind sündhaft teuer und wir dürfen sie nicht auslagern, weil uns die Linken und Sozialen sonst die Hölle heiß machen."
"Wir können es uns leisten, anständige Löhne zu bezahlen. Eine Firma ist keine seelenlose Geldmaschine, sie ist ein soziales Netzwerk. Vergiss das nie, mein Junge."
"Sagt der Mann, der sich in einem Maybach durch die Gegend chauffieren lässt und drei Ferraris in der Garage stehen hat."
"Nein, das sagt der Mann, der dich großgezogen und dir Respekt und Empathie beigebracht hat - oder es zumindest versuchte. Ich muss mich als dein Vater nicht vor dir rechtfertigen. Ich will bloß sicher sein, dass meine Firma faire Preise entrichtet und ihre soziale Verantwortung wahrnimmt; das ist alles."
"Deine Firma? Jetzt ist es also plötzlich nicht mehr unsere Firma?"
"Als du den Posten des CEO übernommen hast, habe ich dich eine Klausel unterschreiben lassen, die es mir erlaubt, dich zu entlassen, falls du der Firma schaden solltest. Ich möchte davon nicht Gebrauch machen müssen, Serge."
"Typisch für dich, mich zu hintergehen."
"Der Fisch schwimmt in beide Richtungen. Nun berichte mir. Wie viel hast du für die Bestätigung bezahlt?"
"Zweitausend Dollar."
Gaston lehnt sich zurück. "Oh - das ging schnell. Wen hast du bestochen?"
"Den Kerl, der das Papier hat sehen wollen. Einen von der Regierung, dem Arbeitsamt, keine Ahnung - einen Afrikaner. Es war heiß da unten."
"Wenn du mit solchen Mafiamethoden arbeitest, dann solltest du vorsichtiger und berechnender sein. Es heißt "Organisiertes Verbrechen" - nicht Panik-Dummheit."
Nun lächelt Serge zum ersten Mal in diesem Gespräch. Er stützt die Ellenbogen auf den Tisch. "Sieh an, mit dir kann man ja normal über Geschäfte reden. Lass hören, was du gemacht hättest, Papa."
"Es ist ein altes Naturgesetz, dass niemand die Hand beißt, die ihn füttert. Ich hätte dem Land Entwicklung und Schulen angeboten. Das hätte anschließend bewirkt, dass ich meine soziale Verantwortung wahrnehme und entsprechend keine Kinderarbeit toleriere. Die Unterschrift wäre bloß eine Formsache geworden. So hingegen ist sie eine Straftat."
"Wie hat du erfahren, dass ich Geld bezahlt habe?"
"Es gibt Gerüchte über Entführungen von Kindern. Man erzählt von Kindersklaven, die eventuell auf unseren Plantagen arbeiten könnten und von einer großen Schweizer Firma, die sich nicht an die Regeln hält. Wenn das publik wird, können wir schließen. Wir müssen aktiv werden und für die Öffentlichkeit verständlich erklären, dass unsere Plantagen sauber sind und wir uns an die Gesetze halten."
"Du weißt aber auch, dass man auf den Plantagen kaum Arbeiter findet, oder? Die Familien, die dort arbeiten, können es sich nicht leisten, ihre Kinder zur Schule zu schicken. Die Eltern lassen ihre Kinder arbeiten, nicht wir."
"Würden wir den Eltern gerechte Löhne bezahlen, müssten sie ihre Kinder nicht arbeiten lassen."
"Würden wir ihnen mehr bezahlen, würden sie auch für ihre Kinder mehr verlangen und die zahllosen Bälger trotzdem arbeiten lassen."
Gaston steht auf und holt sich einen Drink aus dem Regal an der Innenwand. "Ich merke, du warst noch zu wenig lange in Afrika, mein Sohn. Du musst noch einiges lernen über die Lebensart der Menschen in Schwarzafrika."
"Nämlich?", fragt Serge spürbar genervt.
"Die Zeit läuft da unten langsamer. Die Menschen sind glücklich, wenn es ihnen gut geht. Sie streben nicht nach westeuropäischem Lebensstil, sondern nach Zufriedenheit."
"Jetzt wirst du kitschig, Vater. - Darf ich mir auch einen nehmen?" Serge erhebt sich, Gaston zeigt auf die Bar.
"Zu glauben, alle Afrikaner wollen unseren Lebensstandard kopieren, ist überheblich und falsch. Afrika ist Afrika, nicht Europa. Ein intelligenter Mann hat einst gesagt, man könne den Afrikanern nur helfen, wenn man ihnen zeige, wie sie sich selbst helfen können."
Mit seinem Drink in der Hand setzt sich Serge wieder an den Tisch. "Dir ist schon klar, dass wir dadurch Millionen verlieren werden."
"Du denkst zu kurzfristig, mein Sohn. Wenn du heute wohl bedacht auf einige Millionen verzichtest, kannst du morgen zig Millionen verdienen."
"Worauf sprichst du an? - Salute, übrigens."
"Salute! - Politik und Verträge. Wir schließen langfristige Verträge mit den Bauern. Wir garantieren ihnen einen guten Preis und sichern die Abnahme ihrer Produkte. Sie hingegen haften für die Liefermengen. Dies lassen wir uns von den jeweiligen Regierungen bestätigen. - Im Gegenzug bauen wir einige Brunnen oder Schulen."
"Der Transport und der Handel werden nicht billiger werden. Wenn die Rohstoffpreise steigen, sinkt unser Profit."
"Ja und nein. Wenn wir in Europa belegen können, dass wir fair und umweltgerecht produzieren, können wir die Verkaufspreise anheben. Das mach den Verlust mehr als wett."
"Dadurch werden die Verkaufszahlen sinken", gibt Serge zu bedenken.
"Nicht unbedingt. Europa surft auf einer Welle der Fairness und des Umweltschutzes. Zürcher kaufen einfach alles, was teuer ist, exklusiv klingt und nach Greenpeace riecht. Dies müssen wir ausnutzen."
Nun lacht Serge herzhaft, nimmt einen Schluck seines Aperitifs. "Ausgerechnet mit unserer Firma! Erinnerst du dich an den Shitstorm, dass wir den Bauern in Peru das Wasser abstellen sollen, um unsere Wasserreserven zu sichern? Wir sind der Bösewicht auf dem globalen Markt."
"Im Moment ja, aber genau an diesem Image will ich arbeiten, Serge. Ich will aus bitterer Schokolade wieder eine Süßigkeit machen. - Das mit dem Wasser in Peru war ungeschickt, zugegeben."
Serge überlegt einen Moment. Draußen ist es inzwischen dunkel geworden, die Sonne hat der blauen Stunde Platz gemacht. "Was erwartest du von mir, Papa?"
"Wenn du etwas über die Kindsentführungen weißt, dann erwarte ich, dass du das regelst. Ich will, dass du wieder in die Elfenbeinküste fährst, unsere Plantagen aufsuchst und bei jedem einzelnen Zulieferer kontrollierst, ob er Kinder beschäftigt."
"Wieso muss ich das tun? Du könntest doch einen Agenten hinschicken, der das an meiner statt erledigt."
"Das könnte ich, doch ich will, dass du Afrika kennenlernst. Du wirst nicht in den teuren Hotels wohnen. Du wirst mit den einfachen Verkehrsmitteln reisen und du wirst das Land spüren, so wie ich es einst tat. Das sind wir unseren Mitarbeitern schuldig."
Serge gießt sich einen zweiten Drink ein. "Wenn ich das mache, ziehst du dann die Klausel zurück?"
Nun ist es an Gaston zu lachen. "Nein, Serge. Netter Versuch. Da musst du schon mehr beweisen, als eine zwei-Sterne-Reise nach Afrika überleben zu können."
"Du traust mir nicht, verstehe ich das richtig?"
"Wenn du es so nennen willst, dann ja."
"Es sind doch bloß Afrikaner, zurückgebliebene Bauern."
Gaston stellt sich ans Fenster. Er blickt seinen Nachfolger nicht mehr an.
"Du bist jung, mein Sohn; jung, ambitioniert und unerfahren. Du solltest nicht die Fehler deiner Großväter wiederholen, sondern daraus lernen. Geh, und mache deine eigenen Fehler."
Serge weiß nicht, was er darauf antworten soll und verlässt den Raum. Gaston Blanchet blickt aus dem Fenster auf den schwarzen Lac Léman, der im Licht der Sterne friedlich funkelt.
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