1 - Grenze zwischen Ghana und Côte d'Ivoire

Die Sonne brennt heiss vom Himmel, Schatten spenden bloss die Bäume des Urwaldes, welcher gleich hinter den heruntergekommenen Hütten beginnt. Es scheint, als hätte die Wildnis den Menschen ein kleines Stück Land zur Verfügung gestellt, welches sie für ihre Zwecke nutzen dürfen.

Kwame Manu hat sich unter der hintersten Sitzreihe des klapprigen Busses versteckt. Die dunkle Haut vermischt sich wie eine Camouflage mit dem schwarzen Unterboden, seine wachen Augen fallen kaum auf. Der zehnjährige Junge hat Angst; die Fahrt bis an die Grenze hat lange gedauert. Er weiss nicht, wie viele Tage sie unterwegs waren. Für ihn ist es eine Ewigkeit her, dass die Männer gekommen sind und ihn auf dem Schulweg packten, ihn zu diesem Bus schleppten. "Wir töten deine Mutter, wenn du nicht still bist!" So drohten sie ihm. Dabei hatten sie doch schon seinen Vater getötet, als er sich für seine Schüler wehrte.

Kwame Manu denkt an seinen Vater zurück. Er war ein gebildeter Mann gewesen, Lehrer in der Schule der Region. Er unterrichtete allein über hundert Kinder, und er hatte Spass daran. Kwame Manu hat den Unterricht bei seinem Vater genossen. Dann, eines Tages, kamen Soldaten und wollten die grösseren Knaben mitnehmen. Sein Vater stellte sich ihnen in den Weg. Sie erschossen ihn, ohne zu zögern, nahmen die Jungs mit, unter ihnen auch Manus Freund Enam. Er hat nie wieder etwas von Enam gehört.

Und jetzt sind sie wieder gekommen. Sie haben wieder nur die stärkeren und grösseren Knaben geholt. Die Fahrt im Bus war ungemütlich, voller Staub und schlechter, stickiger Luft. Sie sind nicht auf der Hauptstrasse gefahren, sondern über die unbefestigten Schotterpissten zur Kirchenstadt, nahe der Grenze. Kwame Manu kennt den Namen des Ortes nicht, er weiss nur, dass es dort viele verschiedene Kirchen gibt. Die schmale Strasse führt nach dem Ort durch den Dschungel, in einem weiten Bogen nach Niablé, in Côte d'Ivoire, der Elfenbeinküste. "Auf einen solchen Namen für ein Land können auch nur Weisse kommen", hat sein Vater sich immer darüber lustig gemacht.

Im klapprigen Bus sassen etwa fünfzehn Knaben und einige wenige Mädchen. Kwame Manu hat sie nicht gezählt. Immer, wenn sie miteinander haben sprechen wollen, hat ein Mann sie angebrüllt. Die Männer hatten Gewehre und Macheten. Sie sahen wie Söldner aus. Von seinem Vater her weiss Kwame Manu, dass diese Männer immer auf der Suche nach starken Knaben und hübschen Mädchen sind. Er hasst die Männer, aber er hat auch Angst vor ihnen.

Zuerst hiess es damals, Enam gehe arbeiten, um das Geld für die Spitalpflege seiner kranken Mutter zu verdienen. Kwame Manu ist sicher, dass Enam umgekommen ist. Geld hat die Familie nie erhalten. Enams Mutter ist inzwischen gestorben, vor Sorgen und wegen der Krankheit. Kwame Manu will nicht enden wie sein Freund. Deshalb hat er sich im Bus zusammengenommen, nichts gesagt und still gelitten.

Kurz vor der Grenze hat man ihnen Reisedokumente gegeben. Die Männer haben ihre Waffen versteckt und gegen Schulbücher ausgetauscht. "Wir sind eine Schulklasse und wir fahren zum Nationalpark auf der anderen Seite der Grenze. Ihr sagt nichts, nur die Lehrer sprechen! Habt ihr das verstanden?"

Die Kinder im Bus haben genickt und nichts gesagt. An der Grenze ist ein weisser Mann eingestiegen, zusammen mit drei weissen Soldaten. Dann ging alles sehr schnell. Die Männer flohen, einige Jungs auch. Kwame Manu wusste nicht, was genau geschah und suchte sich sein Versteck.

Nun steht der Bus schon mehr als eine Stunde in der Hitze. Die Männer mit den Gewehren sind den Männern aus dem Bus gefolgt.

"Lauft in den Wald, immer in die Richtung!", hat einer der Männer den Kindern zugerufen. "Wir treffen uns auf der anderen Seite der Grenze wieder. Der Bus wartet dort auf euch! Lasst euch nicht erwischen!" Dann hat er sich auf ein Motorrad gesetzt und ist den Knaben hinterhergebraust, welche sich wieder in die andere Richtung verkrümelt haben.

Kwame Manu hat Schüsse gehört. Daraufhin hat er sich hier im Bus versteckt. Sein Vater hat ihm einst geraten, sich immer in der Mitte des Getümmels zu verstecken. Wenn Polizisten nach Räubern suchen, dann tun sie das nie am Tatort. Erst als er keine schreienden Männer mehr hört, kriecht Kwame Manu unter dem rostigen Sitz hervor. Er hustet sich den Staub aus der Lunge, blickt gleichzeitig ängstlich nach allen Seiten. Die Luft scheint rein zu sein.

So rein es halt eben geht im Dschungel. Es riecht modrig, feucht und grün. Manchmal denkt Kwame Manu daran, in welcher Wildnis er eigentlich wohnt. Sein Vater hatte ihm manchmal Bilder von der Wüste gezeigt; oder von hohen Bergen mit weissem Schnee. Das Land, in welchem sehr viel von dem Kakao, den sie hier anbauen, verkauft wird, habe auch viele Berge. Aber die Bewohner seien steif, ohne Rhythmusgefühl. Dann mussten sie immer lachen und tanzten einige Schritte. Kwame Manu vermisst seinen Vater. Irgendeinmal will er in das Kakaoland mit den weissen Bergen reisen, das hat er sich selbst versprochen, zu Ehren seines Vaters.

Niemand beachtet ihn. Von der Elfenbeinküste her kommt ein Lastwagen angeknattert. Aus einem Rohr hinter der Kabine schiesst schwarzer Rauch nach oben, wie kleine drohende Gewitterwolken. Diesel, weiss Kwame Manu. Der Wagen stoppt vor dem Schlagbaum. Einige Soldaten kontrollieren die Ladung, die Kabine und den Fahrer. Papiere werden angeschaut, aber Kwame Manu hat den Eindruck, der Mann blättert sie bloss durch, ohne zu verstehen.

Wenige Minuten später drückt ein zweiter Soldat den Schlagbaum hoch, der Lastwagen fährt zitternd los, die Gewitterwolke schiesst wie eine Fontäne in die Umgebungsluft. Vor dem Haus beim Bus stoppt der Transporter erneut. Der Fahrer steigt aus und schlurft in die kleine Teestube, welche gleich neben dem Zollgebäude steht.

Kwame Manu erkennt seine Chance. Unbemerkt klettert er hinten auf die Ladefläche und versteckt sich zwischen den Kisten. Gerade als er sich duckt, hört er den Motorenlärm des Motorrades, mit dem der narbengesichtige Mann davongerast war. Vorsichtig reckt Kwame seinen Kopf zwischen den Kisten hervor. Keine fünf Meter von ihm steht der furchteinflössende Mann. Seine Narbe führt vom linken Auge quer über die Wange bis zum Hals. Der Mann hat keine Haare, dafür umso mehr Muskeln und gefährlich kleine Augen, fast wie eine Schlange.

Auf dem Motorrad kann Kwame Manu einen Rucksack erkennen, den der Mann immer bei sich getragen hat. Manu vermutet, darin befänden sich bestimmt wichtige Dinge. Als der Mann in die Teestube verschwindet, huscht der Knabe von der Ladefläche, schnappt sich den Rucksack und klettert in sein Versteck zurück. Er hofft, der Fahrer möge bald zurückkommen.

Leider erscheint das Narbengesicht in der Türe. Sofort bemerkt er, dass sein Rucksack fehlt. Er schreit jeden an und rennt wild umher. Den Fahrer, der unterdessen auch in der Türe erschienen ist, packt er und schüttelt ihn heftig, dass dieser zu Boden fällt.

"Was hast du für ein Problem, Bruder?", schreit dieser nun seinerseits.

"Geh mir aus den Augen, verschwinde!"

"Soldatengesindel! Euch gehört nicht die ganze Welt, hörst du?" Damit stapft der Fahrer zu seinem Lastwagen, steigt ein und startet den Motor. Die Gewitterwolke schiesst wütend hoch und erinnert Kwame Manu eher an einen Drachen, von dem er in einem Buch einst gelesen hatte.

Der Lastwagen rattert langsam vom Hof auf die staubige Strasse. Kwame Manu riskiert einen Blick durch die Spalten in der Seitenwand. Nur einen Meter vom Lastwagen entfernt steht Narbengesicht, wutentbrannt, mit einem modernen Telefon in den Händen. Kwame Manu lächelt, weil der Mann ihn nicht sehen kann. Neben ihm liegt der Rucksack.

***

"Boss! Sie sind weg, alle!"

Am anderen Ende der Leitung bleibt es still. Erst nach einigen Sekunden flüstert eine ruhige, tiefe Stimme: "Das ist nicht gut, Bono. Das ist gar nicht gut. Wessen Schuld ist es? Deine?"

Bono schluckt leer; sein Adamsapfel hüpft auf und ab. "Nein, Chef, ich kann nichts dafür. Da waren Weisse; ich glaube Amerikaner oder aus der EU. Sie haben Fragen gestellt, sie wollten uns verhaften. Wir mussten fliehen und die Knaben taten das auch."

"Du musst liefern, das weisst du. Woher du wieder neue nimmst, ist mir egal. Du lieferst, kapiert? Du hast es Serge versprochen."

"Ja, Boss. Wir finden sie schon wieder. Sie sind zu Fuss und wollen bestimmt heim. Wir finden sie wieder. Aber ..."

"Was ist noch?", der ruhige Mann wirkt hörbar genervt.

"Die Tasche." Wieder schluckt Bono.

"Welche Tasche?"

"Die mit den Papieren und den Pässen der Lümmel."

"Ja? Was ist damit?"

"Nun - sie ist weg, Boss." Bono hält das Smartphone weit von seinem Ohr weg, in weiser Voraussicht, was nun kommen würde, doch er hört nichts. Vorsichtig zieht er das Gerät wieder an sein Ohr.

"... gar nicht gut, hörst du? Wenn du die Tasche nicht findest, bist du ein toter Mann. Wenn du das nicht sein willst - finde die Tasche." Der Mann am anderen Ende spricht immer noch ausgesprochen ruhig, bloss leicht lauter.

"Ja, Chef. Ich werde sie finden. Sie kann noch nicht weit sein." Doch der Gesprächspartner hat schon aufgelegt.

Bono steht einige Sekunden ratlos da, sein Mobiltelefon hält er in der Hand. Er lässt die vergangenen Minuten revuepassieren und erinnert sich plötzlich an den Lastwagen, der die Grenze passiert hat. Innerlich flucht er, dass er nicht früher daran gedacht hat und verstaut sein Handy in einer Beintasche seiner Hose. Er schwingt sich auf sein Motorrad, das nach einem kraftvollen Tritt sofort anspringt, legt den Gang ein und braust entschlossen in westlicher Richtung davon, zurück nach Ghana.

***

Im ersten Ort biegt der Lastwagen von der grossen Strasse ab. Hinter einer Kirche, bei einem flachen Bau, der wie eine grosse Halle aussieht, hält der Fahrer vor einem rostigen Tor, das einst grün angestrichen war. Der Mann steigt aus und öffnet das Tor.

Dann fährt er den Lastwagen durch die Einfahrt und parkt ihn rückwärts vor die Halle.

Kwame Manu krümelt sich tiefer zwischen die Kisten. Er hat Angst. Die hintere Ladeklappe wird geöffnet, Männer sprechen miteinander.

"Osa, alter Strassenräuber, auch wieder einmal im Land?"

"Ja, Bruder - wie du siehst. Hast du etwas für mich?"

"Lass uns erst Tee trinken, kleiner Bruder. Mama hat Gebäck zubereitet. Die Arbeit wartet auf uns, ganz bestimmt, die läuft nicht weg!"

Die Männer umarmen sich, lachen und treten ins Gebäude. Kwame Manu beruhigt sich; die Männer wirken nicht böse. Dennoch muss er vorsichtig sein. Erst als niemand mehr in Sicht ist, klettert der Junge zögernd aus seinem Versteck. Sein Bein ist von der unbequemen Haltung taub geworden, viele tausend Nadelstiche piksen ihn, als ob er in einem Ameisenhaufen stehen würde. Er schüttelt sein Bein und spürt das Blut durch die Adern fliessen.

Kwame Manu streckt sich, bewegt sich und schaut über das Gelände. Er hat Durst, an der Ecke zur Kirche hin entdeckt er einen tropfenden Wasseranschluss. Voller Freude hüpft er von der Ladefläche und schleicht zur lockenden Quelle; er dreht am Rad, Wasser strömt aus. Kwame Manu trinkt gierig.

"Nicht so schnell, mein Junge! Es hat Wasser genug."

Manu fällt vor Schreck hin, wird vom Wasser überspült und hustet. Vor ihm steht eine alte Frau, die mindestens vier grosse Säcke Kakaobohnen schwer sein muss. Ihre Tücher verbergen einen gewaltigen Körper, aber ihre Augen sind sanft, der Mund lächelt. Sie stellt das Wasser ab und hilft ihm auf die Beine. "Wer bist du und was machst du hier?"

Kwame Manu murmelt eine Entschuldigung und will wegrennen, sie hält ihn am Shirt zurück. "Du siehst nicht wie ein Dieb aus. Hast du Hunger? Kannst du sprechen?"

"Ja, Mam, ich bin Kwame Manu, aus Atebubu."

"Manu - der zweite Sohn. Ich bin Amma Abena und mir gehört das hier alles. Du bist weit weg von zuhause, Manu. Komm, es gibt etwas zu essen."

Die nette Frau führt Manu zum Gebäude, in welchem die Männer verschwunden sind. Der Junge blickt angstvoll zum Lastwagen, sie realisiert es. "Du bist mit Osa gekommen? Er ist mein Sohn. Du musst keine Angst haben."

Die Halle ist mit vielen Kisten vollgestellt, dahinter befinden sich Tische und Maschinen. Es riecht nach Holz und Harz. Kwame mag diesen Geruch, er erinnert ihn an seinen Grossvater, der Spielsachen aus Holz hergestellt hatte.

Die zwei Männer sitzen an einem klapprigen Tisch und trinken Tee, sie blicken erstaunt in Manus Richtung. Er versteckt sich hinter der Frau, die schützend ihren Arm um ihn legt. "Jungs, seht mal her, was ich draussen beim Wasserhahn gefunden habe!" Sie schiebt Kwame Manu vor sich. "Das ist Kwame Manu, und er ist mit dir, Osa, hergefahren. Manu, das sind meine Söhne Osa und Kweku."

Der Fahrer des Lastwagens steht auf und stellt zwei weitere Stühle bereit. "Soso, mit meinem Lastwagen. Hast dich wohl hintendrauf versteckt, was?" Plötzlich wird ihm alles klar. "Der Söldner hat dich gesucht? Er war deinetwegen so wütend. Komm her, setz dich, erzähle uns deine Geschichte."

Dankbar nimmt Kwame Manu die Einladung an und greift gierig nach dem verlockend duftenden Gebäck. Amma und Kweku lachen, als der Junge mit vollem Mund zu reden beginnt: "Die Männer sind böse. Sie haben mich entführt, und viele andere auch." Während dem Imbiss erzählt Kwame Manu seine ganze Geschichte.

Die Gesichter der Zuhörer werden traurig, das Lachen verstummt. Osa fasst sich als erster. "Das hört wohl nie auf! Manchmal frage ich mich, was die vielen Gesetze bringen, die wir zum Schutz unserer Kinder haben! Manu, ich muss eine Ladung unserer Schüsseln hier nach Tamale bringen. Ich kann über Atebubu fahren und dich nachhause bringen, wenn du willst. Dauert aber ein paar Tage; die Strassen sind schlecht und mein Lastwagen nicht mehr neu. Aber vorne sitzt du bequemer als hinten drauf. Was meinst du?"

Kwame Manu kann sein Glück nicht fassen. Er strahlt vor Freude und fällt Osa um den Hals.

"Das heisst dann wohl ja", lacht Amma.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top