Ich (mit dir)

Wahrscheinlich sollte ich gerade auf irgendeiner Wiese herumrennen, in den Himmel starren und über die Vergänglichkeit unseres Seins philosophieren. Oder mich auf die Suche nach irgendwelchen Leuten machen, die ich zumindest flüchtig kannte und mich ihnen anschließen. Oder alte Fotos ansehen und alles Revue passieren lassen. Oder beten.

Keine Ahnung. Falls es einen Ratgeber für wie verhalte ich mich angemessen, wenn die Welt untergeht gibt, so habe ich ihn leider nicht gelesen.

Irgendwie muss ich an die verschiedenen Phasen der Trauer oder so denken, die ich vor fünfmillionen Jahren mal in der Schule lernen musste. Wie ist das nochmal? Ich kann mich nicht mehr genau daran erinnern – und ich kann es nicht nachschlagen, weil das scheiß Teil namens Handy ohne Internet so nutzlos war wie ein Steinbrocken – aber ich habe noch eine grobe Vorstellung davon.

Ist das jetzt Verleugnung? Oder habe ich alle Schritte übersprungen und mich kopfüber in die Depression gestürzt? Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich irgendwann zwischendurch was zerstört haben müsste.

Und wenn ich es einfach ignoriere? Wenn ich einfach so weiter mache, wie sonst, so tue als wäre heute irgendein Feiertag und deswegen sind meine Vorlesungen ausgefallen und ich muss die Wohnung nicht verlasse, wenn ich stattdessen endlich an meiner Hausarbeit weiter schreibe und mir einrede, dass die Telekom mal wieder eine Störung im Netz hat und meine Mitbewohnerin spontan beschlossen hat ein bisschen länger bei ihrer Familie zu bleiben, vielleicht wäre das einfacher.

Einfacher als zu begreifen, dass wir alle ausnahmslos verrecken werden.

Fuck.

Und was ist, wenn ich mir das alles nur eingebildet habe? Wenn ich verrückt werde?

Eigentlich weiß ich, dass das nicht möglich ist. Dass ich genug Nachrichten bekommen habe, die Beweis genug sind, dass das Telefonat mit meinen Eltern echt gewesen ist.

Trotzdem springe ich plötzlich förmlich aus dem Bett und laufe zur Wohnungstür. Meine Hände zittern so sehr, dass ich mehrere Anläufe brauche, um die Tür aufzuschließen und ins Treppenhaus stürzen zu können.

Ich versuche nach irgendwelchen Geräuschen zu lauschen, aber ich kann nur das Blut in meinem Kopf rauschen hören. Also fange ich an die Treppe herunter zu rennen, immer zwei Stufen gleichzeitig nehmend. Ich weiß noch nicht mal, was eigentlich mein Plan ist. Die nächste Person, die ich treffe, an den Schultern zu packen und zu fragen, ob tatsächlich die Welt untergeht?

Ein paar Meter vor dem Haupteingang komme ich schlitternd wieder zum stehen. Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass ich in einer Black Mirror Folge gelandet bin und das ganze einfach nur eine kranke Simulation ist? Und wenn ich jetzt nach draußen gehe fangen Menschen an auf mich zu schießen oder so?

Ich atme tief ein. Okay, das war Unsinn.

Doch bevor ich die Chance habe mich zu entscheiden, was ich jetzt mache, wird die Tür von außen geöffnet und du trittst herein.

Und du richtest auch kein Gewehr auf mich, sondern blickst auf ein paar Briefumschläge in deiner Hand.

Zugegeben, ich brauche einen Moment um dich überhaupt zuordnen zu können, aber dann fängt mein Gehirn hilfsbereit an mir willkürliche Informationen zuzuwerfen.

Ich wusste, dass du schon im Wohnblock gelebt hast, bevor ich eingezogen bin, aber du warst nie mehr als flüchtige Begrüßung, wenn wir uns überhaupt mal trafen.

Doch nun stehst du hier und hast offensichtlich gerade die Post aus deinem Briefkasten geholt.

Es ist so alltäglich und normal, dass ich mich zusammenreißen muss, nicht laut loszulachen.

Hast du es noch nicht mitbekommen?, will ich dir zurufen, es interessiert doch niemanden mehr deine Rechnungen.

Aber da ist immer noch die kleine Sorge, dass ich nicht mehr alle Tassen im Schrank habe. Oder was ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir beide in einer Black Mirror Folge gefangen waren?

Doch wenn ich nichts sage, würdest du gleich in mich hineinlaufen. Also mache ich endlich den Mund auf: »Hey.«

Du hebst den Kopf und verharrst einen Moment perplex, als ob dich meine Anwesenheit abgrundtief verwundern würde.

»Du bist noch hier?«, bestätigst du meine Vermutung mit einer einzigen Frage.

Ich ziehe die Augenbrauen zusammen. »Ja«, antwortete ich zögerlich, nicht genau wissend, was du von mir erwartest.

»Ich dachte, du wärst mit deiner Freundin weggefahren. Hab sie am Freitag den Koffer aus eurer Wohnung tragen gesehen«, führst du dann weiter aus.

Ah, schön. Und wie geht es dir so mit dem Weltuntergang?

»Nein.« Ich schüttele den Kopf. »Sie ist zur ihrer Familie gefahren.«

»Warum bist du nicht mit?«

Ich blinzele ein paar Mal, überfordert von deinem plötzlichen Interesse. Und von der kleinen, unbedeutenden Tatsache, dass diese Unterhaltung eigentlich vollkommen fehl am Platz ist.

Du scheinst mein Unbehagen zu spüren und grinst ein wenig unsicher. »Sorry, geht mich nichts an.«

»Schon okay, ist ja nicht so, als ob es jetzt noch einen großen Unterschied macht«, versuche ich dir vorsichtig eine Reaktion zu entlocken. Ich spreche es nicht aus, nicht wirklich, kann es nicht laut sagen, ohne mich furchtbar lächerlich dabei zu fühlen.

Aber du scheinst tatsächlich zu verstehen, was ich meine. Das kleine Grinsen weicht aus deinem Gesicht und wird durch einen nachdenklichen Blick ersetzt. Aber du sagst nichts dazu, also habe ich mir das vielleicht auch nur eingebildet.

»Wir sind nicht zusammen oder so«, erkläre ich dir also einfach weiter, »nur Mitbewohner. Und gute Freunde.«

»Achso, sorry«, entschuldigst du dich nochmal, »ich hab euch beide Mal mit einem Kind gesehen. Hab mir dann einfach was gedacht. Wobei es im Nachhinein auffällig war, dass ich das Kind nie wieder gehört habe...« Du ziehst die Augenbrauen hoch. »Ihr seid keine Mörder, oder?«

Ich lache, kann nicht anders. »Nein, das war ihr Neffe. Wir haben mal auf ihn aufgepasst.«

»Na dann.« Du lächelst und gestikulierst Richtung Tür hinter dir. »Wolltest du irgendwo hin?«

Stimmt, da ist ja noch was. Ich will zur nächsten wagen Erwiderung ansetzen – doch wozu überhaupt? Ist ja nicht so, als ob alles aufhört, wenn wir nicht darüber sprechen.

»Die Welt geht unter«, sage ich also endlich, auch wenn das keine richtige Antwort auf deine Frage ist.

Du nickst. Du nickst und ich bilde es mir nicht ein. »Sieht so aus.«

Und plötzlich schleicht sich ein Gedanke ein und macht es sich gemütlich. »Hast du jemanden?«, frage ich also und nicke mit dem Kopf nach oben, wo sich unsere Wohnungen befindet.

Du schüttelst langsam den Kopf. »Nein.«

Ich schäme mich dafür, wie groß die Erleichterung ist, die dieses einfache Wort in mir auslöst. Ich schäme mich und ich würde trotzdem erneut fragen.

Es gibt keine Zeit mehr fürs Warten.

»Ich wollte eigentlich raus, aber ich glaub ich geh wieder zurück«, entscheide ich mich. Wir gehen also schweigend gemeinsam die Treppen hoch, ein wenig versetzt zueinander, und viel zu schnell stehen wir im zweiten Stock vor meiner Wohnung.

»Ich übrigens auch nicht«, setzte ich wieder an meine Frage von vorhin an, »also, es ist keiner bei mir da. Du kannst mit reinkommen... wenn du das willst, natürlich.«

»Klar«, antwortest du so schnell, dass ich fast zusammenzucke, »ich bring nur schnell die Briefe hoch, ja?« Du wedelst mit ihnen, als würde ich dir ansonsten nicht glauben. »Bin sofort wieder da. Brauchst du was? Ich hab genug da. Essen und sowas meine ich.«

Ich zucke mit den Schultern. »Klar, schadet nicht. Bring's mit. Ich lass die Tür offen, komm einfach rein.«

Daraufhin drehst du dich um und sprintest die Treppe hoch. Ich blicke dir einen Moment hinterher, bevor ich mich in die Wohnung begebe.

»Oh, fuck«, rutscht es mir raus, als ich den Anblick vor mir sehe. Aufräumen war in der Liste der Prioritäten schlagartig nach unten gerutscht.

Und auch wenn ich es ignorieren könnte, möchte ich plötzlich nicht, dass du mich so kennenlernst. Also renne ich panisch durch die Wohnung und hebe eilig all die Sachen vom Boden auf. Ich bin gerade in der Küche und stelle meine Schüssel in die Spüle, als ich deine Schritte wieder höre.

»Bin hier«, rufe ich und bin dankbar dafür, dass meine Stimme nicht außer Atem klingt.

Kurz danach tauchst du neben mir auf und stellst eine Kiste mit ein paar Sachen ab.

»Ich hab einfach irgendwas reingeworfen, was wir vielleicht brauchen könnten«, erzählst du und zeigst wahllos auf den Inhalt.

Ich werfe einen Blick hinein. »Geil, Klopapier.«

»Sogar vierlagig.«

»Willst du etwa angeben?«

»Also wenn das so ist, benutze ich es alleine.« Du schnappst dir die Rolle und siehst mich herausfordernd an.

»Das wagst du nicht!«, erwidere ich und richte den flexiblen Wasserhahn auf dich.

»Soll ich?«, drohe ich mit einer Hand am Hebel.

»Ich ergebe mich, hast gewonnen«, lachst du und schmeißt die Rolle zurück.

Ich befestige den Wasserhahn wieder an der Haltung und reiche dir danach dramatisch die Hand, um den Frieden zu beschließen. Du greifst nach ihr und hältst sie, ohne festzudrücken. Ein wenig so, als würden wir einander nicht die Hand schütteln, sondern gleich in einen Walzer ausbrechen. Doch ehe ich mich länger in die Beobachtung verlieren kann, hast du schon wieder losgelassen.

»Willst du was trinken?«, biete ich dir an.

»Klar, gerne.«

»Tee?«

»Klingt gut.«

Eine angenehme Stille breitet sich aus, während ich den Tee zubereite und wir setzten uns danach beide an den kleinen Küchentisch.

»Du... scheinst gut mit der Situation umzugehen«, sagst du ein paar Schlucke später.

Ich lache, verschlucke mich dabei und muss so heftig husten, dass ich mich frage, ob ich es knapp vor dem Ende doch noch schaffen werde an meiner eigenen Dummheit zu sterben.

»Nein, nein«, bringe ich dann zwischen zwei Atemzüge hervor, »ich bin so kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Aber ich will mich nicht vor dir blamieren, also reiß ich mich zusammen.«

»Wir können gerne anfangen Möbel durch die Gegend zu schmeißen«, schlägst du mir vor.

»Während Hurra, die Welt geht unter im Hintergrund läuft?«, male ich die Szenerie weiter.

»Mhm«, erwiderst du zustimmend und setzt die Tasse erneut an deine Lippen an.

Ich beobachte dich und denke erneut daran, wie komplett absurd dieses Gespräch ist.

»Scheiße«, gröhne ich und lege meine Stirn auf die kühle Oberfläche des Tisches.

»Es ist so komisch.« Ich kann deinen Miene nicht mehr sehen, aber du klingst unsicher. Also setzte ich mich wieder gerade hin.

»Glaubst du nicht daran?«, will ich neugierig wissen.

»Doch, klar. Es fühlt sich nur so unwirklich an, verstehst du?«

Ich nicke. »Total. Ich dachte echt, dass ich verrückt geworden wäre. Oder als ob es nur ein Scherz ist. Ich meine, wir trinken gerade Tee und reden und morgen existieren wir einfach nicht mehr. Wie soll man das verstehen können? Ich hab das Gefühl, ich müsste eigentlich vor Panik zerplatzen, aber ich fühle so vieles gleichzeitig, dass ich gleichzeitig nichts mehr fühle.«

Du ziehst eine Grimasse. »Ja... schade, dass das Internet nicht mehr funktioniert. Irgendwie wüsste ich gerne, was sonst auf Twitter los wäre.«

»Oh ja. So viele Memes, die wir nicht mehr sehen werden.«

Wir lachen gemeinsam und ich weigere mich, mich deswegen schlecht zu fühlen. Ich hatte die Zeit bis jetzt damit verbracht, alles und jeden zu verfluchen oder Gespräche mit der Wand zu führen.

Mit dir hier zu sitzen und Witze über unseren Untergang zu reißen hatte im Gegensatz dazu etwas seltsam tröstliches an sich.

»Gibt es noch Sachen, die du machen möchtest?«, frage ich trotzdem nach.

Du setzt die nun leere Tasse mit einem leisen Klackgeräusch ab und schiebst sie ein Stück von dir weg.

»Nein, ich bin fertig mit dem Leben«, antwortest du mir dann.

Wahrscheinlich ist diese Einstellung sogar die vernünftigste. Einfach damit abschließen.

Ich versuche meinen Blick unauffällig über dich gleiten zu lassen. Da du mir jedoch genau gegenüber sitzt und mich mit dem selben Interesse betrachtest, scheitere ich schnell an diesem Vorhaben.

Wir lachen beide ein wenig peinlich berührt, als wir uns ein paar Sekunden zu lange anstarren.

Angesichts der Tatsache, dass morgen die Welt untergehen würde, ist es wohl meine geringste Sorge - aber gleichzeitig kann ich nicht richtig begreifen, dass wir gerade tatsächlich hier sitzen und uns unterhalten. Dass du doch gerade eben noch nur ein Name auf dem Klingelschild warst.

Und irgendwie würde ich dich gerne besser kennenlernen. Die letzten Stunden mit dir und nicht mit jemanden Fremdes verbringen. Ich werfe Sätze in meinem Kopf hin und her, auf der Suche nach einem Gesprächsanfang, der nicht allzu gezwungen klingt.

»Hast du irgendjemand von den anderen Nachbarn getroffen?«, entscheide ich mich schließlich.

Deine Stirn legt sich in Falten als du nachdenkst. »Nicht wirklich. Ich glaub die Oma im Erdgeschoss wurde gestern abgeholt? Ich hab Stimmen aus dem Fenster gehört, aber nicht nachgesehen.« Du machst kurz eine Pause. »Ehrlicherweise bin ich mir aber auch nicht so sicher, wer hier alles wohnt«, fährst du dann fort.

Verwundert sehe ich dich an. »Du lebst hier aber schon länger, oder nicht? Also zumindest länger als ich und das sind immerhin schon ein paar Jahre.«

»Schon ja, aber ich war, hm, viel unterwegs«, antwortest du.

Interessiert lehne ich über den Tisch näher zu dir rüber.

»Also, ich tanze. Professionell. Naja, habe es. Offensichtlich bin ich nicht mehr in Form.«

Ich will dir instinktiv widersprechen, immerhin war mir deine schlanke und doch muskulöse Figur mittlerweile längst aufgefallen - aber du erzählst schon weiter.

»Hab früher die meiste Zeit im Studio verbracht und für manche Veranstaltungen war ich ein paar Wochen ganz woanders. Also, ja, blieb nicht viel Zeit für gute Nachbarschaft übrig.«

Ich bin verwirrt darüber, dass dein Tonfall so locker klingt, während du gleichzeitig so bestimmt von der Vergangenheit sprichst, aber du gibst mir erneut nicht die Möglichkeit tiefer nachzuhacken. Denn jetzt fängst du meinen Blick ein und hältst ihn sorgfältig fest.

»Was nicht bedeutet, dass du mir nicht vorher schon aufgefallen bist«, sagst du grinsend und ich bin froh darüber, dass meine Tasse mittlerweile auch schon leer ist, sonst hätte ich dir den Tee wahrscheinlich ins Gesicht gespuckt.

»Ich, ähm, du auch. Also, wir haben uns ja ein paar mal gesehen«, stammele ich und will mich innerlich für diese jämmerliche Reaktion schlagen.

»Was ist mit deiner Familie?«, versuche ich dann von meiner Unfähigkeit, einen klaren Gedanken zu fassen, abzulenken.

Doch als dein Gesichtsausdruck seine Leichtigkeit verliert, wird mir klar, dass ich die Stimmung mehr ruiniert habe als beabsichtigt.

»Tut mir leid«, entschuldige ich mich sofort. Für einen Moment war es einfach gewesen zu ignorieren, was gerade eigentlich passiert.

Aber du winkst ab. »Mach dir keinen Kopf. Wir haben nicht so viel Kontakt. Lange Geschichte. Aber ich hab mit meinem kleinen Bruder geredet, bevor die Verbindung am Arsch war.«

»Tut mir leid«, wiederhole ich aus Reflex und meine es doch wirklich.

»Hey, jetzt haben wir uns«, schüttelst du den Trübsal, der sich zwischen uns geschlichen hat, einfach wieder ab. »Also, was wird unser letztes Mittagessen?«

Wir fangen an die Sachen aus den Schränken herauszuholen und überlegen gemeinsam, worauf wir Lust hätten.

»Ich koche nicht besonders oft. Ich fürchte fast, wir müssen uns mit Tiefkühlpizza zufrieden geben«, sage ich, während ich die Schubladen der Gefriertruhe aufziehe.

Doch nachdem ich die Schachtel rausgeholt habe, kommt darunter eine Tüte zum Vorschein. Als ich die Eisflocken davon abschüttele und sie näher inspiziere, erkenne ich, dass sich selbstgemachte Ravioli darin befinden.

»Was ist das?« Du siehst neugierig zu mir rüber.

»Kennst du wahrscheinlich nicht. Das sind Nudeltaschen, die mit Hackfleisch gefühlt sind und in Joghurtsoße gekocht werden. Ähm, Shish Barak?«

Du legst den Kopf schief. »Nie gehört. Aber klingt interessant. Isst du das gerne?«

»Oh ja, meine Mutter hat das immer gemacht, wenn ich mal zu Hause war. Und als sie vor ein paar Wochen zu Besuch hier war, hat sie darauf bestanden, dass sie mir ein paar Portionen vorbereitet, falls ich mal Lust darauf habe. Ich dachte eigentlich, dass meine Mitbewohnerin und ich mittlerweile alles schon wieder aufgegessen hätten, aber offensichtlich war das hier noch versteckt.«

»Hast du alle Zutaten dafür da? Dann lass uns das machen«, schlägst du vor.

»Echt? Vielleicht schmeckt es dir nicht«, wende ich ein, während ich im Kopf schon die Zutaten durchgehe.

»Ne, jetzt hast du mir davon erzählt und ich weigere mich zu sterben, bevor ich es probiert habe«, versicherst du mir.

»Okay, okay«, lache ich, »dann lass mich mal nachgucken.«

Tatsächlich sind die Pinienkerne das einzige, was wir nicht da haben, aber auch wenn meine Mutter mich für diese Aussage enterben würde, so waren sie nicht wirklich relevant für das Gericht.

Also räumen wir alles wieder weg, was wir nicht brauchten und fangen an.

In einer Pfanne röstest du den Koriander mit frisch gepresstem Knoblauch an, während ich in einem Topf erst das Ei verquirle und dann den Joghurt, das Wasser und schließlich die Maisstärke dazu gebe.

Du lachst mich aus, als ich dir enthusiastisch all die anderen Gerichte beschreibe, mit denen ich aufgewachsen bin. Aber ich kann nicht anders – irgendwie ist der Gedanke schön, zumindest diesen kleinen Teil von mir noch mit dir teilen zu können.

Dann ist es ganz einfach noch mehr zu erzählen. Von meinen Eltern, Kindheit, Heimat. Vom Studium hier im Ausland, in das ich mich hinein verirrt und nur aus Pflichtgefühl durchgezogen habe. Von dummen Unfällen und noch bescheuerten Träumen. Und du hörst zu. Du hörst zu, als ob all das nicht bald seine Bedeutung verlieren würde. Als ob es trotzdem noch wichtig wäre. Als ob du dich daran, an mich, erinnern willst.

Deine Aufmerksamkeit ist berauschend. Dein Lachen so neckisch, so ansteckend.

Und als wir immer wieder miteinander kollidieren – zu oft für Zufälle, zu selten für Schicksal – eine Schulter hier, ein paar Fingerspitzen da, als wir uns berühren, vorsichtig und doch so einstimmig, habe ich keine Hemmungen mehr, mich von aller Rationalität zu verabschieden.

Vielleicht ist es nur die Dankbarkeit, dass ich jemanden zum reden habe. Vielleicht ist es einfach nur deine bloße Anwesenheit. Vielleicht ist es etwas menschliches, tief in mir verwurzelt, der Drang nicht einsam zu sein.

Vielleicht ist es in einer Situation wie dieser nicht anders möglich.

Aber wir haben auch keine Zeit mehr für Eventualitäten.

»Du hast also keine Beziehung?«, fragst du, während wir nebeneinander an der Theke lehnen und darauf warten, dass die Ravioli mit dem Joghurt kochen.

Ich hebe eine Augenbraue. »Doch, klar und ich bin so sehr verliebt, dass ich es in der letzten halben Stunde kein einziges Mal erwähnt habe.«

Du grinst. »Will nur sicher gehen. Damit du mir in der Hölle nicht vorwirfst, ich hätte dich verführt.«

Die Röte, die sich daraufhin über deinen Nacken bis zu deinen Wangen ausbreitet, verrät, dass deine Worte unbedachter waren als beabsichtigt.

»Wer sagt, dass nicht ich dich verführe?«, erwidere ich und plötzlich spannt die Nervosität eng um mein Herz.

Wir lehnen uns zueinander rüber. Ich schwöre, ich bin noch nie so froh darüber gewesen, beim Würzen nicht abgeschmeckt zu haben und deswegen noch nicht nach dem Knoblauch zu riechen.

»Okay?«, murmele ich, weil ein Weltuntergang kein Grund ist seinen Anstand über Bord zu werfen.

»Mehr als nur okay«, antwortest du und lässt keinen Raum für einen weiteren Gedanken übrig.

Das Gefühl von deinen Lippen auf meinen ist fremd und ungewohnt. Der Kuss wie eine Feuerzeugsflamme.

Nicht genug, um uns schon zu wärmen.

Aber wenn wir wollen, könnten wir etwas damit anzünden.

Irgendwann zwischen dem vierten und fünften Kuss fange ich an mich zu fragen, was zur Hölle wir eigentlich machen. Doch damit komme ich auch zur Erkenntnis, dass es mich einfach nicht mehr interessiert.

Andere Menschen hatten wohl ohne Weltuntergang deutlich schlimmere Entscheidungen getroffen, als mit einer verdammt süßen Person rumzumachen. Und selbst wenn – ich konnte mir schlecht die nächsten Tage den Kopf darüber zerbrechen, wenn es keine gottverdammten nächsten Tage geben würde.

Jetzt oder niemals. Das ist die einzige Wahl, die uns noch bleibt.

Wenn man es so betrachtet, fällt es einem auf einmal erstaunlich leicht.

So leicht, dass ich erst zu spät merke, dass unser Essen überkocht.

»Fuck«, fluche ich und ich springe schnell zum Herd, um den Topf von der heißen Platte zu schieben und umzurühren. Wenigstens ist der Joghurt nicht gerinnt.

»So...« Ich will mich zu dir umdrehen, doch stattdessen stoße ich mit dir zusammen, da ich nicht gemerkt hatte, dass du mir gefolgt bist und jetzt hinter mir stehst.

Du streckst sofort deinen Arm aus und legst ihn um mich, um mich zu halten, obwohl der Zusammenstoß bei weitem nicht kräftig genug gewesen war, um mich auch nur ansatzweise aus der Balance zu bringen. Doch du machst auch keine Anstalten, mich wieder loszulassen. Also bleiben wir in dieser komischen halben Umarmung verharrt, die sich plötzlich noch intimer anfühlte als unsere Küsse.

Wir sind uns so nahe, dass ich dein Lachen schon gegen meinen Brust vibrieren spüre, bevor ich es höre.

Ich lache automatisch mit, auch wenn ich nicht wirklich verstehe, was der Anlass dafür ist.

Irgendwann hörst du wieder auf und siehst mich mit Nachdenklichkeit in deinem Blick an.

»Danke«, sagst du dann und wirfst mich endgültig in die Verwirrung.

»Dafür, dass ich fast unser Henkersmahl ruiniert habe?«

»Nein«, lachst du nochmal auf, »danke, dass dieser Tag heute nun nicht nur letzte sondern auch erste Male hat.«

Ich muss grinsen. »Gerne«, erwidere ich und drücke unsere Lippen erneut aneinander.

Danach decken wir gemeinsam den Tisch.

Ich warte gespannt auf dein Urteil, als du den ersten Löffel nimmst und probierst.

»Oh, das schmeckt wirklich gut«, erlöst du mich endlich und ich kann ein stolzes Lächeln nicht verbergen.

»Dann müsstest du mal das Original essen, also das ganze. Das hier ist ja irgendwie das halbe Original«, sage ich und versuche die Realität hinter diesen Worten zu ignorieren.

»Vielleicht schmecken die besser. Aber das hier sind unsere«, antwortest du.

Ich konzentriere mich auf den nächsten Bissen. Fast könnten die vertraute Textur und der Geruch des Korianders täuschen. Fast könnte ich Heimat schmecken.

»Stimmt«, erwidere ich, nachdem ich die Ravioli und meinen Wehmut heruntergeschluckt habe, »das sind unsere.«

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