Kapitel 11

~Kijan Broder~

Es kribbelt mir in den Fingern, nach ihrer Hand zu greifen, nur um zu fühlen, wie sie ist, ... doch ich parke den Jeep.

"Wir sind da." Ich laufe um das Auto herum und öffne Lya die Tür.
Sie steigt unbeholfen aus, während mein Shirt ihr weiterhin die Augen verbindet.

"Wo sind wir denn? Darf ich gucken?" Ihre Stimme ist süß und ihre Worte ausnahmsweise harmlos. Nicht wie die, die sie immer benutzt, um sich selbst vor anderen zu verschanzen.

"Noch nicht", entgegne ich und setze ihr ihre eigenen Kopfhörer auf.

Sie schmunzelt, während ich sage: "Du musst mit niemandem sprechen, genieß einfach die Natur." Dann nehme ich ihr behutsam die Augenbinde ab und sie blinzelt ein paar Mal, um sich an das Licht zu gewöhnen.

"Wo sind wir?", fragt sie irritiert, doch ihre Augen werden ganz groß.

Um uns herum ergibt sich eine ewigweite Hügellandschaft mit saftig grünem Gras und uralten, in sich verzweigten Bäumen. "Willkommen im Cornwall Park." Ich grinse sie breit an. "Lass uns einen Spaziergang machen. Und ich lasse dich in der Zeit ausnahmsweise mal in Ruhe." Ich deute auf ihre Kopfhörer.

Sie lacht auf und ich zwinkere ihr zu.

Ihre dunkelblonden Haare fallen ihr in Wellen über die Schultern und wiegen sachte im Wind. Die Kopfhörer wirken so groß im Vergleich zu ihrem zarten Gesicht. Vielleicht sollte ich ihr in-ear Kopfhörer besorgen, ... doch sie hört ja ohnehin keine Musik. Ihr geht es nur um die Mauer, die sie mit den Kopfhörern zwischen sich und der restlichen Welt ziehen kann ...

"Können wir?", unterbricht sie meine Gedanken und ich nicke.
Der Park ist riesig, noch viel großer, als ich erwartet habe. Sie hakt sich bei mir ein und ich kann nicht anders, als auf sie hinunterzuschauen und zu lächeln, doch sie schaut nicht zurück.

"Da vorne sind Schafe!", sie zeigt in die Ferne. "Ich möchte mich neben ihnen in den Schatten setzen." Ohne meine Antwort abzuwarten beschleunigt sie aufgeregt ihren Schritt.

Ich wusste nicht, dass man jemanden so schnell mögen kann. Ich wusste nicht mal, dass ich überhaupt IRGENDWEN mögen würde. Sie lässt sich ins Gras plumpsen, lehnt ihren Oberkörper an den Stamm eines Baumes und betrachtet still die grasenden Schafe beim Wiederkäuen.
Hoffentlich denkt sie nicht wirklich, ich hätte mit Jane geschlafen. Aus irgendeinem Grund gefällt mir der Gedanke überhaupt nicht.

Bevor ich Lya in ein paar Stunden erklären muss, dass ich unbedingt wieder an den Anawhata Beach zurückfahren will, lasse ich sie in Ruhe und lege mich auf der anderen Seite des Stammes hin.
Sie wird es hassen, dass ich wieder zu dem Strand will, das weiß ich jetzt schon. Sie möchte nicht wieder an den Ort, weil ihr prinzipiell alles widerstrebt.
Ich schließe die Augen. Was bleibt mir aber anderes übrig? Ich habe einen Auftrag zu erledigen und Guiseppe wird mich Wort wörtlich jagen, wenn ich dem nicht nachkomme. Unzufrieden atme ich aus und überlege mir, wie ich Lya die nächste Lüge aufbinden kann.

"Kijan?", ertönt ihre weiche Stimme von der anderen Seite des Schattens. "Darf ich dich mal was fragen?"
Ich höre, wie sie sich im Gras dreht und weiß, dass sie um den Stamm herum zu mir schielt, ohne dass ich meine Augen öffnen muss.

"Heute doch keine Stille?", necke ich sie. "Vielleicht möchte ich ja die Ruhe meiner Kopfhörer genießen."

Sie entgegnet mir mit einem genervten Stöhnen. "Zu schade aber auch, dass du überhaupt keine Kopfhörer dabei hast ... meine werde ich dir ganz sicher nicht leihen." Und damit missachtet sie meine Neckerei und schießt los. "Hast du eigentlich Freunde?"

"Nein." Mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Ich bin ein Einzelgänger.

Sie rutscht über das Gras näher an mich heran. In der Ferne blökt ein Schaf und ein leichter Windzug fährt mir über die Wange.
"Ich musste irgendwie daran denken, dass du ja keine richtige Familie hast." Sie hat sich gemerkt, was ich ihr beim Frühstück erzählt habe und es scheint ihr irgendwie im Kopf hängengeblieben zu sein. "Hättest du denn nicht wenigstens gerne Freunde? Du redest immer viel und bist schnell beliebt." Wahrscheinlich erinnert sie sich an gestern Abend.

Ich rolle mich auf die Seite und blicke sie an. "Bekannte reichen mir, alles andere ist lästig." Ich meine es genauso. "Freunde und Familie machen dich nur kaputt. Wenn du keine hast, Lya, dann kann dir auch nichts passieren."

Sie schüttelt den Kopf und ihre Haare fliegen mit. "Du spinnst. Du verlierst dich selbst ohne eins von beidem."

Ich lache den Schmerz in meiner Brust weg - so wie ich es immer mache und erwidere: "Blödsinn, ich weiß genau, wo ich bin."

Ein Scherz gegen den Schmerz.
Das habe ich als Teenager auf einem der Schulklos gelesen und es hat sich in mein Hirn gebrannt. Wenn mich etwas bedrückt, dann überspiele ich es mit schlechten Witzen. Es ist so am einfachsten und effektivsten.

Lya rutsch noch näher über das Gras an mich heran und ich spüre ihren prüfenden Blick auf mir. "So einfach ist das nicht."
Wenn sie noch weiter an mich heran rutscht, dann wird ihre ganze Kleidung grasgrün beschmiert sein.
Sie spricht leise, als könnte uns jemand hören. "Willst du nur nicht, dass dich jemand mag, weil du Angst hast, dass du die andere Person dann auch mögen könntest?"

Es stimmt. Zu mindestens ist es ein Grund von vielen. "Nein", entgegne ich trocken. Und es ist bloß eine von vielen schlechten Lügen, die meinen Lippen entweicht.

"Mir geht es aber so." Sie nimmt die Kopfhörer von ihren Ohren und legt sie zwischen uns auf die Erde. "Seit mein Vater nicht mehr ist, habe ich Angst, wieder verletzt zu werden." Der Schmerz in ihrer Stimme sitzt tief und lässt etwas in mir zerspringen. Das würde erklären, warum sie manchmal so ist, wie sie eben ist. Bin ich genauso?
"Ich weiß, dass es schwachsinnig ist", sagt Lya. "Es geht mir nicht gut, wenn ich mich verkrieche und meinen Mitmenschen die kalte Schulter zeige, aber der Gedanke, ich könnte jemanden lieben und dann verlieren ...", sie schluckt schwer. "Ich ertrage es nicht noch einmal."

Auf meinem Rücken breitet sich eine Gänsehaut aus, die mir die Luft zum Atmen nimmt. Ich habe geahnt, dass sie eine tiefe Trauer in sich trägt, aber dass sie so unfassbar groß ist ... Ich ziehe sie über das Gras an mich heran und schließe damit die restliche kleine Lücke zwischen uns.
Behutsam lege ich einen Arm um sie und berühre mit meinen Lippen ihren Scheitel, während sie mit leiser Stimme weiterspricht: "Er war ein guter Vater, häufig unterwegs, aber das war seiner Arbeit geschuldet."

In der Ferne blökt erneut ein Schaf, doch meine Aufmerksamkeit gehört dem Mädchen in meinen Armen.
"Ich wünsche mir, er hätte dich kennengelernt, Kijan. Irgendwie habe ich das Gefühl, ihr beide hättet euch auf Anhieb verstanden."
Bei den Worten drücke ich sie ein wenig fester, um ihr Halt zu geben - oder vielleicht auch, um mich selbst festzuhalten.

Sie dreht sich in meinem Arm, bis ihr Gesicht nur wenige Zentimeter vor meinem hält. "Deshalb bin ich so verkorkst, ... aber eigentlich finde ich dich gar nicht so schrecklich, wie ich immer sage."

Unsere Nasenspitzen berühren sich sanft und bevor ich es zurückhalten kann, schleicht sich ein schiefes Lächeln auf meine Lippen. "Ich wusste, du magst mich."

Sie verdreht die Augen, doch sagt nichts. Stattdessen schmiegt sie ihren Kopf an meine Brust und atmet tief ein. Ich verflechte meine Finger in ihren Haaren und habe das Gefühl, dass ich sie nie wieder loslassen will, als meine Erinnerungen mich plötzlich einholen.

Ich sehe sie vor meinem inneren Auge. Ihr Gesicht ist blutverschmiert und ihre Augen vom Weinen noch ganz verquollen, während sie reglos am Boden liegt. In der Ferne laufen die Mistkerle davon, die meiner Schwester das angetan haben und Sirenen schneiden die kühle Nacht.

Ruckartig setze ich mich auf und schüttle meinen Kopf. Ich darf nicht an die Vergangenheit denken, sonst frisst sie mich auf.

"Was ist?" Lya setzt sich ebenfalls hin.

Doch ich kann es ihr nicht sagen, es hilft nur verdrängen und vergessen. Während ich aufstehe, sage ich trocken: "Lass uns zurück zum Auto." Und dann entkommen meinen Lippen Worte, die ich selbst kaum aushalte zu sagen: "Komm über den Tod deines Vaters hinweg und such dir Freunde, dann hat wenigstens einer von uns welche."
Ich gehe in die Richtung, aus der wir gekommen sind und überlasse es ihr, ob sie mir folgt oder nicht.

Immerhin weiß ich jetzt, wie ich sie überzeugen kann, mit mir zurück zum Anawhata Beach zu kommen ...

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